Das Buch habe ich hier 2021 veröffentlicht. Allerdings veraltet auch eine Webpage ziemlich schnell und die nächsten Monate möchte ich die einzelnen Kapitel aktualisieren. Deswegen werde ich jedes aktuelle Kapitel wieder nach vorne kramen. Das alte Buch mit der sehr eigenwilligen Schreibweise in Frakturschrift hatte ich damals vorgelesen, um den gesprochenen Text von einem Programm namens f4transkript in Buchstaben umzuwandeln. Den umgewandelten Text habe ich danach bearbeitet, da viele der Wörter dem Programm nicht bekannt waren. Aus diesen Gründen ist der Text ein Gemisch aus alter und neuer Schreibweise. Was es in den verschiedenen Kapiteln des Buches gibt, ist diese vorgelesene Tonspur mit dem Transkript in schwarz.
Es möge mir vergönnt sein, ehe der Leser scheidet, noch einige Worte zum Abschiede zu sagen. Denn gleich wie im Herbst, wenn die Schwalben fortgezogen, da und dort noch ein verspätetes Paar herumflattert und den Übrigen nachzukommen trachtet, ähnlich so hat der Verfasser noch ein Paar Worte auf dem Herzen, die er den voranstehenden gerne nachschicken möchte.
Ein werthgeschäzter, einsichtsvoller Freund nämlich, dem ich die „Wanderblühten“ vor dem Drucke mitgeteilt, ist der Ansicht es sollte dem Werklein zur größerern Vollkommenheit noch eine Vorrede beigegeben werden.
So sehr der Verfasser sonst auch geneigt ist, den Rath verständiger Freunde zu nutzen, so so wenig konnte er sich diesmal entschliessen, dem gegebenen Winke Folge zu leisten, und die eben so schwierige wie undankbare Arbeit auszuführen.
Einmal, weil er der Meinung ist, es sei überhaupt keine so leichte Sache, dem, in diesem Punkte mit Recht etwas misstrauischen Publikum plausibel machen zu wollen, was ein Autor von seiner eigenen Arbeit hält und denkt.
Zum Andern dürfte ein solches Bemühen deshalb ein undankbares genannt werden, weil Vorreden, die, wie alle Reden, gewöhnlich etwas langweiliger Natur sind, in der Regel von dem wissbergierigen Leser überschlagen, folglich gar nicht gelesen werden.
Was ist aber eine Rede, die Niemand anhören will?
Wahrlich nicht viel Anderes, als ein Schiff ohne Wasser oder eine Braut ohne Bräutigam.
Und zu alldem ist Dasjenige, was billigerweise in einer Vorrede dargelegt werden soll, die Entstehungsgeschichte des Buches, des Breitern schon im Anfange und Verlauf des Textes gesagt worden.
Wenn demnach der Leser nun gefunden, daß sämmtliche gegebene Züge in Schrift und Bild unmittelbar dem Leben entnommen sind, ihr Hintergrund also mehr oder weniger die Wahrheit ist, so wird es nicht befremden, daß von allem romanhaft Ausgeheckten, nur durch grelle Gegensätze und Effekte Blendenden blutwenig in dem Werklein vorkömmt. Mag es auch immerhin viele Leser und Beschauer geben, deren Interesse auschließlich nur den Produktionen letzterer Gattung zugewendet ist, so darf anderseits wohl mit Recht behauptet werden, daß nicht minder auch die anspruchslosere, und darum weniger phrasenhafte Muse in allen Zweigen der Künste ihre Verehrer und Liebhaber findet.
Was nun gegenwärtiges Büchlein weiter anbetrifft, so hat der Verfasser kein Bedenken getragen, seinen Freunden (zunächst in den kleineren Erzählungen und Novellen) Bilder aus der Sphäre der sogenannten niedern Stände vorzuführen. Huldiget er doch dem Grundsatze, daß Alles Gute und Wahre in der großen Haushaltung Gottes auf Erden würdigen Stoff abgebe zu künstlerischem Gestalten und Darstellen. Denn Natur ist, wie der große Dichter sagt, ein Buch lebendig, unverstanden zwar, doch nicht unverständlich; und
„Wer mit seiner Mutter, der Natur sich hält, Find’t im Stengelglas wohl eine Welt“.
Möchte in diesem Sinne dem Verfasser gelungen sein, mit dem gegebenen Wenigen, Liebe und Anteil am Vaterländischen und Eigenen anzuregen und festzuhalten. Wahrlich hierin läge der wünschenswerteste Lohn für mannigfache Mühe und Opfer, ohne welche eine solche Arbeit schwerlich durchgeführt werden kann. Und so sei denn, indem ich dieses hoffe, dem werten Leser ein freundliches Lebewohl zugerufen.
Ein Andermal, so Gott will, ein Mehreres und Besseres!
Lucian Reich, Wanderblühten aus dem Gedenkbuche eines Maler, nach der Originalausgabe von 1855
Elisabeth (Lisette) Reich (1819 – 1871) am Spinnrad; Katharina Heinemann (1828 – 1900) mit Kind; J. Nepomuk Heinemann (1817 – 1902) mit Fes? Mütze ; Lucian Reich (1817-1900)mit Pfeife; Rudolf (Vetter) Gleichauf (1826 – 1896) rechts unter der Uhr; Josef Heinemann (1825 – 1901) mit Buch. Siehe auch https://hieronymus-online.de/hufinger-kunstlerkreis/
Das Buch habe ich hier 2021 veröffentlicht. Allerdings veraltet auch eine Webpage ziemlich schnell und die nächsten Monate möchte ich die einzelnen Kapitel aktualisieren. Deswegen werde ich jedes aktuelle Kapitel wieder nach vorne kramen. Das alte Buch mit der sehr eigenwilligen Schreibweise in Frakturschrift hatte ich damals vorgelesen, um den gesprochenen Text von einem Programm namens f4transkript in Buchstaben umzuwandeln. Den umgewandelten Text habe ich danach bearbeitet, da viele der Wörter dem Programm nicht bekannt waren. Aus diesen Gründen ist der Text ein Gemisch aus alter und neuer Schreibweise. Was es in den verschiedenen Kapiteln des Buches gibt, ist diese vorgelesene Tonspur mit dem Transkript in schwarz.
„Theuerste Eltern
Kaum hatte ich meinen ersten Brief in Hechingen der Post übergeben, als ich einen von Euch, lieber Vater, erhielt, woraus ich erfah, dass ihr bei Eurer Rückkehr meine liebe Mutter und Geschwister gesund und wohl angetroffen habt. Ich befinde mich, einen fatalen Schnupfen abgerechnet, wohl. In Hechingen, fand ich für notwendig, Euren Rat zu befolgen und mir ein warmes Unterwamms zu kaufen. Herr von Hampeln besorgte mir bei einem Juden den Einkauf. Durch diese und andere Ausgaben wurde meine Kasse etwas geschwächt und es schien mir räthlich, elf Gulden gegen eine Quittung aufzunehmen. Für Fräulein Mina von Hampeln kaufte ich zugleich ein kleines, modern gesticktes Halstuch und für mich ein Paar Handschuhe.
Mittwoch früh um fünf reiste ich mit dem Hechinger Boten weiter; es war sehr kalt und ich würde es jetzt bereut haben, meine Einkäufe nicht gemacht zu haben. Zwei Stunden vor Stuttgart blieb ich mit dem Boten übernachtet. Dieselbe Kost und das Nachtlager wie im Schönbrunn fand ich hier nicht, es war Alles so ziemlich das Gegenteil. Morgens ging es früh wieder auf den Weg, und wir kamen um sieben Uhr hier in Stuttgart an.
Ich kleidete mich folglich um, und ließ mir die Wohnung des Herrn Galeriedirektor Seele zeigen, den ich jedoch nicht zu Hause traf. Man führte mich auf die Akademie, wo er sein Arbeitszimmer hat. Er nahm mich sehr gütig auf, und wollte mir sogleich, weil der König gerade abwesend ist, die Residenz zeigen, wurde aber durch Geschäfte abgehalten. Er führte mich hierauf zu den Herrn Krebs, den wir krank im Bette antrafen. Seele setzte ihn von meinem Entschlusse in Kenntnis und bat ihn freundlich, er möchte sich doch meiner annehmen und mir in allem mit Rat und Tat beistehen, worauf er sich empfahl. Ich reichte Herrn Krebs meine Briefe, und er überlas zuerst den seines Onkels Wölfle, sodann das Schreiben des Herrn Weiß. Nachdem er gelesen hatte, sagte er: „Ja! – wenn ich Ihnen raten soll wie ein Vater, so rate ich Ihnen, anders als die Rehmännin und all Die, welche Sie bestimmen, bei Vogler singen zu lernen.“
Nachdem fragte er mich noch über Manches; besann sich hierauf lange ohne etwas zu sagen, dann hub an: „Entweder sie verlegen sich auf die Komposition allein, um einst als Kompositeur aufzutreten, oder Sie müssen sich dem Gesange ausschließlich widmen, um als guter Sänger später eine Anstellung finden zu können. Beides zugleich werden sie entweder erst nach langer Zeit und mit vielem Geldaufwand, oder am Ende gar nicht erreichen.“ Ich sagte ihm, dass ich auf das Studium des Gesanges mein Hauptaugenmerk gerichtet habe. „Und Sie wollen zu Abbé Vogler, um singen zu lernen?“ „Ja!, war meine Antwort. „Lieber Freund“, sagte er, „dieser Plan mag wohl gemeint sein, aber Sie werden Ihren Endzweck durchaus nicht erreichen, ich kenne Abbé Vogler so gut wie ich meinen besten Freund kenne; er war vor zwei Monaten hier und ich hatte täglich Gelegenheit, sowohl seinen musikalischen wie sittlichen Charakter genau kennen zu lernen. Er besitzt eine gründliche Theorie der Musik überhaupt, er weiß wie man Anfängern im Gesange die Scala doctieret, aber wahre Sänger vermag er doch keine zu bilden; sie würden nach seiner Methode alle chromatischen und enharmonischen Gesänge treffen, und zuletzt doch ein gefühlsloser Sänger sein, der außer dem Kontrapunkt und einigen Kirchenkompositionen singen zu können, kein anderes Verdienst besäße, als sogar die sangbarsten Sachen steif vorzutragen. Geiz ist seine Hauptleidenschaft, welche aber von einer krankhaften Überspannung herrühren mag; denn er glaubt immer dereinst noch von Hunger und Armut zu Grunde gehen zu müssen, wie er mir oft selbst klagte; er würde Sie deshalb seiner allzu großen Habsucht aufopfern.“ Dann, bemerkte er noch, meine Fortschritte im Gesang würden bei ihm sehr langsam sein. Um die Komposition zu lernen, wolle er mir Danzi raten, der, ihn als vortrefflichen Harmonisten nicht zu erwähnen, einer der jetzt beliebtesten Melodien sei; er verbinde mit seiner Kunst eine seltene Menschenliebe, auf welche etwas zu bauen wäre; um aber als Sänger einst mein Glück zu finden, rate er mir, da ihm Weiß schreibe, ich hätte eine Schule noch einige Jahre notwendig, wieder zu ihm zurückzukehren. –
Ich sagte, dass ich beinahe zwei Jahre sein Schüler gewesen sei, und während dieser Zeit die Vorteile zur Stimmbildung mir so ziemlich eigen gemacht habe; meine Stimme sei freilich noch nicht ganz gebildet, ich hoffe jedoch, durch eigenes Studium sie zu vervollkommnen. Herr Krebs sagte hierauf, er wolle mich prüfen, finde er, dass ich schon ziemlich vorwärts gekommen sei, so wolle er auf einen anderen guten Rat denken, ich müße also am nächsten Freitag singen, und er wollte mehrere Kunstverständige dazu einladen, damit er ein unparteiliches Urteil höre.“
Soweit der Brief; das Ende desselben liegt nicht mehr vor, und kann somit das Ergebnis der Probe nur noch der Hauptsache nach mitgeteilt werden.
Schelble sang wirklich an dem bezeichneten Abend, und zwar so sehr zur Zufriedenheit seines Gönners und der übrigen Herren, dass ihm Ersterer Gelegenheit verschaffte, in einem Konzerte vor dem König sich hören zu lassen. Der jugendliche Sänger erntete Beifall, und am andern Tag wurde ihm durch Dr. Jalobi, dem königlichen Leibarzt, zu wissen gethan, dass ihm der König eine Anstellung als Sänger am Theater biete, und er beauftragt sei zu fragen, unter welchen Bedingungen er zu bleiben gesonnen wäre.
Schelble, dem die Theaterlaufbahn nicht sein vorgestreckten Ziel war, konnte sich nicht sogleich entschließen und würde wohl das Anerbieten ohne das Zureden seiner Freunde abgelehnt haben. Bei einer zweiten Unterredung mit dem königlichen Leibarzt äußerte er: ob 500 Gulden wohl zu viel sein möchten? „Das ist zu wenig, lieber Freund“, versetzte der wohlmeinende Arzt, „damit reichen Sie hier nicht aus, verlangen Sie keck tausend, ich will, wenn es Ihnen recht ist, die Sache also dem König vortragen.“
Schelble erhielt demnach die Anstellung unter den verabredeten Bedingungen als königlicher Hof- und Opernsänger, und Krebs interessierte sich bald mit großer Vorliebe für den enthusiastisch strebenden Jüngling. Das Krebs’sche Haus, in welchem von nun an Schelble wohnte, war seiner Zeit der Sammelplatz jüngerer Männer vom Musikfache, welche zum Theil nach ihrer Kosttisch daselbst hatten. Der Hausherr war ein jener tüchtigen anregenden Naturen, die wie zum Vorbild und Mentor Jüngerer geschaffen sind. Eine gründliche Bildung und schönes Talent machten ihn zum Künstler im besten Sinne des Wortes, während die Liebe und der Eifer, womit er Alles, was sich auf die Kunst bezog, erfaßte und betrieb, nicht ohne bedeutenden Einfluss auf seine Umgebung bleiben konnte. Zudem war Stuttgart dazumal der Ort manch regen Strebens, und der Hof wusste Leben um sich zu verbreiten, indem er jüngere Talente, welche über das Gewöhnliche sich erhoben, hegte und förderte.
Die pestalozzi’schen Erziehungsgrundsätze beschäftigten zur selben Zeit mächtig die Geister. Ihre Anwendung auf den musikalischen Unterricht lag nahe, und schon durch Nägeli ward der Gedanke hierzu angeregt. Auch Krebs hatte diese Idee aufgefaßt und sie bei der seiner Zeit neu errichteten Musikschule am städtischen Waisenhause zu verwirklichen gesucht. Schelble, welcher an dieser Anstalt durch die Verwendung seines Freundes eine weitere Anstellung erhalten, ging darin schon weiter, indem er seine Schüler selbst Melodien erfinden und sogar mehrstimmige Sätze ausarbeiten ließ. Zum Behufe zweckmäßiger Treff- und Leseübungen aber schrieb er eine Menge, zum Theil contrapunktisch gearbeiteter Übungsstücke*. *Ein Bericht in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ vom Jahr 1812 erwähnt Schelble’s mit besonderer Auszeichnung. Es heißt darin unter Anderem: „Wenn er auch nicht schon früher eine Geschicklichkeit als Lehrer in einem Privatinstitut bewiesen hätte, so würden die Fortschritte seiner Schüler zeugen müssen, dass er die Sache aus dem rechten, ja vielleicht einzig wahren Gesichtspunkte betrachtet.“
Bei dieser vielfachen Thätigkeit vergaß jedoch Schelble keineswegs das Höherliegende. Mit Eifer begann er das Studium der Komposition, und welch tiefe Kenntnisse er sich hierin erworben, beweisen am besten seine Kompositionen selbst, wobei er vorzüglich Mozart zu seinem Vorbild nahm, und sich dessen Form und Wesen dadurch anzueignen suchte, dass er die Werke dieses unvergleichlichen Meisters fleißig studierte. Zu solchem Zwecke ließ er sich unter Anderem dessen sämmtliche Streichquartette und Quintette in Partitur setzen. Nebst verschiedenen Quartetten schrieb Schelble damals auch eine Oper „Graf Adalbert„, zu welcher Krebs den Text gedichtet hatte. All dies seine Geisteswerke zeigten nach dem Urteile kundiger Richter, nicht nur eine glückliche Erfindungsgabe, sondern sind auch in Form, Harmonie und Stimmführung durchaus gelungen zu nennen.
Vorübergehend mag hier eines vorherrschen des Zuges in dem Charakter des trefflichen Mannes gedacht werden: die stets unwandelbare Anhänglichkeit an die Seinigen, verbunden mit der Sorge, nicht nur diesen, sondern auch allen Nahestehenden nützlich und förderlich zu sein. – Daher kam es auch, dass er zwei seiner jüngeren Schwestern (von 14 Geschwistern hatten nur fünf das reife Alter erreicht) zu sich nach Stuttgart berief, wo sie unter strenger Aufsicht des Krebs’schen Familie einer künstlerische Bildung teilhaftig werden sollten. – Doch, zu ihrem Glück vielleicht, führte sie das Schicksal nach kurzem Aufenthalte in der Residenz wieder in heimatlichen Verhältnissen zu, worin sie in später gegründeten Familienkreisen eine angemessenere Bestimmung finden sollten.
Es läßt sich denken, wie erfreut die Eltern über das Wohlergehen des Sohnes waren. Auch der alte Lehrer Eiselin, der Freund des Hauses, der längst schon wieder mit seinem ehemals so falsch beurteilten Schüler sich ausgesöhnt hatte, kam in Begleitung der Eltern nach Stuttgart, um sich persönlich von den Fortschritten und dem Wohlergehen des 20-jährigen Hofsängers zu überzeugen.
Bis zum Jahre 1814 blieb Schaible in Stuttgart. Der Drang nach höherer Ausbildung verlangte ihn, die dortigen Verhältnisse aufzugeben und einem Rufe an das Wiener Hoftheater zu folgen. Nach des Künstlers eigenem Urtheile erreichte sein Gesang zu jener Zeit noch keineswegs die Höhe, welche seinem Ideale entsprach. Daher es auch kommen mag, dass sein erstes Auftreten in der Kaiserstadt ohne sonderliche Beachtung blieb, wozu jedoch eine anhaltende Heiserkeit des Sängers, die zuweilen wie ein düsterer Flor seine Stimmung überzog, mit eingerechnet werden muss.
“ Am 20. Juni (1814)“, schrieb er seinen Eltern, „bin ich im „lustigen Schuster“ von Paer aufgetreten. Ich habe Euch in meinem letzten Briefe über mein erstes Début geschrieben, demzufolge Ihr Euch leicht denken konntet, dass das Publikum nicht mit den besten Erwartungen von meinem Talente als Sänger ins Theater ging, weil der größte Teil desselben meiner vormaligen Heiserkeit keinen Glauben beimessen wollte. Demungeachtet gefiel mir Leistung; ich hatte freilich alle Künstler, die mich in der Probe hörten, für mich, was hier viel wert ist. Das ganze Orchesterpersonal sprach von mir überaus günstig. Den Tag nach dieser Oper ließ mich Graf Palsi rufen, um die Unterhandlungen, welche (da mir inzwischen vom auswärtigen Direktionen vorteilhafte Anträge gemacht worden) noch immer nicht beendet waren, in’s Reine zu bringen. Ein Advokat, namens Schreivogel, dem Balsi sie das ganze Geschäft aufgetragen hatte, sollte mit mir contrahieren. Wir waren einig bis auf die Reiseentschädigung, welche mir schon in Stuttgart zugesichert worden war. Schreivogel sagte mir, dass nicht die jetzige Direktion, sondern die frühere interimistische unter Schwarzenberg diese Verbindlichkeiten eingegangen habe. Über diese Äußerung wurde ich ungehalten und verließ nach kurzem Wortwechsel das Zimmer mit der Versicherung: das Engagement gar nicht annehmen zu wollen. Ich ließ mir, wie früher bestimmt war, 150 Gulden als Honorar für die beiden Rollen, in welchen ich aufgetreten, ausbezahlen und hatte schon den Tag meiner Abreise bestimmt, als die Direktion mich fragen ließ, wie viel ich denn Reiseentschädigung verlange; worüber ich mich erklärte und wir endlich einig wurden. Ich wollte jedoch keinen längeren Kontrakt als auf ein Jahr eingehen. Mein Gehalt belaufe sich auf 2500 Gulden, nebst der Zusicherung, dass binnen Monatsfrist die Oper „Massinissa“, auf die Bühne gebracht werden solle. Ich habe euch schon in meinem vorigen Briefe geschrieben, dass ich entschlossen sei, die hiesigen Verbindungen aufzugeben. – Unterdessen habe ich die Sache überlegt. Jedermann weiß, dass Wien gegenwärtig einen Tenoristen sehr nöthig hat; Viele, theils in Stuttgart, theils an anderen Theatern, deren teilnehmende oder neidische Augen im jetzigen Augenblicke auf mich gerichtet sind, wissend, dass es mein Wunsch gewesen ist, in Wien zu bleiben. Wenn ich nun auch zehnmal der bin, der nach genauer Prüfung der hiesigen Verhältnisse nicht mehr wünscht, so würde es auch ein Bruch mit der Direktion nicht meinen Willen, sondern einer, meinem Renommé als Künstler nachteiligen Ursache zugeschrieben werden. Ich hielt es somit für Pflicht, gegen mich selbst, wenigstens ein Jahr hier mich zu verbinden, um nicht einen falschen Schein auf mich zu ziehen. Nach Umfluß dieser Zeit kann sich Manches geändert haben, und will ich reisen, so stehen mir, dem ehemaligen k.k. Hofopernsänger, die Pforten der deutschen Theater offen. Unterdessen werde ich meiner Stimme die letzte Politur geben, ja ich kann sagen, dass sie bereits jetzt schon wieder besser geworden ist. – Ich bin so gesund, liebe Eltern, dass ich Gott nicht genug danken kann für dieses herrliche Geschenk; auch lebe ich bei meinen fleißigen Studien in einer fortwährenden Ruhe mit mir selbst. Würde der Gedanke: wie geht es in meinen lieben Eltern, werden auch Sie im Geiste ihrer Kinder glücklich sein? mich nicht manchmal beunruhigen, weil ich so wäre meine jetzige Lage beneidenswert. Doch die Vorsehung, scheint es, habe, um uns vor Hochmut und anderem Bösen zu bewahren, es so eingerichtet, dass mit den schönsten beruhigendsten Freuden stets das Gegenteil im Vereine steht.“
Nach Ablauf der Verbindlichkeiten folgte Schelble einem Rufe nach Treßburg, wo er als Regisseur der Oper einige Zeit tätig war; später kehrt er wiederum nach Wien zurück, um allein nur seinem Studium und dem Verkehr mit großen Meistern zu leben. Wien war zu jener Zeit der Mittelpunkt musikalischer Bestrebungen in Deutschland, dazu kam noch der Congreß, der so viele berühmte Männer in die Kaiserstadt geführt hatte. Es konnte daher nicht fehlen, dass der junge Mann Gelegenheit fand, mit bedeutenden Künstlern in seinem Fache bekannt zu werden; unter diesen Weigel, Spohrs, Meyfeder, Kreutzer, Schuppanzig und vor Allem Beethoven.
Den Werken des Letzteren hatte Schelble bis dahin wenig Beachtung geschenkt., desto größer ward nun aber seine Verehrung, die er dem gewaltigen Meister zollte, als er mit dessen Schöpfung vertrauter geworden. Auch mit Händel’s großen Werken hatte Schelble hier zuerst Bekanntschaft gemacht. Alles dieses mußte natürlich von mächtiger Wirkung auf das selbstschaffende Talent des jungen Mannes sein. Wenn seine Kompositionen von dieser Zeit an auch nicht mehr sehr zahlreich sind, so zeigen sie aber dagegen einen bedeutend verfeinerten Geschmack und mehr Selbstständigkeit im Styl. Seine größeren Gesangswerke aus dieser Zeit sind auch besonders sehr gut instrumentiert.
Er hatte es sich damals zur Regel gemacht, die goldenen Stunden des Morgens in ungestörtem Fleiße dem Komponieren zu widmen, aber sich zu vertiefen in die mannigfaltigen Herrlichkeiten großer Meisterwerke.
„Meine Geschäfte hier“, schreibt er in einem Brief, „gehen wie ich es wünsche. Ich habe nun Gelegenheit, so nach und nach zu zeigen, was an mir ist, und ich darf mir schmeicheln, dass ich fortwährend an Achtung als Künstler gewinne. So wurde zum Beispiel letzthin bei Spohr ein großes Quintett, welches ich hier schrieb, aufgeführt. Viele konnten sich nicht genug wundern, wie ein Sänger ein so durchgearbeitete thematisches Werk liefern könne. Es wurde von fünf großen Virtuosen gespielt und daher über meine Erwartung schön exekutiert. Soeben, während ich in meinem Zimmer sitze und schreibe, donnern die Kanonen und verkünden die Ankunft des Königs von Württemberg. In allen Straßen strömt es unaufhörlich von Menschen; einmal 100.000 Fremde zählt man schon, die auf Veranlassung der Festis aufgekommen sind. Ihr könnt euch das Leben und den Spektakel denken. – Ich habe gegenwärtig täglich Probe und bin daher viel beschäftigt. Von Stuttgart bekomme ich stets die freundschaftlichsten Briefe mit den herzlichsten Äußerungen, besonders dass ich wieder kommen solle; ob es von Herzen geht, weiß ich nicht. Ich meinerseits werde Krebs, dem ich viel zu verdanken habe, nie undankbar vergessen. – In Betreff meines jungen Freundes Weiß kann ich im Augenblicke unmöglich etwas tun. Ihr glaubt nicht, wie die Theaterverwaltung gegenwärtig derangiert ist. Das ganze Orchester am Burgtheater wurde entlassen, worunter Spohr, der erste Violinspieler Deutschlands, Gierowetz und eine Menge anderer Mitglieder des Theaterpersonals u.s.w.„
Wenn wir bedenken, wie selten Schelble mit seinen eigenen Werken hervorgetreten, und wie wenig er sich deshalb als Komponist in der Welt einen Namen gemacht, möchte es fast scheinen, dass er mit seinem schönen Talente auf halbem Wege stehen geblieben sey; doch mag bedacht werden, dass er dieses Studium eigentlich mehr nur als Bildungsmittel denn als Zweck selbst benützte, wie denn auch diese Geistestätigkeit gewiss vor Allem es war, welche seinem Sinn und Gemüte jene Richtung zum Ernsten und Tiefen der Kunst verliehen, welche sein ganzes nachheriges Wirken so entschieden bezeichnet. Vielleicht aber war auch der Umgang und die begeisterte Verehrung, die er den klassischen Meisterwerken zollte, mit mit Ursache, warum er stets so gleichgültig gegen die Kinder seines eigenen Geistes war, die er bekanntlich eher zu verbergen als vorzuführen suchte.* *Ich habe einmal von einem denkenden Manne die Bemerkung gehört: das Süddeutsche sei im Vergleiche zu seinem verständnig nüchternen Landsmann im Norden ein fahrlässiger Haushälter in Sachen des eigenen Talentes; dieser wisse durch die kluge Oekonomie oft kein Weniges zu allgemeiner Geltung zu bringen, während Jener auch bei ungleich größerer Begabung nicht selten freiwillig zurückstehe. Und wahrlich, wenn wir die Kunstgeschichte verschiedener Zweige durchgehen, so finden wir in dieser Behauptung etwas Richtiges.
Von Wien ging Schelble über Prag nach Berlin, wo die großartige edle Weise seines Gesanges viel Anerkennung fand, ohne dass es jedoch, wie er zu wünschen schien, zu einer Anstellung gekommen wäre. Als ihn Freunde aufforderten, weitere „geeignete Schritte“ deshalb zu tun, war seine Antwort: „Wenn sie mich hätten haben wollen, würden Sie schon gekommen sein.“
Es lag eben nicht in dem Charakter des Mannes, durch unwürdiges Gebaren sich sein besseres Selbst herabzusetzen und damit ein gewünschtes Ziel erreichen zu wollen.
Der kurze Aufenthalt in Berlin verschaffte indes unserem Künstler sehr interessante Bekanntschaften mit ausgezeichneten Männern, wie Zeltler und Andere; auch erhielt er genaue Einsicht in die durch Fesch gegründete Singakademie. – Welche Vorbedeutung für Schelble!
In Frankfurt am Main, wo der Sänger durch Vermittlung des Dichters Clemens Brentano, mit dem er in Berlin nahe befreundet geworden, zu Gastrollen erwartet ward, gefiel sein Gesang so sehr, dass sogleich eine Anstellung als erster Tenorist auf drei Jahre mit entsprechendem Gehalt erfolgte. Zwar wollten auch hier wie anderwärts Manche sein mangelhaftes Spiel tadeln; doch dürfte, wie Solche behaupten, die tiefer blicken, dieses im Allgemeinen nur von Rollen zu verstehen sein, welche seiner edlen Persönlichkeit entgegen waren. (Wie sehr würde nicht heut zu Tage das Publikum in dieser Beziehung über ihn zu klagen haben, da dieser Fall auf unseren Bühnen so häufig vorkommen müßte.) Wer Schelble in Lieblingsrollen, wie Titus, Seretus, Belmont, Joseph und Faust gesehen, wird obigem Urtheile von Herzen beipflichten. Die herrlichen Genüsse, welche seine Gesangsleistung boten, wurden leider durch einen rheumatisch-gichtiges Uebel, welches ihn befiehl, unterbrochen. Schelble, der früher völlig gesund war, maß die Ursache dieser Krankheit der Bauart des Frankfurter Theaters bei, indem, sobald der Vorhang aufging, durch die Dachöffnung eine merkliche Zugluft entstand. – Und wirklich nach des Künstlers Abgang vom Theater verlor sich gedachtes Übel sehr bald, und er genoss auf lange wie eine beste Gesundheit.
Während einer langwierigen Kur, die er zum Theil im Bade Soden brauchten, war sein Kontrakt abgelaufen und Schelble sehnte sich nicht, ihn wieder erneuert zu sehen. Sollte ihm doch der Vaterstadt Goethe’s auf andere Weise Zeit und Gelegenheit werden, sein reiches Talent zu entfalten. Freiwillig entsagte er einer ruhmvollen Theaterlaufbahn, um der Kunstrichtung zu folgen, welche seinem geläuterten, auf’s höchste gerichteten Sinn völlig entsprach.
Die erste Veranlassung zur Gründer seines später berühmt gewordenen Cäcilienvereins gab eine kleine Zahl befähigter Schüler und Schülerinnen des Gesanges, mit welchen Schelble in geselligen Zirkeln zuweilen ein oder mehrstimmige Gesangsstücke zur Aufführung brachte. Die geschmacks- und würdevolle Art, wie der Künstler diese Musiken leitete, konnte nicht verfehlen, auf die Teilnehmenden einen bedeutsamen Eindruck zu machen, und der Gedanke einer dauernden Vereinigung trat lebhaft hervor. In dieser Absicht versammelten sich die Freunde am 24. Juli 1818 und beschlossen nach kurzer Beratung, dass wöchentlich einmal und zwar Mittwoch Abends Gesangsübungen unter der Leitung Schelble’s stattfinden sollten.
Die Einrichtung dieser Gesellschaft war in erster Zeit sehr einfach und patriarchalisch, indem jedes Mitglied einen gewissen Beitrag zur Bestreitung der unvermeidlichen Ausgaben spendete und alles andere dem Meister überlassen blieb, in dessen Wohnung die Singübungen gehalten wurden. Als Hauptleitfaden diente der Grundsatz: Meisterwerke für Gesang aller Gattungen und Zeiten mit Sorgfalt einzuüben und sie in möglichst künstlerischer Vollendung auch öffentlich vorzutragen.
Man wird natürlich finden, dass zuerst nur kleinere Werke einstudiert werden konnten, um die Kräfte allmählich erstarken zu lassen, was jedoch schneller geschah, als man erwarten durfte. Bereits am 8. Oktober 1818 wurde von einem kleinen Zuhörerkreis die Zauberflöte von Mozart und am 22. November eine Kantate von Schelible mit 50 Mitgliedern des Vereins ausgeführt. Ohne einseitige Ausschließen folgte rasch hintereinander bedeutende Werke: Mozarts Requiem, Misericordias, mehrere Messen und Chöre beschäftigten den Verein um diese Zeit.
Am 21. Februar 1820 aber konnte schon Händels Alexanderfest mit Mozarts Instrumentation unter Mitwirkung des ganzen Theaterorchesters gegeben werden, während für die nächstfolgende Zeit Cherubins Requiem, Händels Empfindungen am Grabe Jesu, sowie Sebastian Bachs achtstimmige Motette: „Ich lass dich nicht!“ die Tätigkeit des Vereins in Anspruch nahmen.
Gegen Ende des Jahres 1821 zählte der Verein bereits 100 Mitglieder; die erste Probezeit war glücklich bestanden, und das allgemeine Zutrauen, welches Schelble und seine gute Sache sich erworben, ließ dem Geschaffenen eine gedeihliche Zukunft hoffen. Die Wohnung des Meisters genügte der stets wachsende Mitgliederzahl nicht mehr, und ein größeres Lokal mußte gemietet werden. Zugleich war man auch bemüht, dem jugendlichen Institute eine spätere Gestalt und Grundlage zu geben. Die reichen Mitglieder traten zusammen, um einen Ausschuss zu wählen, welcher fortan den ökonomischen Teil des Ganzen zu übernehmen sich verpflichteten, während zu des Vereins Sicherung und Bestehen mit Schelble ein Vertrag auf zehn Jahre abgeschlossen, und ihm ein ansehnliches Gehalt bestimmt ward.
Um dieselbe Zeit wurde der Meister auch von Außen eine sehr beachtenswerte Antrag gemacht, der, wenn er angenommen worden wäre, des Meisters Zukunft jedenfalls zeitlebens gesichert hätte; Schelble jedoch glaubte, im Hinblick auf die soeben eingegangenen Verbindlichkeiten, denselben ablehnen zu müssen.
Das Verbleiben in der größeren Stadt und eine mehr gesicherte Stellung daselbst mußte unserem Meister umso erwünschter sein, als das Geschick ihn eben erst mit Fräulein Molly Müller aus Königsberg bekannt gemacht, mit welcher er im Jahre 1822 ein eheliches Bündnis feierte.
Im Zusammenhang mit der neu gegründeten Organisation des Vereins begannen nun Abonnementskonzerte, welche am 12. Dezember mit Händels Oratorium „Judas Maccabäus“ glorreich eröffnet wurden. Bald folgten auch andere Werke dieses herrlichen Meisters, sowie von berühmten Musterwerken einzelne Sätze, zum Beispiel von Palestrina, Lotti, Durante, Marcello, vorzüglich aber die Schöpfung eines Mozart, Haydn, Beethoven, Cherubini und später zuweilen auch Mendelssohn. Bei solcher Vielheit und Abwechslung wird daher der Vorwurf allzu einseitig strenger Richtung wohl nur von solchen gemacht werden können, die in unterentwickelten Sinne und Geschmacklosigkeit geistlose Modewerke dem Besten an die Seite setzen und als passende Unterhaltung für sich in Anspruch nehmen möchten. Gerade darin lag aber Schelble’s großer Verdienst, dass er dem Trivialen und Schwächlichen niemals die mindeste Konzession machte, und dadurch seinen Verein auf die Stufe wahrhaft künstlerischer Vollkommenheit hob.
Ein Blick über die Gesamtleitung des Vereins lässt hauptsächlich zwei Hauptperioden unterscheiden; die erste bis zum Jahr 1828 füllen vorzugsweise Händel’s, die zweite Bach’s Werke.
Durch den bekannten Kunstphilosophen Nägeli, mit welchem Scheluble persönlich und nahe befreundet war, hat er unter anderem eine authentische Abschrift des Bach’schen H Moll Messe erhalten, nach dem Autographum, welches Nägeli nebst anderen Handschriften dieses großen Meisters besaß, während andererseits Mendelssohn es war, der dem Meister die erste Kunde von Sebastian Bach’s doppelchöriger Passion brachte, indem dieser jugendliche Künstler bei einem Besuche in Frankfurt für Scheluble mehrere Stellen aus dem Gedächtnisse aufschrieb, später aber von Berlin aus eine Abschrift der ganzen Partitur besorgen ließ.
Sehr große Sorgfalt verwendete Schäuble auf die Ausbildung des Chorgesanges, wobei er, um jede Übereilung zu verhüten, mit größter Umsicht zu Werke ging. Außer den gewöhnlichen Proben am Mittwoch wurden deshalb nicht selten Extra- oder Spezial-Proben für einzelne Stimmen, zum Beispiel des ganzen Soprans x. veranstaltet, wobei allein jene freien Feinheiten erreicht werden konnte, die einem Kunstwerk seine individuelle Vollendung geben. Aber auch dem Sologesang widmete Schäuble seine ganze Aufmerksamkeit, umso mehr, als es keine geringe Aufgabe ist, mit bloßen Musikliebhabern das zu erreichen, was streng genommen nur dem eigentlichen Künstler zugemutet werden darf. Seiner Ausdauer gelang es jedoch, mehrere Schülerinnen für diesen Zweig heranzubilden, deren vortreffliche Leistungen weit über den gewöhnlichen Dilettantismus hinausreichten.
Eine Sorge anderer Art war für ihn die Instrumentalbegleitung, indem er dahin strebte, jedes Werk mit den ihm eigenen Instrumenten ausführen zu lassen. Geraume Zeit waren die Konzerte, mit wenigen Ausnahmen, mit der einfachen, aber vortrefflichen Klavierbegleitung Schelbles ausgeführt worden. In der Folge, als die Zahl der Mitglieder bedeutend angewachsen, hatte er diese Begleitung durch einen Kontrabass zu kräftigen gesucht, und später einmal bearbeitete er Haydn’s Schöpfung und die Jahreszeiten für mehrere Klaviere, was, obgleich von schöner Wirkung, denn doch nicht ausreichen sollte und Schelble mit dem Gedanken umging, ein Instrumentalverein aus Liebhabern ins Leben zu rufen. – Ein Plan, der jedoch nie zur Ausführung kam. Es mußte deshalb Zuflucht zum Theaterorchester genommen werden, was freilich mit Kosten und Unannehmlichkeiten mannigfacher Art verbunden war, in dem diese Künstlerschaft vom Theater abhängig und daher nicht jederzeit zu Diensten sein konnte.
Unter solchen Verhältnissen hatte der Verein das Jahr 1828 erreicht. Nach 10-jähriger Mühe und Arbeit war es gelungen, den musikalischen Sinn bedeutend zu wecken und auf Großartiges, Aechtes hinzulenken. Freudig wurden die herrlichen Leistungen des Vereins anerkannt und auch die allseitige Teilnahme des Publikums fehlte nicht.
Jetzt glaubte Schelble einen Schritt weitergehen und den kühnen Plan fassen zu dürfen, die Werke des größten und tiefsinnigsten Tondichters, des Johann Sebastian Bach, zum Hauptstudium des Vereins zu erheben. Indem er den Verein dadurch das unbestreitbare Verdienst verlieh, welches dem Institute wohl die erste Stelle unter ähnlichen Deutschlands einräumte, konnte dem Meister vielleicht etwas allzu rasches Vorgehen nach dem vorgesteckten hohen Ziele zum Vorwurf gemacht werden, wenn wir bedenken, dass er sogleich zwei der größten Werke Bachs hintereinander vornahm. Doch Schelble’s genialistischer Kraft und Begeisterung war allen entgegenstehenden Schwierigkeiten gewachsen. Nach der ersten Aufführung der großen H Moll Messe schrieb er den Seinigen in der Heimat: „Es ist das erste Mal, dass von Sebastian Bach’s größeren Kompositionen eine in’s Leben getreten ist. Als ich im Vereine anfing, die aus der großen Messe gewählten Stücke einzuüben, fand ich große Hindernisse. Die meisten Sänger und Sängerinnen hatten ein Vorurteil gegen diese Komposition gefaßt. Die Schwierigkeiten schienen ihnen unüberwindlich. Selbst die besten, die es mit der Sache treulich hielten, baten mich, von meinem Vorhaben abzusehen. Ich beschwichtigte sie, so gut ich konnte, half ihrem Unvermögen durch stetes Erklären des Bach’schen Werkes auf, und siehe da, als dieses Werk aus dem Chaos heraustrat – (es klang fürchterlich in der ersten Probe) wurde es immer herrlicher und größer, und bei der ersten Orchesterprobe mußte Freund und Feind bekennen, in seinem Leben nie etwas Tieferes und Erhabener es gehört zu haben. – So siegte meine Liebe und Tätigkeit für das große Werk, welches die Kunstgeschichte aufzuweisen hat, über das Vorurteil des vorlauten Dilettantismus. – Die Aufführung war prachtvoll, an 200 Personen wirkten mit, ich hatte ein gutes Orchester: 18 Violinen, vier Violen, vier Violocelles, zwei Kontrabässe, nebst kompletter Harmonie mit Posaunen.“
Fast gleichzeitig wurde, zwar immer noch unter Mühe und Not, die doppelchörige Passion eingeübt. Als dieses merkwürdige Werk so weit gediehen war, dass es richtig verstanden werden konnte, da freute sich Jedermann über den Geistesreichtum, welcher durch Svhelble’s Bemühen erschlossen ward.
Die erste Aufführung fand am 2. Mai 1829 statt. Groß und mächtig war der Eindruck sowohl der originell charakteristischen Chöre, als auch der höchst ausdrucksvolle Rezitative und Arien voll wunderbarer Schönheit. Diese Aufführung war ganz besonders feierlich, indem Schelble den Vortrag der Rezitative des Evangelisten und Christus übernommen hatte, während etwa sechzig junge Mädchen aus der städtischen Musterschule die in dem Werke vorkommenden Choralmelodien sangen.
Der sonst so unwillkommene Bach war von nun an der Liebling des Vereins. Man überzeugte sich immer mehr, dass derselbe nicht bloß ein strenger Contrapunktist, sondern ein tiefer, feinfühlender Komponist sei.
Um aber all diese Früchte zur Reife gebracht zu sehen, hatte es eines Mannes bedurft wie Schelble vor Liebe und Hingebung für das vorgestreckte, hohe Ziel. Uneigennützigkeit hatte er in die besten Jahren seines Lebens geopfert und das Gute, was durch seine seltene Kraft und Ausdauer geschaffen war, durfte Frankfurt unbestritten zu einer seiner vorzüglichen Zierde rechnen. Umso unerwarteter muss es daher erscheinen, bald darauf eine bedenkliche Krise für das ferne Bestehen des Vereins eintreten zu sehen. Viele frühere Mitglieder waren unterdessen zurückgetreten, und eine Erneuerung des Contracts, wodurch allein der Meister und sein Institut ganz sichergestellt werden konnten, war nicht zu hoffen. In dieser unangenehme Lage entschloß sich Schelble im Jahr 1831 auf Zureden seiner Freunde, den Verein auf eigene Rechnung fortzuführen. Und wenn auch der innere Fortgang des Instituts durch alles dies nicht im Mindesten litt, so kann es doch schwerlich Frankfurt zum Lob gereichen, Schelble und seine Sache aufs Spiel gestellt zu haben.
Die größeren Konzerte wurden wie bisher mit Orchester gegeben; daneben aber fanden auch kleinere, nicht minder interessante Aufführungen im Lokal des Vereins statt, wobei manche bisher unbekannt gebliebene Gesang- und Instrumentalwerke zu Gehör gebracht wurden. Aus diesem möchte genugsam zu entnehmen sein, wie der Meister weder Mühe noch Opfer scheute, um den Ruhm und das Gedeihen des Vereins aufrecht zu erhalten.
Gleichen Schritte mit Schelble’s Tätigkeit als Direktor hielten seine Bemühungen im Gebiete des Unterrichts. Nachdem der von ihm gegründete Verein bereits die höchste Stufe erreicht hatte und ein glückliches häusliches Leben dem genügsamen Manne wenig äußerliche Wünsche übrig lassen mochten, da gerade ließ es sich Schelble, von einem wohlverdienten Ruhm keineswegs lässig gemacht, auf das eifrigste angelegt sein, immer mehr den Mängeln und Lücken der musikalischen Bildung nachzuspüren; umso mehr, als diese es waren, welche ihm bisher so manche Mühe und Kämpfe bereitet hatten. Als Grund des Übels wurde von ihm erkannt, dass die Meisten die Musikin zu vorgerücktem Alter erlernen, das heißt in einer Zeit, wo die eigentliche Epoche der Bildungsfähigkeit schon vorüber ist. Vielfältige Versuche, welche Schelble bei Kindern anstellte, überzeugten ihn, dass je früher der Unterricht beginne, desto erfreulichere Resultate zu erwarten sein; eine Wahrnehmung, auf welche er seine, (wenn auch nicht allgemein) bekannt und sogar berühmt gewordene Singmethode, oder richtiger Gehörsbildungsmethode für Kinder gründete.
Diese Unterrichtsweise geht dahin, bei Kindern im zarten Alter das musikalische Gehör oder den Tonsinn auf naturgemäß neue Art zu wecken und stufenweise bis zu möglicher Vollkommenheit auszubilden. Leider hat uns der Meister, außer einer „kurzen Anleitung zur musikalischen Elementarunterrichte“ keine ausführliche Theorie seiner Methode hinterlassen. Doch ist hinlängliches Material selbst komponierter Übungsstücke vorhanden, von dem ersten Anfange mit drei Tönen bis zum ganzen Umfange der C Dur Tonleiter, nebst Ausarbeitung des harmonischen Theils oder der Akkorde.
In der geschriebenen Anleitung sagt Schelble: „Manche glauben, es gebe Kinder, die kein musikalisches Gehör besitzen; ich selbst war der Meinung; denn es gibt Kinder, welche mit zehn oder elf Jahren Musik zu lernen anfangen, und es zeigt sich, dass sie kein Gehör haben; nicht einen Ton sind sie imstande aufzufassen. Solche Beispiele habe ich viele gehabt. Dieser Mangel findet sich jedoch bei keinem einzigen Kinde von 4 bis 5 Jahren, mit welchem auf obige Art verfahren wird; alle werden ohne Unterschied Ton und Melodie auffassen. – Die Kinder lernen nach derselben Methode Musik, ehe sie noch Anderes zu begreifen imstande sind; ja sie sollen mit dem Schwersten schon fertig sein, ehe sie Weiteres beginnen. Fangen sie im vierten Jahre bei einigermaßen günstigen Naturfähigkeiten an, so werden sie mit den 7. nicht nur jene Melodie der Dur- und Moll- Leiter richtig hören und notieren, sondern sie werden auch alle Dreiklänge und ihre Versetzungen, so wie alle Vierklänge mit letzteren sicher hören, was viele Tausende, die ihre ganze Lebenszeit mit Musik sich beschäftigen, nicht können.“
Ohnerachtet Schelble seine Lernmethode nur für den Umfang der C Dur Tonleiter auszuführen Zeit gefunden, kann der Lehrgang noch gewissermaßen als abgeschlossen betrachtet werden, weil die Anwendung der noch übrigen fünf Töne keine so große Schwierigkeiten hat, als auf den ersten Blick scheinen möchte. Wenn diese treffliche Methode bis jetzt auch immer nicht im allgemeinen bekannt geworden, so sie verdient, so mag es vielleicht in den Umstande liegen, dass sie eben mehr unmittelbar praktisch, als bloß nur theoretisch mitgeteilt werden will; jede Willkür und Voreiligkeit oder Schaden bringen und die gehofften Vorteile im Voraus vernichten würde.
Was den eigenen Bildungsgang unseres Künstlers betrifft, so muss es auffallen, dass er im ganzen wenig Unterricht genossen, während er selbst eine angeborene Neigung in sich trug, unterrichtend und belehrend auf seine Umgebung einzuwirken. Selbst als Theatersänger suchte Schelble nach Umständen, in diesem Sinne tätig zu sein, in denen er die Kollegen die sich ihm zu nähern verstanden, gewissermaßen als Schüler betrachtete. Denn nicht nur teilte er diesen seinen Erfahrungen und Ansichten über Gesang gerne mit, sondern er sang mit ihnen Szenen, Arien, ja selbst ganze Opern am Klavier durch. Und noch mögen manche dieser Sänger und Sängerinnen leben, die Schelble’s Andenken dankend feiern.
Schelble selbst war eigentlich zum Sänger geboren; wie denn überhaupt alles dabei von einer glücklichen körperlichen und geistigen Organisation abhängt. Bei Schelble fand diese Organisation in glücklicher Vereinigung statt. Nebst einer vortrefflichen psysischen Bildung dürfen wohl die Hauptpunkte, Verstand und Gemüth, nur selten in so richtigem Verhältnis, wie bei ihm, zu finden sein. Seine Stimme war von Natur mehr hoher Baß, als eigentlich Tenor; aber durch fleißiges Studium hatte er den bedeutenden Umfang vom tiefen C bis zum hohen G oder A der kleinen Oktave erlangt. Über diese Töne von seltener Biegsamkeit und Gleichmäßigkeit war der Sänger völlig Herr und Meister, während Kraft und Wortlaut sein herrliches Organ schmückten, das leise An- und Verklingen der Töne, wie nicht minder die große Fertigkeit, die schwersten Gänge, Läufe und einen vollendeten Triller zu singen, waren bewundernswert; doch muß bemerkt werden, dass Schelble von diesem Prunk nur höchst selten und in späteren Zeiten gar keinen öffentlichen Gebrauch machte, weil er seinen Geschmack weit mehr zusagte, dem einfachen, zugleich aber künstlerisch vollendeten Vortrag seine Meisterschaft zu zeigen. „Ich kenne“, sagt er in dieser Beziehung von sich „viele Sänger welche mit schöner Stimme als die meinige ist, begabt sind. Was ich aber zu haben glaube ist: dass ich jedes Gesangsstück nach seinem wahrem Charakter vorzutragen verstehe“. Und wahrlich wer ihn hörte, mußte bekennen, dass sich bei ihm eine Art des Gesanges geltend mache, wie man sie noch nicht gehört hatte.
Nachdem Schelble das Theater (mit der Rolle „Tancred“) auf immer verlassen, war seine ganze Wirksamkeit als Sänger ausschließlich dem Cäcilienvereine gewidmet, wo diese Tätigkeit gerade bedeutend wurde, indem er nicht nur als Sänger überhaupt einen mächtigen Einfluss auf diese Anstalt ausübte, sondern auch viele vorkommende Solo’s selbst übernahm und sie jederzeit zur großen Erbauung der lauschenden Zuhörer vorzutragen wußte.
Was von dem Meister als Sänger gesagt ist, kann in fast gleichem Maße auf ihn auch als Klavierspieler angewendet werden. Er spielte zwar, Gesangsbegleitung ausgenommen, nie öffentlich und wollte überhaupt als Spieler ex professo nicht angesehen werden, allein seine Art und der reine Geschmack, mit welchen er das Instrument behandelte, waren vortrefflich. Ein schöner, gleichmäßiger Anschlag, verbunden mit bedeutender Fertigkeit, welche jedoch nie in die Sphäre des Virtuosentums ging, bezeichneten sein durchdachtes und höchst anspruchsvolles Spiel ohne alle Affectionen und kleinliches Effektaschen, wobei allerdings der gebildete Sänger nicht zu verkennen war, in den er die Tasten gleichsam zum Singen brachte. Die Werke eines Mozart, Beethoven und Bach konnte man unmöglich schöner als von ihm vorgetragen hören.
Es wird wohl kaum der Versicherung bedürfen, dass bei einer Kunstrichtung wie die Schelble’sche war, alle Halbheitheit und Scheinstreben einen strengen Richter gefunden haben werde. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist die Antwort, die er einst einem Kunstjünger gab, der ihn bescheiden um die Erlaubnis fragte, den Vereinsübungen manchmal beiwohnen zu dürfen. „Wenn Sie nur manchmal kommen wollen“, entgegnete Schelble, „so kann ich es Ihnen nicht erlauben, wollen Sie den Verein aber regelmäßig besuchen, so sind Sie mir jederzeit willkommen.“ Eine solche, auf nur das Innerste und Wahre gerichtete Gesinnung konnte natürlich auch nur wenig Behagen finden an sich vielfach verbildeten Zuständen unserer modernen Salon- und Modelebens. Obwohl ausgerüstet mit seltenen geselligen Talenten und auch einer durchaus bedeutsamen Persönlichkeit, suchte und fand er allein nur Erholung und Genuss im Geiste vertrauter Freunde.
Schon früh hatte er in seiner Vaterstadt, mit welcher noch Eltern und Geschwister lebten, ein kleines ländliches Besitztum erworben und hergerichtet, wo er alljährlich zur Sommerzeit sich aufzuhalten pflegte.
Hier, in der wohlbebauten Hochebene in der Nähe des Schwarzwaldes, verlebte der genügsame Manne an der Seite seiner würdigen Gattin die heiteren Stunden. „Wie glücklich bist du“, heißt es in einem Schreiben an seinen Schwager, welcher um die Zeit dort ein Stück Bergfeld zu kultivieren angefangen, „wie glücklich, dass du deinen Berg- und Baumgarten täglich sehen und besuchen kannst, während ich getrennt von einem meine liebsten Lebensgenüsse lebe, und auch noch von vielem Anderen. Kommen und gehen, mich freuen und betrüben, scheint mein Loos zu sein. Wir gehen oft spazieren und vergleichen hundertmal unsere Besitztum mit dem Gesehenen. – Es ist eben nicht der Garten allein, was mich fesselt, an dem hängt ein Ideal, also ein Ding, wovon das jetzige Leben sehr verschieden ist – und das ich vielleicht nie erreiche!“
Als Schelble hörte, dass in seiner Heimat die Straßen mit Bäumen bepflanzt werden sollen, schrieb er einem Freunde: „Hoch erfreut bin ich, dass endlich von Oben für die Verschönerung der Städtleins und der Gegend etwas getan wird. Möge die Sache mit Liebe und Strenge betrieben werden, das wünsche ich aus hundert Gründen tausendmal. Wissen möchte ich wohl, wann der erste Baum gesetzt wird, ich möchte diesen Tag feiern.“
Wohl machte schon dazumal das Leben der größten Stadt von jenen bedrohlichen Vorzeichen der Bewegung und politischen Zwiespältigkeit, welche bald nachher den Frieden der Gesellschaft auf bedenkliche Weise zu stören drohten, Manches ahnen lassen.
Die Worte, welche Schelble aus Anlass der bekannten Frankfurter Unruhen anfangs der dreißiger Jahre brieflich anspricht, scheinen mir im Hinblick auf unsere nächste Vergangenheit etwas Prophetisches zu haben: „Wie auch die Ansicht und Empfindung eines jedes Einzelnen sein mag“, schreibt er, „Jeder fühlt sich auf seine Art höchst unangemessen berührt, und Zerwürfnis, Misstrauen und Feindschaft im Kleinen wie im Großen werden leider durch solche Ereignisse immer häufiger und somit das Leben trüber werden. Da ist es denn gut, wenn wir im kleineren Kreise einer erquicklichen Häuslichkeit uns einer Kunst oder Wissenschaft hinzugeben, das Glück haben.“
Und gewiss Schelbe’s reiches Gemüt und uneigennützig Strebende fand dieses Glück jederzeit in sich selbst und in dem Anteil und der Verehrung Aller, die mit ihm durch Beruf oder Freundschaftsverhältnisse in näherer oder entfernter Berührung kamen.
Auf’s lebhafteste und mit richtigem Sinn und Geschmack interessierte sich Schelble auch für alle Erscheinungen auf dem Gebiete der bildenden Kunst, ohne sich jedoch jenen leidigen sogenannten Kunstkennern beizählen zu wollen, die entweder in falsch verstandener Toleranz das Schlechte mit dem Guten gleichberechtigten, oder unfertigem Absprechen ihrer Meinung als gültigen Maßstab hurtig und flink und das Höchste und Vollkommenste unbedenklich anlegen möchten. Das Städel’sche Institut in seinem Anfang und Fortgang gab Gelegenheit genug, dem mit mehr als gewöhnlicher Liebhaberei gehegten Kunstinteresse Schelble’s einen Anhaltspunkt zu geben; sowie denn auch unter den in Frankfurt lebenden Künstlern mehrere waren, die zu seinen näheren Freunden zählten, mit welchen ein geselliges Verhältnis stets auf das Beste gepflogen ward.
Im Vorbeigehen mag hier noch erwähnt werden, wie der fein und gründlich gebildete Musiker sich mit Vorliebe für den Volksgesang interessierte. Es war ihm nicht zu geringfügig, bei Gelegenheit seines Sommeraufenthaltes in Vaterort zuweilen vorbeiziehende, singende Landleute, Schnitter und Schnitterinnen, zu sich in seinen Garten einzuladen, um an ihren Gesänge zu sich zu ergötzen. Ja, er schrieb sich manchmal diese Lieder auf, jedoch nicht um sie, wie es heutzutage geschieht, für den Salon oder die gebildete Welt zustutzen zu wollen. *Es ist auffallend, dass da, wo (auf dem Lande) die, unserer Zeit so betriebenen Männergesangsvereine bestehen, der Volksgesang, diese gleichsam wildwachsende, aber frisch duftende Blüte auf dem Felde der Tonkunst, verschwindet. – Sonderbar, nachdem im 14. Jahrhundert die Meistersänger-Zunft entstanden war, hatte die Poesie bereits aufgehört. – Vielleicht dass einmal nach 50 Jahren ähnliche Betrachtungen auch über unsere Konservatorien, Akademien und zum Teil auch über die Universitäten angestellt werden.
Die Haupttätigkeit des Mannes aber war und blieb dem Vereine zugewendet. Die Zeit hatte zwischen ihm und einem herangeblühten Stamme der Mitglieder ein Band geschlungen, welches auf lange und glückliche Zukunft hoffen ließ; -allein das Schicksal hatte anderes beschlossen. Gegen das Jahr 1834 fing des Meisters Gesundheit an, schwankend zu werden; doch blieb Schelble noch immer in gewohnter Tätigkeit, bis gegen Ende des nächsten Jahres, wo sein Zustand bedenklicher wurde und er, zuerst auf kurze Zeit, dann auf immer dem Vereine entsagen mußte.
In peinlicher Untätigkeit wurde der Winter verbracht, und mit kommendem Frühjahr (1836) schied der Meister von Frankfurt nicht ohne ein Vorgefühl, dass er wohl für immer sein werde.
Im Bade Gastein hatte er vergeblich Heilung gesucht; ist so mächtig in die Heimat zu, wo er in der stärkenden Luft des Hochlandes Besserung hoffen durfte. – Und wirklich schien erneutes Leben noch einmal wiederkehren zu wollen – doch war es leider nur Täuschung – das Vollgefühl der Gesundheit kehrte nimmermehr wieder. Demungeachtet war er noch immer unausgesetzt thätig. Nebst der Sorge für die häusliche Einrichtung seiner kleinen Gartenwohnung beschäftigte ihn der Singunterricht der Kinder, die er um sich versammelt hatte; auch hier im Kleinen, wie früher im Großen, wollte er den Sinn und die Empfänglichkeit für das Schöne wecken und fördern. – Frohe Hoffnung gänzlicher Genesung beschlichen die Brust der Seinigen; um so unvorbereiteter traf sein plötzliches Dahinscheiden.
Es war am 6. August des Jahres 1837, an einem Sonntag, als das Totenglöcklein der Stadtkirche üblicherweise den Einwohnern verkündete, dass ein Mensch aus ihrer Mitte geschieden sei. – Es war das Scheidezeichen für Johann Nepomuk Schelble. – Im Geleite der Seinigen hatte er denselben Tag einen Spaziergang auf ein entferntes Grundstück unternommen, als er zurückkehrend am Eingange seines Gartens von einem Blutsturz befallen wurde, der seinen Leben in den Armen seiner Gattin ein schmerzliches schnelles Ende machte.
Ein Mitglied des Cäcilienvereins (Johannes Weismann) unternahm es, für die Freunde in kurzgefassten Zügen eine Schilderung des Lebens und Wirkens des Verewigten zu entwerfen. Und wohl darf er als die Denkweise Vieler betrachtet werden, wenn der Verehrer am Schlusse seines Nekrologs ausruft: „Fürwahr, ein ungewöhnlicher, ein großer Mensch ist mit ihm von der Erde geschieden; denn seine Aufgabe war eine große, und er hat sie im großen Sinn aufgefaßt und gelöst. Darum erkannte sich der Verein mit tiefem Schmerze verwaist, als er sich ihm die Überzeugung aufdrang, dass Schelble ihm unwiederbringlich entrissen sei. Darum ist es so natürlich, dass wir immer von Neuem an ihn erinnert werden, dass wir ihn immer wieder vor unserem Geistesauge erblicken, den Mann mit der großen Stirne, mit dem edelgebildeten Haupte, dem tiefblickenden Auge, wie er anspruchslos am Klavier saß und mit klarem, ruhigen Sinn die Tonwelt, das Ganze wie das Einzelne beherrschte“.
Noch besteht der von Schelble gegründete Cäcilienverein, ein lebendes Denkmal des Dahingeschiedenen. Und wenn auch der öftere Wechsel der Direktion nach Schelble der Sache nicht vorteilhaft sein konnte, und daher Manches vom ursprünglichen Geiste verloren gegangen sein mag, so darf dennoch nicht verkannt werden, dass der Sinn und die Richtung des Geschmackes für gediegene Musik im Ganzen erhalten blieb.
Lucian Reich zitiert hier viel aus Briefen von Johann Nepomuk Schelble die ihm damals wohl vorgelegen haben. Hier kommen wieder die selben Künstler vor die in den letzten Kapitel erwähnt wurden:
Johann Nepomuk Schelble (16.05.1789-06.08.1837) kam also über Stuttgart, Wien, Prag und Berlin nach Frankfurt.
Nebst verschiedenen Quartetten schrieb Schelble damals auch eine Oper „Graf Adalbert„, zu welcher Krebs den Text gedichtet hatte.
Graf Adalbert ist eine Oper in 3 Akten (1813 Stuttgart). Leider ist wohl nur der Text überliefert, die Musik gilt als verschollen.
Es konnte daher nicht fehlen, daß der junge Mann Gelegenheit fand, mit bedeutenden Künstlern in seinem Fache bekannt zu werden; unter diesen Weigel, Spohr, Meyfeder, Kreuzer, Schuppanzig und vor Allen Beethoven….Auch mit Händel’s großen Werken hatte Schelble hier (in Wien) Bekanntschaft gemacht.
Judas Maccabeus HWV 63 Oratorio Óscar Gershensohn von George Friderich Händel
So gab Johann Nepomuk Schelble als Initiator und bewegende Kraft einen Takt vor, der Frankfurts Chöre noch 175 Jahre nach seinem Tod durchpulst. Solange sie singen, kann man ihn, mag auch das Bild seiner Persönlichkeit verblasst, sein Name vergessen sein, noch heute „hören“.
1822 heiratete Schelble das Fräulein Molly Müller aus Königsberg.
Leider lässt sich über Molly Müller nichts mehr weiter herausfinden, außer, dass die Ehe anscheinend kinderlos blieb.
Elbphilharmonie | Bach h-Moll-Messe | Thomas Hengelbrock & Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble
„Man kann kaum glauben, wie viel ein einziger Mensch, der was will, auf alle andern wirken kann; S. steht dort ganz allein…Er hat sich einen sehr bedeutenden Wirkungskreis geschaffen und die Leute im eigentlichsten Sinne weiter gebracht …“
Felix Mendelssohn Bartholdy in einem Brief an Carl Friedrich Zelter
In Hüfingen erwarb Schelble 1824 ein „Landgütchen“, das er sein „Ruhetal“ nannte.
Foto: Karl Schweizer etwa 1980
Lucian Reich berichtet über Schelbles Engagement in Hüfingen und von den Pflanzungen der Hüfinger Anlage, die mit den Freunden der Natur Hüfingen errichtet wurde und teilweise auch von den selben „Baunausen im Geiste“ zerstört wurden, deren Nachfahren auch heute noch in Hüfingen Unheil stiften:
Als Schelble hörte, daß in seiner Heimat die Straßen mit Bäumen bepflanzt werden sollten, schrieb er einem Freunde: „Hocherfreut bin ich, daß endlich von Oben für die Verschönerung des Städtleins und der Gegend etwas gethan wird. Möge die Sache mit Liebe und Strenge betrieben werden, das wünsche ich aus hundert Gründen tausendmal. Wissen möchte ich wohl, wann der erste Baum gesetzt wird, ich möchte diesen Tag feiern.“
Johann Nepomuk Schelble Quelle: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France
Mit 48 Jahren starb Schelble in den Armen seiner Frau Molly Müller am Eingang seines Hüfinger Hauses an der Bräunlinger Straße.
Das Buch habe ich hier 2021 veröffentlicht. Allerdings veraltet auch eine Webpage ziemlich schnell und die nächsten Monate möchte ich die einzelnen Kapitel aktualisieren. Deswegen werde ich jedes aktuelle Kapitel wieder nach vorne kramen. Das alte Buch mit der sehr eigenwilligen Schreibweise in Frakturschrift hatte ich damals vorgelesen, um den gesprochenen Text von einem Programm namens f4transkript in Buchstaben umzuwandeln. Den umgewandelten Text habe ich danach bearbeitet, da viele der Wörter dem Programm nicht bekannt waren. Aus diesen Gründen ist der Text ein Gemisch aus alter und neuer Schreibweise. Was es in den verschiedenen Kapiteln des Buches gibt, ist diese vorgelesene Tonspur mit dem Transkript in schwarz.
„Es bildet ein Talent sich in der Stille, Sich ein Charakter in dem Strom der Welt.“
Johann Wolfgang von Goethe in Torquato Tasso
Gleichzeitige Menschen haben, wie eine aufmerksame Vergleichung zeigt, nicht selten auffallende Ähnlichkeit in der Art und Weise ihres Bildungsganges. Und es ist dies sehr natürlich; bilden ja doch Zeit und Umstände, so zu sagen das Klima, in welchem die Pflanzen aufwachsen und sich entfalten.
Unter die Landsleute, welche sich ehrenvoll und tüchtig hervorgetan, dürfen wir mit Recht die Musiker Conradin Kreutzer, Krebs und Schelble zählen. In ungefähr äußerlich gleich beschränkten Verhältnissen geboren, führte sie allein ihr Talent und Streben auf die Bahn, auf welcher sie (jeder in seiner eigenen Weise) für ihre Zeit Bedeutendes leisteten. – Wie bei ihrem Landsmann Seele, sind es die Orte Donaueschingen, Stuttgart und Wien, die bei Schilderung jenes Lebens und Wirkens vorzugsweise genannt werden müssen. Krebs, 1774 in Überauchen bei Villingen geboren, besuchte fast gleichzeitig mit Seele die Schule zu Donaueschingen, wo er nebenbei Gesangsunterricht nahm, und später am Hofe zu Stuttgart als tüchtig gebildeter Sänger und Theoretiker einen passenden Wirkungskreis fand. –
Kreutzer, ein (1782) geborener Mößkircher, kam, wie Schelble nach Marchthal, schon frühe in das Kloster Zwiefalten, wo er gründlichen musikalischen Unterricht genoss, und nachdem er einige Zeit in Wien sich aufgehalten, in Stuttgart und Donaueschingen die Stelle eines Kapellmeisters begleitete, sowie später in Wien die Direktorsstelle bei der Oper an der Josephstädter Bühne und am Burgtheater.
Was die Lebensgeschichte Schelble’s anbetrifft, so glaube ich dieselbe etwas ausführlicher geben zu müssen, zumal verschiedene hinterlassene Briefschaften, sowie Mündliches und Schriftliches von Freunden* die (eigene nahe Verwandtschaft mit eingerechnet) mich in den Stand setzen, einen biographischen Versuch mit einigem Glück bewerkstelligen zu können. * Schätzenswerthe Beiträge verdanke ich dem Musiker und Schüler Schelble’s, Franz Xaver Gleichauf in Frankfurt; so wie ich auch dem Urtheile dieses gründlich gebildeten Musikers in Betreff Schelble’s musikalischer Leistungen treuchlich gefolgt bin.
Lebensgeschichten im allgemeinen sind jedoch immerhin Bruchstücke; denn wie Vieles verschlingt nicht unmittelbar die Woge der Zeit, und wie bald ist die Stelle, wo wir gelebt und gewirkt haben, überwachsen von dem üppigen Grün nachkommender Geschlechter, die oft kaum mehr wissen, wer von den Vorfahren das Bäumlein gepflanzt und gepflegt hat, dessen Schatten oder Frucht sie genießen. Bleibt ja doch gewöhnlich gerade das prunk- und anspruchlosere, darum aber vielleicht um so gesegnetere Wirken ungenannt, weil es verschmäht hat, in den Vordergrund sich zu stellen und von der Welt Beifall und Lohn zu heischen.
„Schelble’s künstlerische Leistungen aber verdient unsere volle Beachtung, nicht nur deshalb, weil sie als schöne Erinnerung festgehalten zu werden verdienen, sondern, was noch mehr ist, weil sie als Vorbild für unsere und künftige Zeiten gelten dürfen. Sein ganzes Wirken und Streben erinnert recht eigentlich daran, dass die Kunst ein Göttliches im Menschen ist, welches zu erhalten und zu pflegen des wahren Künstlers hoher Beruf sein müßte!“
Nach dieser kurzen Vorbetrachtung wollen wir nun den Lebensgang des Meisters in möglichster Treue zu schildern versuchen.
Es ist eine, durch viele Beispiele bestätigte Wahrnehmung, dass ein Talent, gleichwie das Samenkorn, zum Keimen einer Anregung bedarf, einer Umgebung, wo es seine erste, wenn auch zuweilen spärliche Nahrung zieht. Dieser Satz auf die vorliegende Lebensgeschichte angewendet, möchte es fast scheinen, als werde auf dem Lande, oder was das Nämliche ist, in kleinen Landstädten, zumal in jenen unruhigen Kriegszeiten, wenig künstlerisch Anregendes vorhanden gewesen sein. Bei näherer Betrachtung jedoch dürfte sich ergeben, dass jener Boden in dieser Beziehung so ungünstig nicht gewesen, als wir auf den ersten Blick glauben möchten.
Um von der Musik allein zu reden, war es diese Kunst ganz besonders, dies bis herab in’s Kleine überall ihre Liebhaber und Pfleger fand. Der Umstand, dass in den damaligen Klöstern und ihren Unterrichtsanstalten vorzugsweise Musik getrieben wurde, mag wohl das Meiste hierzu beigetragen haben; denn selten kam ein Studierter von dort zurück, ohne wenigstens einige musikalische Bildung ins praktische Leben mitzubringen; daher nicht leicht ein kleines Städtlein gefunden wurde, wo nicht geistliche und weltliche Beamte in mancherlei Weise bei Kirchenmusiken, oder bei Unterrichte der Jugend sich thätig gezeigt hätten. Auch bei den Schullehrern wurde hauptsächlich nur auf musikalische Befähigung gesehen; eine gute Singstimme bei einiger Fertigkeit im Lesen und Schreiben genügte oft allein schon bei Bewerbungen um eine Stelle, den Ausschlag zu geben. „Vorsersamst“, hieß es gewöhnlich in der Dienstausschreibung, „solle er (der Schulmeister) eines gesitteten Lebenswandels sein, gut schreiben, lesen und rechnen, die Orgel schlagen, geigen und Baßsingen, auch wo möglich die blasenden Instrumente behandeln können.“
Zu allem diesen hatte das bürgerliche Leben noch mehr konservative Zähigkeit. Ein Gewerbe, eine Fertigkeit oder Kunst erbten sich nicht selten von dem Vater auf den Sohn durch mehrere Generationen fort. War zum Beispiel der Großvater Zeug- oder Schuhmacher ein fertiger Geiger, so war es gewiss nicht minder auch der Sohn und der Enkel. Und so konnte es kommen, dass in einem lange heimischen Fache zuweilen ein Talent hervortrat, welches über das Gewöhnliche hinausging.
Ein weitere Anregung und Förderung für strebende Jüngere war, um von unserer Gegend allein zu sprechen, stets auch der fürstlich fürstenbergische Hof. – In der Zeit, von der hier die Rede ist, war es insbesondere die Fürstin Maria Antonie, welche durch Pflege der schönen Künste ein heiteres, genussreiches Leben um sich schuf. Unter ihrem Mäcenate war in Donaueschingen ein Hoftheater erbaut worden, wo durch eigene, so wie aus der Ferne herberufene Kräfte viele jener Zeit entsproßte Meisterwerke dramatischer Kunst zur Aufführung kamen. Vor allem war die ewig schönen Produkte des heiteren, lebensfrischen Mozart, welche mit Sorgfalt und Liebe einstudiert, auf der neuen Bühne gegeben wurden; und der Eindruck, den diese Leistungen auf die größten Teil des Publikums hervorbrachten, mußte umso größer sein, je weniger man gewohnt war, je etwas derartiges hören und zu sehen. Vergünstigt durch die damaligen tiefen Friedenszeiten hatte die Kunst in ihrem gemeinsamen Aufschwung noch etwas Jugendliches, Frisches, was selbst durch die nachfolgenden Kriegswetter nicht ganz verkümmert werden konnte.
Man wird nun gerne zugeben, dass all dieses ein Element gebildet habe, worin eine junge Pflanze einige Nahrung und einigen Halt finden mochte. – Von diesen allgemeinen Umrissen zum Einzelnen übergehend, finden wir die Vorälteren Schelble’s* seit frühesten Zeiten als Bürger des fürstenbergischen Städtlein Hüfingen. Der Großvater, sowie der Urgroßvater trieben das kunstverwandte Handwerk der Faßmalerei, ein Gewerbe, welches heutzutage teilweise unsere Vergolder ausüben. Nebenbei versahren diese Männer noch den Kanzleidienst beim dortigen fürstlichen Justizamte, und als Lieblingsbeschäftigung trieben sie Musik. Stets fanden sie sich unter denen, welche in der Pfarrkirche des Ortes als leidliche Dilettanten mitwirkten und zwar als Violinspieler. *Die ältere Schreibweise des Namens Schelblin.
Dieser letztere Fertigkeit war auch ein Erbschaft des Vaters unseres Schelble. Das Kunstgewerbe, die Faßmalerei, wiewohl er von Jugend auf darin unterrichtet war, behagte eben nicht sonderlich. Sein Sinn ging mehr auf Musik, Mechanik und Rechenkünste. Weil aber alles dieses, ohne bestimmten Zweck getrieben, wenig geeignet schien, eine sichere Existenz zu gewähren, so hatte der junge Mann sich entschlossen, Schullehrer zu werden. Er nahm deshalb Unterricht bei dem Normallehrer und Musikpräzeptor Käfer in Donaueschingen, wo er sich nebst Schulwissenschaftlichen Anweisung im Orgel- und Klavierspiel erhielt. Der gänzliche Mangel einer Singstimme jedoch, ohne welche er nie auf bessere Plätze Anspruch gehabt hätte, war es, was den Kandidaten bewog, dem Lehrfache zu entsagen, und sich wieder dem angestammten Haus- und Familiengeschäfte zuzuwenden.
Zur selben Zeit war in dem Städtlein ein Kaplan, Namens Reeser, welcher als Gesanglehrer und Direktor der Kirchenmusik sehr in Ansehen stand. Eine seiner Schülerinnen, die Chorsängerin Katharina Götz, die Tochter eines bemittelten Bauern, zeichnete sich durch eine hübsche Stimme so vorteilhaft aus, dass man ihr von verschiedenen Seiten rieth, in’s Kloster zu gehen, wo damals diese Eigenschaft als Empfehlung gelten konnte. Durch die Erzählung und das Zureden Verwandter und Freunde für das klösterliche Leben im Voraus eingenommen, hatte das 15-jährige Mädchen endlich den Entschluss gefasst, der Welt zu entsagen und in einem nahen Kloster Amtenhausen sich aufnehmen zu lassen. Ein Gleiches wollte eine ihrer Freundinnen thun.
Unter Glück- und Segenswünschen der Ältern hatten die beiden Jungfrauen voll Zuversicht ihre Wanderung dorthin angetreten, um sich vorläufig einer Probezeit und Prüfung im Gesang zu unterziehen, von derem Erfolge ihre Aufnahme in das geistliche Stift abhängig gemacht worden war.
Alles ging nach Wunsch, und die beiden Mädchen wurden mit den besten Versprechungen aus dem Kloster entlassen, nachdem man ihnen den Tag bestimmt hatte, an welchen sie sich wieder anmelden sollten. – Sei es, dass die Abgeschiedenheit, der Zwang und der Ernst des klösterlichen Aufenthaltes auf die jugendlichen, noch von keiner bitteren Erfahrung getäuschten Gemüter ungünstigen Eindruck gemacht, oder dass ihr Entschluss sein ursprünglicher gewesen – genug, die Beiden wandelten schweigend heimwärts; und als sie aus dem engen Tale herausgekommen, in die sommerhelle Landschaft, wo überall im Felde fleißige Hände sich regten und die glänzender Welle die junge Donau floss, während hundertfältige Jubelstimmen aus den grünen Buchenwälder riefen – da wurde es den Himmelsbräuten sonderbar zu Mut. „Katharina““ unterbrach die Eine das bisherige Schweigen, „nicht wahr, wir gehen nicht in’s Kloster!“ Und die Andere, als wäre eine schwere Last von ihrem Herzen, stimmte lebhaft und entschieden bei.
Ohne sich umzusehen, wie sie später noch oft erzählten, hatten die Mädchen den Weg zurückgelegt und als sie heim gekommen, wußten sie den Ihrigen viel von der Abenteuer und dem baaren Gelde zu erzählen, was man als notwendiges Erfordernis zum Eintritt in das Kloster ihnen zur Bedingung gemacht habe.
Unterdessen hatten die Umstände den ehemaligen Schulamtskandidaten Franz Joseph Schelble auf eine Bahn geführt, die mehr seiner angeborenen Neigung zu entsprechen schien. Der junge Mann war nämlich öfters als geübter Klavierstimmer in’s Schloss nach Donaueschingen gerufen worden, wo er manches Neue im Fache des verbesserten Instrumentenbaus sah und hörte, was bei ihm Nachahmung erweckte. Durch natürliches Geschick und eigenes Nachdenken gelang es ihm in kurzer Zeit, Klaviere nach der damals einfachen Bauart herzustellen. Eines dieser Instrumente kam der Fürstin Antonie zu Gesicht, und die hohe Frau schenkte der vaterländischen Arbeit so viel Beifall, dass sie das Werk ankaufte und den Verfertiger ermunterte, auf dem betretenen Weg weiter zu schreiten. Diese und ähnliche Erfolge bewogen den strebsamer Mann seine Versuche zum förmlichen Geschäfte auszudehnen, welches ihm dereinst die Mittel zur Gründung eines eigenen Hausstandes darbieten solle. Dieser Gedanke mochte wohl vor Allem eine Neigung eingegeben haben, welche der Jüngling der hübschen Chorsängerin Katharina Götz zugewendet hatte – ein Verhältniß, welches im Jahr 1787 glücklich zur Heirat gedieh. Die jungen Eheleute bezogen ein eigenes, aus ihren wenigen zusammengebrachten Vermögen erbautes Haus, wo am 16. Mai des Jahres 1789 unser Johann Nepomuk, das zweite Kind ihre Ehe, das Licht der Welt erblickte.
Um dieselbe Zeit war der Dienst eines Verwalters oder Vorstehers des fürstenbergischen Zuchthauses zu Hüfingen in Erledigung gekommen. – Unter dieser Zahl der Bewerber gehörte auch der Instrumentenmacher Franz Josef Schelble. Die Herren Regierungsräte hatten bereits in einer Sitzung einem ihrer Vergünstigten die Stimme gegeben, als der regierende Fürst Joseph Wenzel mit den Worten: „Der Klaviermacher muss die Stelle haben!“ dareinfuhr und der Debatte ein Ende machte.
Auf diese Weise hatte der junge Ehemann einen neuen Wirkungskreis erhalten, der ihn jedoch nicht hinderte, seiner angeborenen Neigung zum mechanischen Arbeiten volles Genüge zu tun. Neben der Verwaltungskanzlei (es wurde damals noch nicht so viel geschrieben und gesandelt wie heut zu Tage) ward bald eine Werkstätte eingerichtet, wo in freien Stunden der Verwalter mit einigen Gesellen dem Klavier und Orgelbau oblag, und dazwischen hinein wohl auch einmal in astronomischen und anderen Uhrwerken sich versuchte. – Das Interesse an diesen Arbeiten war groß, jedenfalls größer als der pekuniäre Vorteil, den sie brachten. Konnte ja doch bei dem erfinderischen Geiste des lebhaften Mannes nicht methodisch durchgeführt werden, nebstdem dass das Amt eines Vorstehers der Strafanstalt bei äußerst kleinem Hilfspersonal seine meiste Zeit in Anspruch nehmen mußte.
Der kleine Sohn zeigte schon im zarten Alter eine unverkennbare Liebe zur Musik. – Das elterliche Haus war zur selben Zeit der Sammelplatz verschiedener Beamten und befreundeten Bürger der kleinen Amtsstadt, wovon die meisten als Lieblingsbeschäftigung etwas Musik trieben und in dem Hause öfters ihre Proben und Übungen abhielten. Es konnte wohl nicht fehlen, dass auch der kleine Johann Nepomuk einige Unterweisung in dieser Kunst erhielt, und zwar durch seinen Vater im Klavierspielen, während andererseits die Mutter und ehemalige Chorsängerin dem Kinde gern ihre Lieder vorsang.
Unter solchen Beschäftigungen waren die Kriegszeiten hereingebrochen, und das geräumige Zuchthaus zu Hüfingen war zu einem österreichischen Spital eingerichtet. Unter den längere Zeit dort Einquartierten befand sich auch ein kaiserlicher Feldpater, welcher auf dem Klaviere nicht geringe Fertigkeit besaß, und mit Vorliebe mozartlische Melodien vortrug. Das Spiel dieses Mannes machte solchen Eindruck auf den 7-jährigen Knaben, dass er oft sagte: Wenn es einmal so weit gebracht haben werde, wie der Herr Feldpater, so wolle er zufrieden sein.
Gleichzeitig mit den Anfangsgründen auf dem Klavier erhielt der Kleine auch Unterricht im Singen, in welcher Kunst Kaplan Eiselin, ein Nachfolger Reeser’s, sein erster Lehrer war. Bei diesem Manne von etwas reizbarem Temperamente hatte jedoch der Schüler wenig gute Stunden. Abgesehen davon, dass der Unterricht nach sehr pedantischer Methode gegeben wurde, hatten die Zöglinge von dem ungeduldigen Wesen ihres Instruktors gar manche Unannehmlichkeiten zu erdulden. So wie es zum Beispiel für den aufmerksamen Beobachter gewisse Zeichen in der Luft gibt, woraus die bevorstehenden Erscheinungen der Atmosphäre zu erraten sind, ähnlich so kommen die Kinder schon aus dem Äußeren des geistlichen Herrn den Humor und die Stimmung ihres Lehrers prophezeien. War nämlich in der Morgenstunde seine Garderobe wohlgeordnet, die Hasrtour glatt und das Zopflein sorgfältig gewickelt, so durfte man mit Gewissheit einen wolkenfreien Tag verhoffen; zeigte sich aber das Gegenteil, so wußten die Untergebenen, dass es heute nicht ohne Sturm und Unwetter abgehen werde.
Der sanftmütige Knabe Schelble stand aber noch im besonderen Ungunst des Lehrers, denn je mehr Fortschritte der talentvolle Kleine machte, desto mehr glaubte jener eine Entmutigung seiner übrigen, meist älteren Schüler daraus erwachsen zu sehen. Die Ungnade des Instruktors ging zuletzt in offene Vernachlässigung über, die bald damit endete, dass der Schüler unter dem Vorwande, es gebreche ihm am Talent, ganz von dem Unterricht ausgeschlossen wurde. Ein Freund des Schelble’schen Hauses und nicht ungeschickter Organist und Klavierspieler, der Amtskanzlist Schlosser, nahm sich jedoch des Ausgewiesenen an, und setzte den musikalischen Unterricht mit ihm fort. Der Zögling machte seinem Lehrer alle Ehre, und nicht lange so wurde der Kleine ausersehen, bei einer Festvorstellung, welche der Rückkehr des, wegen Kriegsunruhen geflüchteten fürstlichen Hofes galt, im Hoftheater zu Donaueschingen die Begrüßungsarie zu singen. Der kindliche Versuch fand beifällige Beachtung, und der Fürst Karl Joachim belohnte den kleinen Sänger mit einem Goldstücke.
Schmeichelhaft und gerechtfertigt durch diese Erfolge, machte jetzt Freund Schlosser den Ältern den Antrag: dem Sohne zu seinem Freiplatz im Kloster Obermarchtal, wo er einen Freund hatte, verhelfen zu wollen. Das Anerbieten wurde dankbar angenommen, und die nötigen Schritte wurden getan und der Knabe erhielt die Zulassung.
Jenes geistliche Reichsstift war seinerzeit eines der bedeutendsten Klöster des schwäbischen Oberlandes; seine weitläufigen, nahe der Donau gelegenen Gebäulichkeiten beherbergten ausgedehnte Unterrichtsanstalten. Vater Ulrich Braig, Direktor der Chormusik, war der Freund, an welchen Schlosser seinen Schützling empfohlen hatte. Und wahrlich es bedurfte eines väterlichen Freundes und Führers, sollte der 11-jährige Chorknabe in dieser ungewohnten, großen Umgebung nicht mutlos und kleinmütig werden. – In musikalischer Beziehung jedoch fand der Schüler nicht, was er erhofft hatte. Der Unterricht, in einer geistlos pedantischen Methode gegeben, konnte ihn nur wenig frommen. Doch sollte das jugendlich empfängliche Gemüt auch hier nicht ganz leer ausgehen; wenn nämlich die Mönche nachts im Chore der hehren Klosterkirche sich versammelten, um begleitet von dem herrlichen Orgelspiel des damals berühmten Contrapunktisten Sirt Bachmann, die Psalmen anzustimmen, da sei es, nach Schelble’s eigenem Zeugnisse, diese Musik gewesen, welche einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht habe.
Ein freudiges Ereignis war dem Chorknaben der Besuch seiner älteren Schwester, die mit einem alten Diener der Hüfinger Strafanstalt und dessen Weibe, welche in der Nähe zu Hause war, die Reise nach Marchthal gemacht hatte. Der Alte brachte seinem kleinen Liebling zum Willkomm einen buntfarbigen Spielball, den eine in Zuchthause sitzende Vaganten eigens zu diesem Zwecke hatte fertigen müssen. – Da konnte wohl das Sprichwort Anwendung finden: Es ist ein kleines worüber sich Kinder freuen!
Der Aufenthalt in dem Stifte war nur von kurzer Dauer; denn schon nach zwei Jahren zog die allgemein ausgesprochene Sävularition der Reichsklöster auch diesem Institute seine Auflösung zu, und Schelble war genötigt, wiederum ins Vaterhaus zurückzukehren.
Es war zur Winterszeit und außerordentlich kalt; der mit Winterkleidern nicht hinlänglich versorgte Sängerknabe erkältete sich auf dem offenen Fuhrwerke, welches ihn mit einem jüngeren Landsmann in die Heimat bringen sollte, dermaßen, dass er bei seiner Ankunft, eher noch das entfernt liegende elterliche Haus erreichen konnte, bei einem Onkel unter- und zu Bette gebracht werden mußte.
Sein Verweilen im Heimathause fiel in die Epoche, wo seine Stimme zu wechseln begann, weshalb alle Muße allein nur auf das Klavierspielen verwendet wurde. – Eines Tages spielte Schelble für sich allein mehrere Klavierstücke durch, als er plötzlich durch den Zuruf: „Bravo – aber im Bass geht es zu stark“, unterbrochen und überrascht wurde. Es war ein alter fürstenbergischer Soldat, welcher zum offenen Fenster herein (das Zimmer lag zu ebener Erde) den Spieler belauschte und also kritisiert hatte.
Schelble, über die sonderbare Bemerkung betroffen, fand nach einigem Nachdenken, dass der alte Kriegsmann mit seinem Tadel ganz Unrecht nicht habe, und verwendete, wie er später erzählte, seitdem mehr Aufmerksamkeit auf das Spiel der linken Hand.
Um diese Zeit las der junge, sich selbst überlassene Musiker zufällig einen Auszug einer damals erscheinenden Zeitschrift von Forckel: „Über Sebastian Bach’s Leben und Kunstwerke“, worin unter Anderem auseinander gesetzt ward, nach welchen Grundsätzen Bach die Mechanik des Klavierspiels angewendet und geübt habe. Schelble bekannte, dass ihm diese Andeutungen von nun an als goldene Regel gegolten, die er bei seinem ferneren Studium zur Richtschnur genommen habe.
Als humoristische Beigabe zu dieser ernsteren Beschäftigung mochte wohl der Jüngling seine Tätigkeit bei der städtischen Musikbande betrachten, welches Korps den Zweck hatte, bei kirchlichen Festen und Aufzüge verschönert mitzuwirken. Als Mitglied dieser geziemend uniformierten Truppe hatte Schelble die Ehre, das Picolo zu spielen, auf welchem Instrumente der junge Mann bedeutend Virtuosität besessen haben soll.
Bei all diesem Treiben jedoch war nicht wohl abzusehen, wie Musik allein ihrem Jünger eine solide haltbare Existenz für die Zukunft schaffen werde. Den Ältern wenigstens erschien die Kunst ein allzu unsicherer Boden, weshalb sie den Entschluss faßten, den Sohn das Gymnasium in Donaueschingen besuchen zu lassen, wo er die in Marchtal angefangenen Sprach- und auch anderen Studien fortsetzen und nebenher bei dem fürstlichen Kammersänger und Expeditor Weiß, der ein Schüler des berühmten Raff in München war, Unterricht in Gesang nehmen sollte.
Seine Stimme hatte sich unterdessen wieder gehoben und er suchte sie nach der strengen, wenn auch etwas einseitigen Methode dieses Lehrers eifrig auszubilden. Es war dies der erste gründliche Unterricht der ihm zuteil wurde, und hatte nicht wenig Einfluss auf die erste Richtung, welche Schelble fortan hielt. – Der Aufenthalt in Donaueschingen gab dem talentvollen Schüler öfters Gelegenheit, bei Hofmusiken und Konzerten, so wie auch im Hoftheater sich hören zu lassen. Und hier war er es, wo dem 16-jährigen Sänger einst bei der Aufführung der Oper: „die beiden Savoiarden“, eine anmutige, zarte Huldigung zuteil wurde, und zwar von Seiten einer durch Vorzüge des Geistes und Herzens gleich ausgezeichneten jugendlichen Fürstentochter, die, einen passenden Augenblick wahrnehmend, dem Sänger nach geendigtem Spiele das seidene Tuch zuwarf, welches ihr in der Rolle eines Savojardenknaben zur Augenbinde gedient.
Je mehr aber der Jüngling in seiner Kunst sich hervortat und Beifall gewann, desto eifriger ließ sich der Vater angelegen sein, dem Musenfache einen praktischen soliden Boden unterzubereiten. Er hatte deshalb Schritte gethan, seinem Sohne eine Stelle im fürstlichen Hauptarchive zu Donaueschingen zu verschaffen, und schon war eine provisorische Anstellung mit einem kleinen jährlichen Gehalte verwilligt, als Schelble erklärte, unter jeder Bedingung seinem ursprünglichen Berufe getreu bleiben zu wollen, und durch nichts sich binden zu lassen, was ihn von der einmal beschrittenen Bahn ablenken könne. Ja er stellte sogar den Eltern ein heimliches Entweichen aus der Heimat in Aussicht, wenn es ihm nicht gelingen solle, auf gütlichem Wege abzukommen. Denn längst schon hatte er seinen Blick weiter gerichtet, nach einem Orte, wo ihm eine höhere Stufe musikalischer Bildung werden konnte.
Er hatte den Plan gefasst, nach Darmstadt zu gehen, wo damals der berühmte Abbé Vogler lebte. Teilnehmende Freunde unter diesen besonders der fürstliche Hofrat und Leibarzt Rehman und seine Gattin, hatten ihm dazu geraten. Er wollte den Weg über Hechingen nehmen, wo einer seiner früheren Gönner, der ehemals fürstenbergische Musik- und Rittermeister von Hampeln, an der Hofkapelle angestellt war. Von dort gedachte er Stuttgart zu besuchen, wo ihm die Landsleute Krebs der Kammersänger und der Galeriedirektor Seele nützlich sein konnten. –
An Ersteren wies ihn ein Empfehlungsbrief von seinem Lehrer Weiß, obwohl dieser den talentvollen jungen Mann lieber bei sich behalten hätte, und ihm deshalb bereits ein kleines Gehalt als Sänger in Donaueschingen ausgemittelt hatte. Bei Seele konnte die Bekanntschaft der beiderseitigen Eltern als Anlass des Besuches gelten.
Also ausgerüstet verließ Scheble im Jahre 1807 Donaueschingen und die Vaterstadt. Über die Reise und seine Ankunft in Stuttgart berichtet ein vorhandener Brief, den wir hier einschalten wollen.
Conradin Kreutzer
22. November 1780 in der Thalmühle bei Meßkirch im Fürstentum Fürstenberg – 14. Dezember 1849 in Riga.
Conradin Kreutzer von Auguste Hüssener Quelle: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France
Johann Baptist Krebs
Brustporträt des jungen Opernsängers Johann Baptist Krebs gefertigt durch Friedrich Fleischmann aus Nürnberg in Kupfer auf Papier. Abbildung: Porträtsammlung Friedrich Nicolas Manskopf der Universitätsbibliothek der Johann-Wolfgang-Goethe- Universität Frankfurt am Main.
Über Johann Baptist Krebs (12. April 1774 – 15. September 1851) gibt es von Josef Vogt in den Schriften der Baar Band 63 (2020) den Artikel: Vom Taglöhnersohn aus Überauchen zum Opernstar und Logenmeister in Stuttgart:
Begegnung mit Johann Nepomuk Schelble aus Hüfingen Als Johann Nepomuk Schelble am 16. Mai 1789 in Hüfingen geboren wurde, war Johann Baptist Krebs bereits 15 Jahre alt und hatte schon regen Kontakt nach Donaueschingen. Möglicherweise waren es zwei Umstände, die den Hüfinger Schelble und den aus Überauchen stammenden Krebs zusammenführten. Wie Krebs wurde auch Schelble durch den Donaueschinger Hofmusiker Franz Xaver Weiß geformt und hatte seine ersten Auftritte am dortigen Hoftheater. Als er im Alter von 18 Jahren durch die Vermittlung des in Hüfingen aufgewachsenen, beim Herzog und späteren König Friedrich I. als Hofmaler tätigen Johann Baptist Seele(1774–1814) 1807 nach Stuttgart kam, begegnete er dem zu dieser Zeit schon über 10 Jahre an der dortigen königlichen Oper tätigen Krebs. Offensichtlich verstanden sich die beiden von der Baar stammenden Musiker auf Anhieb. Krebs arrangierte ein Vorsingen vor dem König, der Schelble daraufhin sogleich als Hofsänger einstellte. Obwohl Schelble nur sieben Jahre in Stuttgart weilte, bevor er 1814 nach Wien weiterzog, entwickelte sich zwischen Krebs und Schelble eine fruchtbare Zusammenarbeit. So wissen wir, dass Schelble eine wichtige Aufgabe in dem von Krebs 1811 gegründete Musikinstitut am Waisenhaus übernahm, in dem er nach den Grundsätzen des Reformpädagogen Pestalozzi Jungen und Mädchen für den Einsatz an der Hofoper im Musizieren, Tanz und Schau- spiel unterrichtete. Erhalten aus der künstlerischen Zusammenarbeit von Krebs und Schelble ist uns die am 2. Februar 1813 in Stuttgart uraufgeführte Oper in drei Akten „Graf Adelbert“, zu der Krebs das Libretto und Schelble die Musik geschrieben hat.
Das alte Königliche Hoftheater in Stuttgart Stich von Ernst Friedrich Grünewald und William John Cooke nach einer Zeichnung von Friedrich Keller um 1840 Landesbildstelle Stuttgart. Foto: Wikimedia
Katharina Götz
Katharina Schelble geb. Götz (01.11.1760-04.04.1847), war die Mutter von Johann Nepomuk Schelble (16. Mai 1789 – 7. August 1837) und Maria Josefa Reich (18. März 1788 -12. November 1866).
Katharina Schelble geb. Götz (01.11.1760-04.04.1847) gemalt von Luzian Reich (senior), ihrem Schwiegersohn im Jahre 1829.
Die jungen Eheleute bezogen ein eigenes aus ihrem wenigen zusammengebrachten Vermögen erbautes Haus, wo am 16. Mai des Jahres 1789 unser Johann Nepomuk, das zweite Kind ihrer Ehe, das Licht der Welt erblickte.
Franz Joseph Schelble
Franz Joseph Donat Schelble (17.02.1762-13.02.1835) wird hier von Lucian Reich als Instrumentenbauer bezeichnet. Er hatte zusammen mit Katharina Götz 14 Kinder.
Maria Antonia Anna von Hohenzollern-Hechingen
10. November 1760 – 25. Juli 1797.
Maria Antonia von Hohenzollern-Hechingen, Fürstin zu Fürstenberg, im Jagdkostüm und mit Gewehr. Gemälde vom FF Hofmaler Franz Joseph Weiß (*15.02.1735 Hüfingen – 14.06.1790 Donaueschingen)
Hoftheater
Das Hoftheater in Donaueschingen war ein Theater der Fürsten zu Fürstenberg, das 1774 in der ehemaligen Reitschule errichtet wurde und am 28. April 1850 abbrannte und daraufhin nicht wieder aufgebaut wurde. Bis dahin wurden Schauspiele und Opern aufgeführt, unter anderem unter der Leitung der Hofkapellmeister Conradin Kreutzer und Johann Wenzel Kalliwoda. (Zu den Anfängen einer „Donaueschinger Musik“ von Hugo Siefert in den Schriften der Baar 69 (2016))
Hoftheater in der ehemaligen Reitschule DonaueschingenFotos: Netzfund
Der Fürst Joseph Wenzel Johann Nepomuk starb am 2. Juni 1783 in Donaueschingen. Sein Sohn war Joseph Maria Benedikt Karl Fürst zu Fürstenberg (9. Januar 1758 – 24. Juni 1796), verheiratet mit Maria Antonia Anna von Hohenzollern-Hechingen. Von daher muss der damals „regierende Fürst“ Joseph Maria gewesen sein.
Porträt des Joseph Maria Benedikt von Fürstenberg Foto: Unidentified painter, Public domain, via Wikimedia Commons
Wie sein Vater, Joseph Wenzel, war auch Joseph Maria ein Musikliebhaber – er selbst wird als „talentvoller Klavierspieler“ und seine Ehefrau, Maria Antonie, als „ausgezeichnete Sopranistin“ geschildert. Das Fürstenpaar pflegte die vom Vater angeknüpfte Beziehung zu Vater und Sohn Mozart. 1784 wurde die bisherige Hofreitschule in Donaueschingen zu einem Hoftheater mit über 500 Plätzen umgebaut, wo auch Mozart-Opern aufgeführt wurden. (nach Wikipedia)
Zucht- und Arbeitshaus Hüfingen
Nach dem Kreistagsbericht vom 25.Juli 1715 sollte das Donaueschinger Zucht- und Arbeitshaus zur Aufnahme von mindestens 300 Personen dienen; auch “arme Kinder und Waisen, alte unkräftige Leute, Tolle und Irrsinnige sollten Aufnahme finden, dagegen nicht eigentlich Zigeuner, die den Venetianern ad triremes zu überlassen waren”. (*)
Nach 9-jährige Bauzeit wurde am 7. Oktober 1758 der Bau und die Einrichtung fertig und am 16. Mai 1759 ergeht ein Erlaß an sämtliche Oberämter mit der Anfrage, ob Züchtlinge oder Kinder einzuweisen seien. Am 23. Januar 1790 wurde Franz Joseph Schelble Zuchtmeister. Er war der letzte fürstenbergische Zuchthausverwalter und wurde 1808 in badischen Dienst übernommen. (*)
Am 27. Juli 1809 wurde das Zuchthaus in ein Korrektionshaus umgewandelt und zum Korrektionshausverwalter wurde Zuchtmeister Schelble ernannt.
Alle nach badischen Kriminalgesetzten Verurteilten wurden nach Freiburg abtransportiert. Das Korrektionshaus wurde 1828 aufgehoben. Schelble starb mit 78 Jahren am 13. Februar 1835 und seine Ehefrau Katharina geb. Götz am 4. April 1847 mit 87 Jahren. (*)
1850 diente das Gebäude eine Zeitlang als Kaserne, 1853 als Fürsorgeerziehungsanstalt, die nach dem in der Nacht vom 22./23. März 1853 abgebrannten Kloster in Neudingen den Namen Mariahof führt und seither katholische schulpflichtige Knaben beherbergte.
Postkarten aus der Sammlung Dieter Friedt, Hüfingen
Das Bauwerk wurde 1972 abgerissen.
*Aus den Schriften der Baar 17 (1928), Dr. F. Wangener: Aus der Geschichte des Zucht- und Arbeitshauses in Hüfingen
Johann Nepomuk Schelble
Johann Nepomuk Schelble (16.05.1789-06.08.1837) hatte also 12 jünger Geschwister und eine ältere Schwester, Maria Josefa (19.03.1788-12.11.1866). Maria Josefa heiratete Luzian Reich (senior) und war die Mutter von Lucian Reich (der Jüngere). Lucian Reich und Johann Nepomuk Schelbe waren also Neffe und Onkel.
Im Jahre 1800 trat Johann Schelble als Chorknabe in das Kloster Marchtal ein wo er wissenschaftlichen und musikalischen Unterricht erhielt. Als das Kloster 1803 aufgehoben wurde, kehrte er zu seiner Familie nach Hüfingen zurück. In der Stadtmusik Hüfingen spiele er Piccoloflöte und besuchte die Schule in Donaueschingen, wo er an dem kunstliebenden Fürsten von Fürstenberg einen Beschützer fand.
Fahnenmarsch mit Piccoloflöte von 1819. Datei erstellt durch Loris Gerber, Public domain, via Wikimedia Commons
Édouard Manet „Der Pfeifer“ von 1866 Foto: Édouard Manet, Public domain, via Wikimedia Commons
Johann Nepomuk Schelble Quelle: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France
Also ausgerüstet verließ Schelble im Jahr 1807 Donaueschingen und die Vaterstadt. Über die Reise und seine Ankunft in Stuttgart berichtet ein vorhandener Brief, den wir hier einschalten wollen.
Das Buch habe ich hier 2021 veröffentlicht. Allerdings veraltet auch eine Webpage ziemlich schnell und die nächsten Monate möchte ich die einzelnen Kapitel aktualisieren. Deswegen werde ich jedes aktuelle Kapitel wieder nach vorne kramen. Das alte Buch mit der sehr eigenwilligen Schreibweise in Frakturschrift hatte ich damals vorgelesen, um den gesprochenen Text von einem Programm namens f4transkript in Buchstaben umzuwandeln. Den umgewandelten Text habe ich danach bearbeitet, da viele der Wörter dem Programm nicht bekannt waren. Aus diesen Gründen ist der Text ein Gemisch aus alter und neuer Schreibweise. Was es in den verschiedenen Kapiteln des Buches gibt, ist diese vorgelesene Tonspur mit dem Transkript in schwarz.
Mit emsigen Zügen er staffiert, Was öfters in der Welt passiert; Zog seinen Umriß leicht und klar, Man konnte seh’n, was gemeint da war. Mit wenig Farben er colorirt, Doch so, daß er das Aug‘ frappirt.
Johann Wolfgang von Goethe Künstlers Fug und Recht
Aus dem Bereiche der Kunst.
Es ist wohl nicht mehr als billig, dass in dem Gedenkbuche eines Malers auch einmal von der Kunst die Rede ist. – Gelegenheit zu einem Streifzug in dieses Gebiet geben uns die fürstlichen Sammlungen im Schlosse zu Hüfingen.
Nebst sehr reichhaltigen naturhistorischen Schätzen enthält nämlich dieses Gebäude in neuerer Zeit auch die wertvolle fürstliche fürstenbergische Gemäldesammlung, die insbesondere vorzügliches aus der altdeutschen Schule aufzuweisen hat. Nebst diesen sollen nach dem Willen des hohen Stifters, später auch noch Sculpturwerke aus der genannten Kunstepoche beigegeben werden, was umso bedankenswerter erscheint, als bisher dieser schöne Zweig mittelalterlicher Kunst in unseren Galerien und Museen gänzlich unberücksichtigt geblieben*. *Bei dieser Gelegenheit möge das dilettantische Bestreben mancher Neuen erwähnt werden, die sich abmühen, eine Rangordnung der schönen Künste zu octroieren. Bald nämlich sehen wir Bildhauerei die unterste, Malerei und Musik die mittlere, Dichtkunst dagegen die höchste Stufe, oder umgekehrt, auf der geistreich gezimmerten Leiter einnehmen. Und doch sind ja alle Künste Teil einer Kunst, einer Poesie, und alle gleich befähigt, das Beste hervorzubringen.
Ohne uns bei dem vielen trefflichen Alten zu verweilen, wenden wir unsere Aufmerksamkeit einem neueren vaterländischen Künstler zu, der zwar im Allgemeinen wenig bekannt, nichts desto weniger aber mit Ehren seinen Platz einnimmt auf dem wohlbebauten Felde deutscher Kunst. Es ist dieses der Maler Johann Baptist Seele, geboren in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts im Fürstenbergischen, gestorben im Jahre 1814 zu Stuttgart, wo er die Stelle eines königlichen Galeriedirektors bekleidete.
Die fürstliche Sammlung bewahrt von ihm neun kleinere und zwei größere Gemälde, die sämtlich mit großer Lebendigkeit und Treue gegebene Scenen aus dem Soldatenleben zum Gegenstande haben. Im Kampfe, beim nächtlichen Wachtfeuer, in der Schenke wie beim Spielgelage sehen wir österreichisches und französisches Volk, wie es die neunziger und späteren Jahre an die Ufer des kriegsbewegten Rheins geführt, in charakteristischer Auffassung vor uns. Lebhaft fühlt sich der Beschauer in jene Zeit versetzt; der Mann gereiftteren Alters glaubt sie wieder zu erleben, während die Jüngeren die Erzählungen der Älteren und Großältern wiederklingen.
Unstreitig hat der Künstler in diesen Arbeiten ganz seinem angeborenen Talente Genüge getan, und darum so Erquickliches geliefert; während spätere und größere Arbeiten dagegen vielleicht etwas zu viel Akademie und Antike zeigen, was übrigens mehr der damaligen Richtung überhaupt, als dem Künstler zugeschrieben werden muss. Die Technik der seele’schen Bilder, (die, beiläufig gesagt, in ihrer Anspruchslosigkeit mir schätzenswerter vorkommen, als manch‘ heut zu Tag so sehr gepriesenes Dutzend in unseren ambulanten Kunstvereinsausstellungen) ist, wenn auch nicht bis auf’s Äußerste getrieben, doch stets ihrem Gegenstande vollkommen angemessen.
Seele hat in einer eigenhändigen Schrift uns seine Lebensgeschichte hinterlassen, die, trotz ihrer Einfachheit, sehr viel Interessantes enthält; um so mehr, als es nicht die allgewöhnlichen Studienwege sind, die das Geschick dem strebenden Jünglinge nach seinem vorgestreckten Ziele angewiesen, und vielleicht zu seinem Glücke. Denn wer weiß, ob er im entgegengesetzten Falle nicht vielmehr seine angeborene Individualität eingebüßt und durch Phrasen und akademische Regeln in ein Feld geführt worden wäre, welches seinem Naturelle fremd gewesen. – Doch wenden wir uns zur Biographie selbst.
Theurester Onkel!
Sie verlangen von mir eine kleine Skizze meines Lebens. – Wie gerne möchte ich Ihnen willfahren, allein, ich fühlte es, mein Leben ist so arm an interessanten Erlebnissen, dass es sich wohl kaum der Mühe lohnen wird, eine schriftliche Schilderung davon zu geben.
Obwohl mir die Erinnerung Manches vergegenwärtigt, was für mich von größtem Werthe ist, so glaube ich dennoch zu finden, dass Solches für Andere wenig oder gar kein Interesse bieten möchte. – Doch, lieber Onkel, Sie gehören ja nicht zu diesen Aderen, Fremden, Sie liebten mich von jeher väterlich, und deshalb hat mich jedes Ding, was entfernt nur Bezug auf mich hat, einiges Interesse für Sie. Und in dieser Voraussetzung will ich versuchen, Ihrem Verlangen zu entsprechen und einen kurzen Abriss meines Lebens zu entwerfen – so gut nämlich wie ein solcher nach Umfluß so vieler Jahre noch gegeben werden kann.
Im Jahre 1774 wurde ich zu Mößkirch, einem kleinen Städtlein im Fürstenbergischen geboren. Mein Vater war dazumal gemeiner Soldat im schwäbisch fürstenbergischen Kreiskontingent. Ich zählte noch nicht volle zwei Jahre, als er nach Hüfingen versetzt wurde, wohin er Frau und Kinder mitnahm.
Meine Mutter war von Natur eine sanftmütige, liebreiche Frau, der Vater hingegen ein strenger Mann von unbeugsamen, soldatischen Willen, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, seine Kinder so gut, wie es die Verhältnisse erlaubten, zu etwas Besserem heranzuziehen. Ich hatte noch eine zwei Jahre älteren Bruder. Unsere Erziehung war eine äußerst strenge. Bevor ich eine öffentliche Schule besuchen konnte, besaß ich, durch den Vater unterrichtet, bereits einige Fertigkeiten im Lesen und Schreiben.
Weil aber der Dienst meines Vaters (er war unterdessen zum Corporal avanciert) ein sehr beschwerlicher war, so hatte er nicht mehr Zeit, sich mit unserem Unterrichte viel abzugeben, und sorgte dafür, dass wir die Bürgerschule besuchen durften. Etwa ein Jahr nachher wurden wir Beide, der Bruder und ich, von einer hartnäckigen Kinderkrankheit überfallen, die besonders mich, den sechsjährigen Knaben, zwang, längere Zeit dass Bett und die Stube zu hüten. Da bei diesem Übel der Kopf und also auch die Geisteskräfte ungeschwächt und frei waren, verbrachte ich die meiste Zeit mit Lesen und Schreiben, und zuletzt fing ich aus Langerweile das Zeichnen an.
Mit dieser Beschäftigung fing für mich sozusagen ein neues Leben an. So entwickelte sich in mir ein Talent, ein Trieb zu einer Kunst, an welche bisher niemand in meiner Umgebung entfernt gedacht hatte.
Wenn das Interesse der Kinder am Zeichnen und Kolorieren auch nichts Außergewöhnliches ist, so finden wir doch in der Regel, dass solche an Allem, was sie derartiges hervorbringen, ein gewisses selbst genügsames Wohlgefallen haben; dies war aber bei mir keineswegs der Fall. Ich strebte mühsam weiter und brachte es bald dahin, meinen Gestalten bestimmte Formen zu geben, so dass man zum Beispiel unschwer ein Pferd von einem Esel unterscheiden konnte.
Die Hilfsmittel zu diesen Beschäftigung war natürlich gering. Mein Vater, der lediglich auf seinen Sold beschränkt war, konnte auch mit dem besten Willen wenig tun; denn, um nur das Nötigste für die Haushaltung beizuschaffen, mußte stets die Mutter noch durch Handarbeiten für Andere sich etwas verdienen suchen. Der junge Künstler aber wusste sich zu helfen. – Aus den Haaren, die ich meiner guten Mutter abschnitt und den abgenutzte Federkiel band, fertigte ich mir Pinsel; Tinte und Ziegelstaub, mit welch‘ letzterem mein Vater seine Waffen zu putzen pflegte, waren meine Farben, und damit ja die Scala recht vollständig wurde, brachte mir die Mutter zuweilen noch Ochsengalle vom Metzger, die ich statt des Okers benützte.
So ausgerüstet, wagte ich mich endlich an Arbeiten für den Verkauf. Ich malte sogenannte Agathenzedel, wie man sie häufig im katholisch Schwaben an den Haus- und Stalltüren angeheftet findet, um den Hexen den Eingang zu wehren. Ich zierte diese Zedel mit allerlei Laubwerk und Schnörkeln, ja sogar die heilige Agatha selbst versuchte ich im wohlgelungenen Bildnisse hin und wieder anzubringen, während mein Bruder, der eine sehr schöne Hand schrieb, die Inschriften beisetzte.
Nach unserer beiderseits erfolgten Genesung mußten wir, nach dem Willen des Vaters, die Normalschule zu Donaueschingen besuchen. Da wir wohl drei Viertelstunden Wegs dahin hatten, folglich über Mittag nicht nach Hause kommen konnten, so versah uns die gute Mutter jedes Mal mit einem tüchtigen Stück Brot, segnete uns und entließ uns mit unseren Schulbüchern auf dem Rücken. Also ausgerüstet und begleitet von dem teuren Muttersegen, trollten wir alltäglich zur Schule; und nach derselben genossen wir unsere mitgegebenes frugales Mahl fröhlich und guter Dinge im Freien.
Zur Winterszeit jedoch ging dieses nicht wohl an, weshalb uns der Vater in der Stadt um eine Mittagsherberge schaute, allwo die beiden fahrenden Schüler ihr mitgebrachtes Essen (die Mutter hatte uns später noch etwas Mehlspeise und ein Bröcklein Butter in einer Schachtel mitgegeben) gewärmt bekamen. – Bald aber erschien die Zugabe dem sparsamen Vater zu teuer, und wir mußten uns wieder mit trockenem Brot begnügen, welches wir statt in dem befreundeten Hause, in der Schulstube verzehrten.
In den Nebenstunden war Zeichnen mein fast ausschließlicher Zeitvertreib; denn unser Vater duldete nicht, dass wir die freien Stunden mit anderen Kindern auf der Gasse zubringen durften. Doch mithilfe der nachsichtigen Mutter wurde nicht selten sein strenges Machtgebot umgangen.
Ich war unterdessen in meiner Kunst etwas vorwärtsgeschritten, so dass ich versuchte, Soldatengruppen nach den Erzählungen meines Vaters, welche den 7-jährigen Krieg mitgemacht hatte, darzustellen. – Eine dieser Zeichnungen nahm der Vater einst mit sich nach Donaueschingen auf die dortige Wachstube, um sie seinen Kameraden zu zeigen. Zufällig kam das Machwerk auch den wachhabenden Offizier, einem gewissen Leutnant Consoni zu Gesicht. Und dieser Mann hat so viel Gefallen an dem kindischen Versuche, dass er meinem Vater ein Achtgroschenstück schenkte, mit dem Bedeuten: seinem Sohne dafür eine Farbenschachtel zu kaufen. – Wer war nun glücklicher als ich? Der Besitz dieses kostbaren Materials verdoppelte meinen Eifer und mit ihm wuchsen auch die Fortschritte.
Längst schon hatte die gute Mutter, aufgemuntert durch wohlmeinende Freunde, den Gedanken gefaßt, sich mit ihren beiden Söhnen dem damals regierenden Fürsten Joseph Wenzel, der ein guter, alter Herr war, vorstellen zu lassen; ebenso auch der Frau Erbprinzessin Maria Antonie, einer geborenen Prinzessin von Hohenzollern-Hechingen. Wir mußten Proben unserer Geschicklichkeit mitnehmen, und hatten das Glück, sehr gnädig aufgenommen und jeder mit einem Kronenthaler beschenkt zu werden.
Dieser erste Erfolg hatte mich mit Neuer Zuversicht erfüllt, und auch der Vater fühlte sich dadurch sehr geschmeichelt.
Die untertänige Aufwartung bei den hohen Herrschaften wurde von Zeit zu Zeit wiederholt; und jedes Mal hatte mich derselben Aufmunterung und Unterstützung zu erfreuen.
Unterdessen starb der gute Fürst, und der Gemahl meiner hohen Gönnerin, der Frau Erbprinzessin, kam an die Regierung. Die Fürstin war eine Dame von seltenem Verstand und ausgezeichneter Herzensgüte. Meine Mutter stand bei ihr in besonderer Gunst, weshalb die hohe Frau sich bewogen fühlte, ihr eine Gnade zu erzeigen.
Mein Bruder, ein hübscher, rotwangiger Junge, war bereits zehn Jahre alt; die fürstliche Frau, die ihm wohl wollte, schickte ihn nach Hechingen, wo er untergebracht wurde und ihrer Fürsorglichkeit und auch ferner sich zu erfreuen hatte. Diese Bevorzugung meines Bruders hatte ein gewisses Gefühl der Kränkung in mir erzeugt, ich beneidete den Glücklichen und fühlte mich zurückgesetzt. – Ach! ich hielt ihn für reich und glücklich im Vergleich zu meinen ärmlichen Lage. Und doch war es, wie ich später einsah, so besser für mich.
Ich zählte noch nicht volle acht Jahre als mein Vater, ich glaube, es war im Spätjahr 1781, nach Wolfach im Kinzigthal beordert wurde, wohin ihm die Mutter und ich, nebst einem jüngeren, dreijährigen Bruder folgten.
Stets wird mir jedoch das Städtlein Hüfingen in schätzensbarstem Angedenken bleiben. – Dort hatte ich in harmloser Glückseligkeit meine Kinderjahre verlebt, und jede Erinnerung an diese glücklichen Stunden wecken noch jetzt in der Brust des Mannes eine Menge süßer Gefühle, die mir jenen Aufenthalte unvergesslich machen; denn nur das Kind ist ganz glücklich, weil selbst bittere Stunden seinem jungen Gemüte nichts anhaben können.
In Wolfach mußte ich den Schulbesuch fortsetzen, doch fand ich dazwischen mancherlei Gelegenheit, etwas zu verdienen, womit ich meine guten Eltern doch einigermaßen unterstützen konnte. Tage lang arbeitete ich mit größter Anstrengung. Ich malte Vögel (die entweder der Vater oder ich geschossen hatte), nach der Natur, auf den lichtblauen Grund mit Wasserfarben, und suchte diese Blätter zu mäßigen Preisen, bald da, bald dort zu verkaufen. Durch solche Erfolge aufgemuntert, war der Wunsch in mir rege geworden, auch einmal das Ölmalen zu versuchen. Schon als 9-jähriger Knabe hatte ich die zuversichtliche Meinung, man könne Alles, wenn man nur ernsthaft wolle. – Ein Satz, den ich in meinem späteren Leben so ziemlich bewährt gefunden habe.
Ich rieb mir also Farben, verdünnte sie mit gewöhnlichem Haussamen-Öl und hatte sie, weil ich sie in meiner Unkenntnis so dünn wie Wasserfarben gemacht hatte, in blecherne Geschirre.
Es war gerade Jahrmarkt in dem Städtlein, und mein Vater, der als Polizeisoldat dabei Dienst tun mußte, nicht zu Hause. Frisch machte ich mich an’s Werk. Es war ein in Kupfer gestochener Mädchenkopf, nach welchen ich den ersten Versuch wagen wollte. Ich hatte mir Leinwand aufgespannt, diese vor mich hin auf den Tisch gelegt und mutig zu arbeiten angefangen. Nach wenigen Stunden anstrengenden Fleißes erschien das Bild vollendet. – Meine Freude war groß. Ich hatte das Werk, um es in der Ferne betrachten zu können, auf das Ofengesims gestellt und war in freudiger Hast fortgerannt, meinen Vater aufzusuchen und ihn zu bitten, nach Haus zu kommen und die Herrlichkeit in Augenschein zu nehmen.
Es verstrich wohl eine Stunde, bis ich den Ersehnten auf dem volkreichen Jahrmarkte finden konnte. Als ich seiner endlich habhaft geworden, ging er folglich mit, erstaunt darüber, dass ich schon fertig sei.
Wie wir aber in die Stube traten – welch‘ ein Anblick. – Mein Werk war ganz unkenntlich geworden. Die allzu flüssigen Ölfarben war in Folge der senkrechten Stellung der Bildfläche so in- und durcheinander geflossen, dass der ganzen Ofen davon beträufelt war.
Der Vater, aufgebracht über den Unverstand seines Sohnes, erteilte diesem eine handgreifliche Lektion, die wohl noch einige Stunden in den Gliedern des verblüfften Künstlers nachsummte, während er ihm zugleich zu verstehen gab, er möge die Farben künftig weniger flüssig anreiben!
Ich war wie aus den Wolken gefallen, und gewiss wäre meine Liebe zur Malerei nicht so groß gewesen, diese Zurechtweisung hätte mir auf immer die Lust zu ferneren Versuchen nehmen müssen. – Bald nachher erhielt ich von dem dortigen Chirurg Hildebrand, der in dem Städtlein für einen äußerst gelehrten Mann galt, ein altes Buch, worin verschiedenes über die Malerei abgehandelt war; so wie sich auch einige Kupferstiche darin fanden, welche sämmtliche zum Malen notwendige Gerätschaften und Werkzeuge bildlich darstellten. Nach diesen Mustern ließ mir der Vater einiges anfertigen, während er selbst sich anschickte, eine Staffelei zusammen zu schreinern.
Durch solchen Vorschub wieder ermuntert, wurde das Geschäft auf’s neue begonnen: Weil ich gefunden hatte, dass Leinöl die Farbe trübe, nahm mich jetzt meine Zuflucht zum Rapsöl, wobei ich jedoch der andere fatale Umstand herausstellte, dass die Farben nicht trocknen wollten. Endlich verfiel ich auf Nuß- und Margsaamenöl, womit ich glücklich das Rechte gefunden hatte. Auf diese Weise führte mich teils Nachdenken, teils Zufall immer langsam weiter; und so trieb ich das Ding fort bis in mein fünfzehntes Jahr. – Ich malte Landschaften, Porträts, ganze Familienbilder, ja selbst kirchliche Gegenstände, besonders aber viele Votivtafeln, womit ich nicht wenig Geld verdiente.
Einige Stücke hatte ich mit ungewöhnlichem Fleiße ausgeführt, um sie, nach dem Willen meiner Eltern, der gnädigsten Fürstin, meiner Beschützerin, vorzuweisen. Bei dieser Gelegenheit wollte ich wagen, die mir als Knabe schon gemachten Zusicherungen fürstlicher Gnade und Unterstützung in bescheidene Erinnerung zu bringen. Meine Mutter hatte einen Bruder in der Residenz, der Regierungskanzlist war, und durch diesen wurde die Sache eingeleitet.
Die Fürstin nahm mich überaus gnädig auf, und hatte die Gewogenheit, mir ein eigenhändiges Schreiben an den regierenden Herzog Karl von Württemberg, und ein zweites an den Obrist und Generaladjutant von Milius nach Stuttgart mitzugeben. Mit diesen Empfehlungen, einem kleinen Reisegeld und der Versicherung, dass ich in Stuttgart ohne Zweifel in die Akademie aufgenommen würde, hatte mich die gute Fürstin entlassen, während sie noch fernere Unterstützung huldreich zugesagt hatte.
Jetzt war mein Glück gemacht. Es gab auf der Welt keinen seligeren Menschen als ich. Ich sah jetzt den Weg gebahnt, auf dem ich mich zum brauchbaren, tüchtigen Manne heranbilden konnte. – Die Freude meines Onkels, des Regierungskanzlisten, so wie meiner Eltern war ebenfalls sehr groß. Die Mutter hatte mich, so gut es ihre Kräfte erlaubten, mit allem Nötigen ausgesteuert. Die Rolle mit den oben erwähnten Gemälde auf dem Rücken, verließ ich Ende September 1789 unter Tränen und Segnungen der teuren Mutter das väterliche Haus.
Der Vater gab mir das Geleite bis nach Sulz am Neckar, von wo aus der hoffende Kunstjünger seinen Weg bis nach Stuttgart allein fortsetzen mußte. Meine Habseligkeiten wurde mir von den Eltern nachgeschickt.
Es war Abend, als ich nach anstrengenden Marsch auf die sogenannte Weinsteig bei Stuttgart kam. – Die Sonne vergoldete mit ihrem scheidenden Lichte noch die Turmspitzen in der alten, in meinen Augen so allmächtig großen Stadt, die in heiligem Dunkel vor mir lag. Eine bängliche Stimmung wandelte sich mir an, ein Gefühl gänzlicher Verlassenheit. Die ganze Welt erschien mir fremd, und ich der einzige Alleinstehende auf ihr. – Beinahe hätte ich allen Mut, vorwärts zu gehen, verloren; doch stärkte mich noch die Hoffnung, dass es auch hier nicht an guten Menschen fehlen werde, die sich meiner annehmen würden. Dieser Gedanke hob meinen gesunkenen Geist wieder und ließ mich meine Schritte verdoppeln, so dass ich noch vor Einbruch der Nacht in den herzoglichen Residenz eintraf. Ich hatte schüchtern meine Schritte zu einem Gasthof niederen Ranges gelenkt; aber der Wirt, nachdem er mir ein wenig Gewinn versprechendes Äußere gemustert hatte, wies mich ab, mit dem Bedeuten, es mangle in seinem Hause gegenwärtig am Platz. – Dieser ungünstige Willkomm ging mir sehr zu Herzen, und ich hatte beinahe den Mut nicht mehr, irgend woanders einzusprechen. Doch nach längerem unschlüssigen Hin- und Herirren fand ich endlich ein Gasthaus, wo ich freundlicher aufgenommen wurde und wo ich verblieb bis zu meiner Aufnahme in die Akademie.
Dieses Institut umfaßte dazumal alle Zweige der Künste und Wissenschaften. Über 300 Zöglinge, Einheimische und Fremde fast aller Nationen, genossen zurzeit den Unterricht. Die Organisation dieser Lehranstalt war aber bekanntlich eine durchaus militärische und die oberste Leitung dem Obristen und Generaladjutanten von Seeger übertragen. Zudem war jeder der sechs Abteilungen, in welche die Akademie zerfiel, zwei Majors beigegeben, nebst einem Hauptmanne, einem Leutnant, zwei Aufsehern und oder Hofmeistern und zwei Dienern. Sämtliche Schüler trugen die akademische Uniform, welche nach militärischem Schnitt, und zwar sehr elegant beschaffen war. Auch außerhalb der Lektionen mußten alle Beschäftigungen und Verrichtungen soldatisch abgetan werden. Es herrschte die strengste Subordination, die sich meines Erachtens in so hohem Grade für Studierende nicht geziemt. Trotzdem aber hatte diese Anstalt, wie bekannt, vortreffliche Köpfe gebildet, und der Staat verdankte ihr die vorzüglichsten Männer.
Jede der sechs Abteilungen bestand wiederum in verschiedenen Klassen. Die der Künste umfaßte die Zöglinge der Malerei ,Bildhauerei, Kupferstecherkunst und Architektur. Es waren die Ganzen 30 jungen Leute. Unter den Malerzöglingen war ich der Jüngste, und blieb es bis zu meinem Austritt. Hier mußte ich nun die Kunst sozusagen wieder ganz von vorne anfangen, und mich zu den ersten Anfangsgründen verstehen, welche im Zeichnen der Augen, Nase, des Mundes und so weiter nach Vorlegeblättern bestanden. Weil ich aber ziemlich schnelle Fortschritte machte, kam es schon nach der ersten vier Wochen dazu, dass mir das Zeichnen nach der Natur gestattet wurde.
Alljährlich vor Ostern, nach abgehaltener Prüfung, wurden Preise, silberne Medaillen unter die besten Schüler ausgeteilt. – Bei den vereinigten Vierfächern der bildenden Kunst jedoch gab man nur vier solche Prämien, und es mußte deshalb jedes Mal unter vier Auserwählten mittels des Würfels, um des Preises gelost werden. Dieses geschah im Beisein des Herzogs und sämtlicher Professoren.
Schon nach dem ersten halben Jahr meines Schulbesuchs wurde ich nach einem einstimmigen Ausspruch meiner Lehrer als der würdigste unter den Malerzöglingen anerkannt und zum Ausspielen des gesetzten Preises zugelassen. Es war im Jahre neunzig – Fortuna war mir abhold; ich verlor, erhielt jedoch als Auszeichnung das Band. Dieses war gelb mit roten Enden, etwa zwei Finger breit, und durfte auf der rechten Achsel bei dem silbernen Achselschlingen der Uniform getragen werden.
Das folgende Jahr ward ich wiederum ausersehen, als Konkurrent aufzutreten. Aber das Glück begünstigte mich ebenso wenig wie das erste Mal. Mit drei Würfeln warf ich nur vier, – hatte also verloren. Ein Umstand, der mir sehr schmerzlich fiel.
So sehr nun auch meine Professoren Ursache zu haben glaubten, mit mir zufrieden zu sein, umso weniger war es der Herzog und die übrigen Herren Offiziere. An dieser Ungnade aber waren lediglich nur meine öfteren Fehler schuld gegen die vorgeschriebene strenge Ordnung, in die sich der junge, lebhafte Mensch wenig schicken konnte. Diese Strenge ging zuweilen bis ins kleinlichste, dass man zum Beispiel schon in Strafe verfiel, wenn man nur einen Knopf an der Weste zu viel oder zu wenig zugeknöpft war.
Doch muss ich auch bekennen, dass selten ein leichtsinniger Streich von den Kameraden verübt wurde ohne meine redliche Teilnahme oder Mitwisserschaft; wodurch ich mich zwar bei der Jugend beliebt machte, zugleich aber mir die Ungnade des Herrn Herzog Karl, noch mehr aber die des Obristen von Seeger zuzog. Ein übelberechneter Jugendstreich gab Veranlassung, die längere Zeit über meinem Haupte schwebende Wetterwolke zum Ausbruch zu bringen.
Es liegt fast allgemein in der menschlichen Natur, mit dem Guten, was man hat, unzufrieden zu sein und sich nach eingebildeten Besseren zu sehnen. Der Jugend insbesondere ist diese Ungenügsamkeit eigen. Fast sämtliche junge Leute der Akademie waren es bald überdrüssig, in der für sie so wohltuenden Ordnung zu leben, und jeder wünschte sich lebhaft hinaus in ungebundenere Verhältnisse. So erging es auch mir.
Ich hatte einen gleichgesinnten Freund, der sich ebenfalls der Malerei widmete; wir beide entwarfen nun im Stillen einen Plan, nach dem Beispiele anderer Kollegen zu desertieren. – Mein Mitverschworener aber verrieth durch sein vorlautes Wesen das Vorhaben und wir bekamen, vorbehaltlich weiterer Strafe, sogleich Arrest. – Die Sache kam vor den Herzog; bevor jedoch ein Urteil erfolgte, hatte mein Mitschuldiger Mittel und Wege gefunden zu entfliehen. Mit Hilfe seiner Bettücher, die er zerschnitten und zusammengeknüpft hatte, war es ihm gelungen, vom dritten Stockwerk herab auf den Boden zu kommen und glücklich das Freie zu gewinnen. Somit war ich allein der Unglückliche, auf dem die ganze Schwere des Strafgerichts ruhte. Sogleich nach dem Entweichen meines Kameraden hatte ich eine Wache bekommen, während der Karzer, in welchem mein Freund gesessen, also sorglich befestigt wurde, dass man unbedenklich jeden Kriminalverbrecher darin hätte verwahren können. Dieser sichere Ort wurde hierauf mir zum Aufenthalt angewiesen.
Der Herzog Karl war begreiflicherweise gegen mich sehr aufgebracht, und ich erfuhr, dass er vorhabe, mich unter ein auf der Veste Hohenasperg gelegenes Infanterieregiment zu stecken, um mir, wie er sich ausdrückte, ein paar Jahre Mores zu lehren.
Weil ich aber kein württembergischer Unterthan, und von der Fürstin von Fürstenberg bisher unterstützt worden war, so hielt es der Herzog doch für gut, woher diese Frau seinen Entschluß wissen zu lassen.
Die Fürstin jedoch, überzeugt, dass ich keines Verbrechens mich schuldig gemacht, welches also hart bestraft werden verdiene, war so gnädig, mich von seiner Durchlaucht auszubitten, um, wie sie sagte, den Übeltäter selbst bestrafen zu können.
Es war kurz vor Ostern, als nach sechs wöchentlicher Haft die Thüren meines Gefängnisses sich öffnete und man mir ankündigte, dass ich auf Befehl des Obristen von Seeger (der noch immer einen Zahn auf mich hatte) in Begleitung eines Sergeanten nach Donaueschingen eskortiert werden sollte. – Von Stuttgart bis Hechingen versah ies Amt ein Unteroffizier der Stuttgarter Stadtsoldaten, ein gutmütiger Alter, der mich versicherte, er sei mir bloß deshalb beigegeben, damit er dem jungen Herren (ich war noch nicht 18 Jahre alt) unterwegs nichts Übles zustoße; was ich in meinem jugendlichen Leicht- und Frohsinn auch gerne glaubte. In Hechingen veränderte sich die Szene und zwar auf Veranlassung des persönlichen Feindes, des Obristen von Seeger. Dieser hatte in Hechingen einen Freund, der am Hofe eine große Rolle spielte; an diesen hatte sich der Obrist gewendet, und jener wußte es so einzuleiten, dass ich für einen wirklichen Verbrecher angesehen und demgemäß behandelt wurde. Mein Stuttgarter Unteroffizier verabschiedete sich unter Tränen, denn er hatte mich liebgewonnen und sagte mir, wie sehr er von all‘ dem, was er in Betreff meiner hier stehen und hören müße, überrascht und bekümmert sei.
Gerne hätte ich später, als ich im Jahr 1798 zum Zweiten Mal hierher kam, dieser guten Seele meinen Dank abgestattet, aber ich konnte leider nicht mehr von dem Manne in Erfahrung bringen.
Im Gefühle der es mir angetanen Unrechts, hatte ich den Entschluss gefasst, zu entfliehen, selbst auf die Gefahr hin, irgendwo als gemeiner Soldat Dienst nehmen zu müssen. Zum Glück für mich hatte aber der barbarische Mann, der mir zugegeben war, ein allzu wachsames Auge auf den untergebenen vermeintlichen Übeltäter, und so kam ich ohne weiteren Zwischenfall in Donaueschingen an. Was ich dort empfunden, von allen Menschen gekannt, wie ein Verbrecher durch die Straßen geführt zu werden, wird nur der bemessen können, der je schon in ähnlicher Lage sich befunden. Einzig der Gedanke war noch mein Trost, dass ich mich keines eigentlichen Verbrechens, sondern nur eines unbedachten Jugendstreichs bewusst war. Schien ja doch ein Fehler gegen militärische Subordination in den Augen eines im Zivilstande erzogenen Jünglings kein so schweres Vergehen.
Meine Fürstin empfing mich wie eine erzürnte, aber gütige Mutter; und mein gänzlich darnieder gebeugter Geist lebte wieder auf, so wie das grenzenloseste Zutrauen und die tiefe Verehrung gegen diese herrliche Frau. Sie hatte zwar gedroht, mich zu bestrafen, wie sie es dem Herzog Karl versprochen habe, allein durch meine Bitten gerührt, ließ sie sich zu gnädiger Nachsicht und Verzeihung bewegen. – Sie wies mich zu meinem Onkel, dem bereits erwähnten Kanzlisten, und ließ ihn fragen, er möchte mich bei sich aufnehmen, und den anderen Tag mit mir vor ihr erscheinen, um das Weitere zu besprechen.
Erleichterndes Herzens ging ich von der wohlwollenden Fürstin hinweg. – Das Ärgste war nun überstanden, doch hatte ich noch einen fatalen Auftritt bei meinem Onkel zu gegenwärtigen. Nicht ohne Beklemmung war ich bei diesem eingetreten; – er schien sehr aufgebracht über den leichtsinnigen Neffen, als er jedoch die Verzeihung und Gnade der Fürstin erfuhr, lenkte er ein und wurde gelassener; zudem traute er mir wohl Ubesonnenheit zu, aber keine Schlechtigkeit.
Meine Lage war somit unverhofft eine äußerst günstige geworden. Vom Hof hatte ich den Auftrag erhalten, etwas zu malen, damit man sehe, welche Fortschritte ich gemacht habe. Das in Folge dieses Ansinnen unternommene Bild viel gut aus; jedermann war damit zufrieden, und mein Kredit war gegründet.
Ich bekam Beschäftigung in Fülle, und die Fürstin blieb meine beständige Beschützerin; wenn ich für den Hof zu tun hatte, wurde jedes Mal auf ihren Befehl eines ihrer Zimmer zum Arbeitslokal eingeräumt. Ja sie ging mit dem Plane um, mich mit einem jährlichen Stipendium nach Italien reisen zu lassen, nur befürchtete sie, meine Jugend und mein feuriges Temperament möchten mich im fremden Lande auf Abwege führen, weshalb dieses löbliche Vorhaben von Jahr zu Jahr verschoben wurde.
Unterdessen war das Jahr sechsundneunzig herangekommen. Die Franzosen zogen über den Rhein, und an dem nämlichen Tag, wo dieses geschah, ward mein Fürst, Joseph Maria Benedikt aus dieser Zeitlichkeit abberufen. Seine Gemahlin verlor nunmehr die Regierung und konnte im Witwenstande wenig mehr für mich tun, weil auch der geringste Einfluss ihrerseits bei Hofe gänzlich aufgehört hatte. – Ein Jahr nachher starb diese herrliche Frau, deren Andenken mir zeitlebens heilig sein wird.
Der neue Regent, ein Bruder des Verstorbenen, durch Zeitverhältnisse und Kriegsunruhen mannigfach beschränkt, entzog mir fast alle Vorteile, die ich seither von Hofe genossen, und ich verließ mein Vaterland, um in der nahen Schweiz mein Fortkommen zu suchen.
Es waren meist Porträts und Schlachtgemälde, die mich in jenem Lande beschäftigten. Im Jahr 1797 wurde ich unverhofft von meinem Fürsten wiederum zurückberufen, um sein und mehrere andere hohen Personen Porträte zu malen. Doch war dieses Mal meines Bleibens in der Residenz nicht zu lange; ich strebte weiter*. *In diese Zeiten fallen auch die meisten seiner Zeichnungen aus dem Soldatenleben, welche Blätter hernach, von dem Künstler selbst in Aetzmanier vervielfältigt, in Stuttgart bei Ebner herausgekommen sind.
Im folgenden Jahr erhielt ich den ehrenvollen Auftrag, die Familie des Fürsten von Sigmaringen zu malen; ein Ruf, dem ich unverweilt Folge leistete. Von Sigmaringen folgte ich den erlauchten Herrschaften in das fürstlich sigmarinische Bad Immau; und machte während eines dortigen vierwöchentlichen Aufenthalts gelegentlich einen Ausflug in die Residenz Stuttgart, um meinen ehemaligen Lehrer und Freunde zu besuchen.
Es war im Juli, als ich dort ankam. Mit wahrer Freundschaft wurde ich von meinen alten Lehrern aufgenommen; von den Kameraden traf ich jedoch nur noch wenige.
Seit meiner ersten unfreiwilligen Abreise von Stuttgart war ich, was meine künstlerische Ausbildung anbelangt, sozusagen gänzlich mir selbst überlassen geblieben, was ich von Werken der Kunst zu sehen bekommen hatte, hatte sich auf Weniges beschränkt. Groß war daher der Eindruck, als ich nach so langer Zeit wieder Gelegenheit hatte, vorzügliche Werke älterer und neuerer Meister zu betrachten.
Manches sah jetzt der 24-jährige Jünglinge mit ganz anderen Augen, als vormals der 18-jährige; seine Achtung und Liebe zu der erhabenen Kunst war durch den Anblick so vieles Schönen wieder auf’s Neue entflammt, und mit ihr der Eifer, auf der eingeschlagenen Bahn weiter zu schreiten.
Ich hatte mir vorgenommen, meinen Aufenthalt in der Residenz nicht allzu lange auszudehnen und sogleich nach Wien zu reisen. Allein bald sah ich mich durch Bande festgehalten, die mir lieb und wert waren; auch boten sich Beschäftigungen dar, die mein Bleiben, wenn nicht rechtfertigen, doch entschuldigen konnten. Ich blieb also bis zum Jahr 99, wo ich abermals nach Donaueschingen gerufen wurde, in das Hauptquartier Seiner Königlichen Hoheit des Erzherzogs Karl, um das lebensgroße Porträt dieses Prinzen zu malen.
Drei Monate brachte ich in Donaueschingen zu, worauf ich wieder nach Stuttgart zurückkehrte und die halbfertige Arbeit mitnahm, um sie dort zu vollenden. – Die Ehre und Ruhm, dieses großen Mannes und Kriegshelden gemalt zu haben, üben mächtigen Einfluss auf meine Verhältnisse. An bedeutenden Aufträge fehlte es mir von nun an immermehr. Im Januar 1801 begab ich mich nach Karlsruhe, wo mir der ehrenvolle Auftrag zuteil geworden war, den regierenden Herren Markgrafen Carl Friederich, so wie dessen Gemahlin und die Frau Erbprinzessin nebst anderen hohen Personen des Hofes zu malen. – Zu gleicher Zeit beschäftigte mich ein kleines Schlachtgemälde, welches ich für einen Schweizer Privatmann auszuführen unternommen.
Dieses Bild stellt den Übergang der Russen über die Teufelsbrücke dar, und kam nach Beendigung meiner Karlsruhe Hofarbeit nach Stuttgart, wo es die Aufmerksamkeit verschiedener einflußreichen Personen auf sich zog. Durch den am dortigen Hofe akkreditierten russischen Gesandten wurde es sogar dem Herzog Friederich, meinem jetzigen allergnädigsten Könige vorgezeigt.
Man wundert sich am Hofe, dass der Verfertiger eines solchen Bildes bis jetzt so unbekannt geblieben, und als ich halb nachher von Karlsruhe, wo ich mich nahezu ein Jahr aufgehalten hatte, wieder nach Stuttgart kam, wurde mir das Glück zuteil, dem Herzoge vorgestellt zu werden. Der Fürst drückte mir unverhohlen seine höchste Zufriedenheit aus, sowie die Freude, mich in seinem Lande zu haben, und beehrte mich folglich mit den schönsten Aufträgen.
Man kann sich denken, wie sehr ich bemüht war, den allerhöchsten Beifall dieses großen Kenners und Beschützers der Kunst durch meine Leistung zu verdienen. Die Arbeiten gefielen, und infolgedessen wurde mir unter der Hand Dienste angetragen, die ich jedoch im Gefühle meiner über alles geschätzten Unabhängigkeit ablehnen zu müssen glaubte.
In diese Zeit fällt eine kleine Begebenheit, die ich erwähne, um zu zeigen, wie sehr seine herzogliche Durchlaucht meine Arbeiten zu würdigen geruhten.
Der vorerwähnte russische Gesandte hatte bei mir ein größeres Bild bestellt, welches, wie das frühere den Übergang der Russen über die Teufelsbrücke zum Gegenstande haben solle. Die etwas sonderbare Bedingung, die mir bei diesem Auftrag erteilt worden waren, will ich hier nicht näher bezeichnen. Genug, ich hatte sie eingegangen, jedoch mehr nur, um Gelegenheit zu haben, mich in größeren Arbeiten zu üben, als um pekuniärer Vorteile willen.
Ich hatte mich bestrebt, den geschichtlichen Moment möglichst treu und nach besten Quellen bearbeitet wiederzugeben, und ich darf wohl sagen, dass die fertige Arbeit in dieser Beziehung jedem Kenner und Geschichtskundigen zu befriedigen geeignet war.
Auch der Herr Gesandte zeigte sich damit zufrieden. Nur machte er die Bemerkung, das russische Wappen auf den blechernen Münzen der Grenadiere sei zu undeutlich (die Figuren waren ungefähr 14 Zoll hoch). Zuletzt fragte er mich, was ich für das Bild verlange? Ich bestimmte ihm, gemäß des vorangegangenen Vertrages, den Preis von 60 Louisd’or. – Der Herr Gesandte machte große Augen und schien durchaus nichts mehr von unserer früheren Übereinkunft wissen zu wollen. Er bot mir, um mich, wie er sich ausdrückte, nicht in Schaden setzen zu lassen, die Hälfte des geforderten Preises. – Diese undelikate Handlungsweise brachte mich aber dermaßen in Harnisch, dass ich nahe dran war, die geheiligte Person des Gesandten in dem Manne zu vergessen und ich ihm Dinge sagte, die vielleicht allzu derb waren. Zornig und uneins gingen wir voneinander, und zum Abschied warf ich noch hin, dass er das Bild nun nicht haben solle, selbst wenn es mir das Doppelte des zuerst gesetzten Preises böte.
Seine herzogliche Durchlaucht hatten von diesem Handel gehört und fanden sich bewogen, mich rufen zu lassen. Er verlangte das Gemälde zu sehen. – Wohl eine halbe Stunde saß der Herzog betrachtend davor und äußert zuletzt seinen höchsten Beifall, mit dem Bedeuten: dass ich ihm das Bild ablassen solle; und wirklich ließ er mir des anderen Tages die Summe, welche ich dem Gesandten bestimmt hatte, dafür ausbezahlen.
Am Sonntag darauf war bei Hof große Tafel, zu welcher auch der Gesandte eingeladen war. – Der Herzog lenkte das Gespräch auf die Kunst und sagte unter anderem: er habe von einem Künstler, den er in der Residenz habe, kürzlich ein Bild an sich gebracht (er bezeichnete den Gegenstand), und den äußerst billigen Preis von 60 Louisd’or; und nachdem er befohlen, das Gemälde herbeizubringen, wendete er sich zu dem russischen Gesandten mit den Worten: das wäre eine Aquisition für Sie gewesen, Herr Gesandter; doch jetzt würde ich es um keinen Preis mehr herlassen. – Der Russe stand wie auf Kohlen und wusste nicht, wo er den Blick hin wenden sollte.
So hatten die Unannehmlichkeiten, die mir durch diese Bestellung verursacht wurden, noch zu ehrenvoller Anerkennung geführt.
Seine Durchlaucht gaben mir in der Folge den Auftrag, allerhöchst ihr Bildnis zu malen, umgeben von ihren Adjutanten oder Ordonanzoffizieren und Pagen, in dem Moment, wo sie von dem Schlosse Monrepos ausritten. Eine Arbeit, die mich längere Zeit festhielt. Es waren über 16 Porträtfiguren, keine unter 18 Zoll Höhe, nebst mehreren Nebenfiguren und Pferden.
Der Beifall, welcher meiner Leistung gezollt wurde, war so groß, dass mir wieder neuerdings Dienste angeboten wurde. Der Herzog hatte unterdessen die Churwürde angenommen, und mit ihr vermehrte sich der Glanz des Hofes. Was meine Verhältnisse* anbetraf, so geboten meine stets wachsenden Haus- und Familiensorgen dem Antrag Beachtung zu schenken. *Seele war meines Wissens mit einer königl. württemb. Hofschauspielerin verheiratet.
Ich wurde demnach zum Anfang des Jahres 1804 zum Hofmaler, und bald darauf zum Direktor der königlichen Gemäldegalerie ernannt.
Der größere Muße, welche mir diese Anstellung verschaffte, benützte ich, um durch unausgesetztes Studium immer mehr und mehr die Kunst in ihrer Tiefe zu erfassen, um so viel wie möglich durch das Studium der Antike den Mangel, Italien nicht gesehen zu haben, zu ersetzen. Dieses Streben blieb nicht unbelohnt, denn ich hatte das Glück, bei allen fernen Arbeiten den Beifall meines Monarchen zu erhalten, und die Welt war ebenfalls nachsichtig genug, mich als Künstler zu achten und zu ehren.
Zwei Jahre nach meiner Anstellung erhielt ich von Seiner königlichen Majestät, meinem Herren, einen sechs monatlichen Urlaub, den ich zu einer Reise nach München und Wien benützte. Der Anblick so vieler und herrlicher Werke alter und neuer Zeit verfehlte nicht, mächtigen Einfluss auf mich zu machen, und indem ich meine Kenntnisse erweiterte, fühlte ich mich höher gehoben und zu neuen Werken begeistert.
Nach zweimonatlicher Verlängerung meines Urlaubes kehrte ich im Jahre neun wieder in den Schoss meiner Familie zurück.
Des Königs Majestät erteilten mir folglich neue Aufträge. Im Jahr 1811 malte ich den Ganymed, im Begriffe, dem Adler Jupiters die Schale zu reichen. Dieses lebensgroße Bild hatte dem König Veranlassung gegeben, seine Zufriedenheit sowohl mit meinem Dienste als Direktor als auch mit meinen künstlerischen Leistungen auszusprechen, um mich gleichzeitig zum Ritter des Zivil-Verdienstordens zu ernennen.
Dieses, liebster Onkel, ist die kurz gedrängte Darstellung meines Lebens. Ich hätte sie allerdings noch mit manchen Einzelheiten schmücken können; ich fürchte jedoch, zu breit und weitschweifig zu werden.
Indem ich mich Ihrer ferner väterlichen Liebe empfehle, verbleibe ich mit inniger Verehrung und kindlicher Ehrfurcht.
Ihr
treuer Neffe v. Seele,
Soweit das Manuskript. Eines der letzten Werke unseres Künstlers ist ein Altarblatt, Christus am Kreuze, umgeben von Maria, Johannes und Magdalena. Seele schenkte dieses schöne Gemälde der Pfarrgemeinde Hüfingen zum dauernden Gedächtnisse seines dortigen, von ihm nie vergessenen Jugendaufenthaltes.
Als früher Vertreter der Hüfinger Künstlertradition gilt Johann Baptist Seele (27. Juni 1774 in Meßkirch – 27. August 1814 in Stuttgart). Sein Vater Franz Xaver Seele diente ab 1776 in Hüfingen als Unteroffizier im fürstenbergischen Kreiskontingent. Johann Baptist Seele stieg bis zum Hofmaler des württembergischen Königs auf.
Johann Baptist Seele 1792Johann Baptist Seele 1810
Agathenzedel
Agathazettel wurden entweder direkt ausgegeben oder nach dem Kauf bei Händlern am Agathatag gesegnet. Oft wurden sie zur Segnung in die seit dem 16. Jahrhundert ebenfalls als Heil- und Schutzmittel verwendeten Agathabrötchen gesteckt. Viele Familien schrieben ihre Bitten um Schutz und Hilfe selbst auf ein Blatt, brachten es am Agathentag zur Kirche, ließen den Agathazettel im Gottesdienst segnen und brachten ihn an der Tür an oder verwahrten ihn im Haus. Wenn der Agathenzettel der Bitte galt, vom Feuer verschont zu werden, wurde er zuweilen ins brennende Feuer geworfen. Agathazettel wurden oft Nachbarn und Freunden geschenkt. Es wurde auch berichtet, dass Schüler das Fürbittgebet auf Papier schrieben und dies mit bunten Verzierungen versahen. (Wikipedia)
Agathazettel mit Feuersegen und Gebrauchsanleitung aus dem 18. Jahrhundert Foto: Wikimedia
Fürstenhaus in Donaueschingen
Der „gute damals regierende Fürst„, Joseph Wenzel Johann Nepomuk, wurde am 2. März 1728 in Prag geboren und starb am 2. Juni 1783 in Donaueschingen. Sein Sohn war Joseph Maria Benedikt Karl Fürst zu Fürstenberg (9. Januar 1758 – 24. Juni 1796), verheiratet mit Maria Antonia Anna von Hohenzollern-Hechingen (10. November 1760 – 25. Juli 1797). (Wikipedia)
Maria Antonia von Hohenzollern-Hechingen, Fürstin zu Fürstenberg, im Jagdkostüm und mit Gewehr. Gemälde vom FF Hofmaler Franz Joseph Weiß (*15.02.1735 Hüfingen – 14.06.1790 Donaueschingen)
Einige Werke von Johann Baptist Seele am württembergischen Hof. Für eine Beschreibung, bitte auf die Abbildung klicken.
Altarbild von Johann Baptist Seele in St. Verena und Gallus. Allerdings ist die Geschichte um den Erwerb hier etwas komplizierter, als von Lucian Reich dargestellt und hat Hüfingen an den Rand des Ruins gebracht.
Das Buch habe ich hier 2021 veröffentlicht. Allerdings veraltet auch eine Webpage ziemlich schnell und die nächsten Monate möchte ich die einzelnen Kapitel aktualisieren. Deswegen werde ich jedes aktuelle Kapitel wieder nach vorne kramen. Das alte Buch mit der sehr eigenwilligen Schreibweise in Frakturschrift hatte ich damals vorgelesen, um den gesprochenen Text von einem Programm namens f4transkript in Buchstaben umzuwandeln. Den umgewandelten Text habe ich danach bearbeitet, da viele der Wörter dem Programm nicht bekannt waren. Aus diesen Gründen ist der Text ein Gemisch aus alter und neuer Schreibweise. Was es in den verschiedenen Kapiteln des Buches gibt, ist diese vorgelesene Tonspur mit dem Transkript in schwarz. In blau sind unten Erklärungen dabei.
„Zuvor muss ich abbitten, dass ich die Keckheit habe, Dich mit einem Schreiben zu belästigen. Ich kann nicht unterlassen, Dir mein ganzes Herz zu eröffnen. Ja, liebe Mariann‘, Du wirst zwar sagen, ich sei nicht beim Verstand. Ja, es kommt mir oft selber auch so vor. Ich will nur eine einzige Bitte im Vertrauen an Dich stellen, wie es wär‘, wenn ich mit Gottes Hilfe es so weit brächte, dass ich wie mein Bruder als Pächter irgendwo aufziehen könnt; und gesetzt, die liebe Mariann‘ wäre doch ledig und frei?
Ich weiß zwar wohl, dass Berg und Tal zwischen des Vogts Tochter und einem armen Knecht, wie ich bin, stehen, aber sein soll, schickt sich wohl, und ich kenn‘ Eine, kein Feuer ist zu heiß und kein Meer zu tief, als dass ich nicht für sie durchgehen wollte. Ich möchte nur wissen, ob auch Sie noch ein wenig an mich denkt. Ist dies der Fall, so wird mir alle Müh‘ und Arbeit ringer vorkommen.
Zum Schluss muss ich von Herzen bitten, mich dieses Schreibens wegen nicht auszulachen oder gar zu verspotten, denn wie es mir um’s Herz ist, muss es heraus, und ich mein’s ehrlich. Wenn es geht, wie ich hoffe, so wirst du erfahren, warum ich jetzt in diesem Augenblicke das Schreiben an dich gestellt habe. Leb tausendmal wohl und zürne mir nicht.
Und so will ich denn schließen Mit viel herzlichen Grüßen Dein bis in den Tod getreuer Konrad auf dem Waldhauser Hof.
NB. Am Donnerstag komm‘ ich hinaus zu euch zum Opfer für die Bas‘ selig, da hoff‘ ich zu erfahren, wie du gesinnt bist. Nimmst du im Heimgehen aus der Kirche den Wachsstock in die rechte Hand, so seh‘ ich es als ein günstiges Zeichen an, so du ihn aber in der Linken trägst, so erachte ich es für meinen Abschied.“
Was nun am Donnerstag nach der Kirche geschah, das weiß ich nicht zu sagen, denn wer wird auch so genau hinauf sehen, ob ein Mädchen ihre Wachsstöcke links oder rechts tragen? Aber so viel ist gewiß, dass der alte Kaspar die beiden am Gartenhaag unter dem Obstbaum beisammen stehen sah, Hand in Hand. Da es jedoch heller Tag war und die Erscheinung nichts von Gespenstern an sich hatte, so behielt er sie vorläufig für sich. Der Vogt soll derweil im Adler und die Vögtin auf einem Krankenbesuch in der Nachbarschaft gewesen sein.
Ein nichtsnutzige Distelfink schrie nachher aus Leibeskräften in der ganzen Gegend herum, der Konrad habe das Mariannele frei und frank geküßt. Er hätte sie gern in’s Geschrei gebracht; aber es achtete Niemand auf ihn.
Konrad blieb auf den Wunsch seines Vetters, des Riedbauern, zwei Tage im Heimatort. Die Unterhaltung war eine sehr einsilbige. Der Tod der Base schien nichts mit dem Wesen des Mannes geändert zu haben; nur war es auffallend, wie er oft zerstreut und mit suchenden Blicken durch die Stube ging. – Das war ein langweiliger Tag für Konrad; es war ihm fatal, das Mariannele nicht mehr sprechen zu können.
Auf dem Heimwege summte der junge Bursche das Lied vor sich hin.
Keine Kohle, kein Feuer kann brennen alsi heiß. Wie stille heimliche Liebe, die Niemand nicht weiß.
Dazwischen hielt er auch, während er wieder auf jener Höhe stehenblieb, ein Selbstgespräch, und das lautete wie folgt: Kreuz Donner – des Vogts Mariann‘, ’s schönst Mädle im ganzen Ort, und – du! Herr Gott!
Nachdem er aber solches gesagt, hub er abermals zu singen an. Der Grund, warum unser Konrad, wie es in dem Brief heißt, „jetzt in diesem Augenblick“ auf Entscheidung gedrungen, mag in Folgendem gelegen haben.
Mehrere junge Männer aus der Nachbarschaft waren willens auszuwandern, und zwar als Landwirte nach Ungarn. Schon im vorigen Jahrhundert hatten nicht wenige Familien der Baar ihre Heimat verlassen, um als Kolonisten in jenem Lande sich ansässig zu machen; und dass die Leute dort ihr Fortkommen gefunden, erhellte aus dem Umstande, das später, während der vorigen Kriegszeiten, zuweilen ungarische Husaren in der Baar gewissen Geschlechtern nachfragten, und die verwunderten Bauern als ihre Vettern begrüßten.
Auf dieses standen sich wiederum Mehrere bewogen, ihr Glück dort zu suchen, und einer von diesen hatte sich zurzeit unserer Erzählung diesbezüglich nach Hause gewendet, um einige seiner Landsleute und Verwandten zu sich einzuladen. Auch unserem Konrad wurde der Antrag gemacht, sich anzuschließen, und einer der Auswanderungslustigen war schon wiederholt deshalb bei ihm auf dem Hofe gewesen. Der Oberknecht zögerte, sein Jawort zu geben. – Sein Hoffnungsanker hatte ja im eigenen Lande zu tiefem Grund gefaßt, als dass ihm ein Losreißen so leicht geworden wäre.
Der Gruß der Jugendfreundin war wie ein warmer Sonnenstrahl auf die verborgen keimende Saat seiner Hoffnungen und Wünsche gefallen und hatte ihn zum raschen Entschlusse gedrängt: „Ich wage’s!“ Hatte er ausgerufen; er wollte Gewissheit, und erst wenn dem Vaterlande Alles verloren sah, wollte er im fremden Land sein Glück versuchen.
Dies die Veranlassung des Schreibens. Wie günstig aber die schriftliche Botschaft aufgenommen worden, haben wir aus der Zusammenkunft am Gartenhaag und dem Selbstgespräch des Oberknechts entnehmen können. Das Mariannele hatte ihn um Gottes willen gebeten, er möge doch sein Vorhaben, nach dem Ungrrland zu gehen, fahren lassen; unser Herrgott könne ja leicht Alles und zum Besten lenken.
Das war nun fromm und gut gedacht, aber Konrad sah wohl ein, dass er jetzt die Hände regen müsse. Seitdem die Mariann‘ gesagt hatte, wie gern sie ihn habe, war seiner Tätigkeit und Kraft ein mächtiger Sporn gegeben. Das Ziel stand zwar noch ferne, aber nicht unerreichbar; wenn Gott will, sagte er zu sich selbst, so tagt es. – Den Auswanderern sagte er ab. – Sein Weizen blühte jetzt in der Heimat; aber nicht ohne Sturm und Gewitter sollte die Frucht zur Reife gedeihen.
Der fleißige Bursche hatte zu seinem wenigen angefallenen Vermögen bereits so viel erspart, dass es ihm möglich gewesen wäre, bei der Betrachtung eines Meierhofes die nötige Kaution zu stellen; und er wartete nur auf günstige Gelegenheit, seinen Plan zur Ausführung zu bringen.
Der Bruder Mariann’s hatte unterdessen das elterliche Gut übernommen und einer reichen Base die Hand gereicht, die Eltern aber mit der ledigen Tochter bewohnten seitdem das Nebenhaus. – Mehrere Freier hatten das Mädchen glücklich abzuweisen gewußt. Der Vogt ließ sie gewähren, ohne den Grund ihrer Weigerung zu kennen. Wohl saß die gute Mariann‘ zuweilen mit ihrem Kämmerlein und dachte darüber nach, was wohl der Vater zu ihrem Verhältnisse zu dem armen Konrad sagen würde. – Doch nur zu bald sollte sie auf dieser Frage Antwort erhalten.
Der Oberknecht hat in Erfahrung gebracht, dass einer der unweit Waldhausen gelegenen herrschaftlichen Höfe von neuem verpachtet werden solle. Er hatte Lust, als Bewerber um den Platz aufzutreten, und sein Bruder, so ungern er auch den umsichtigen Gehilfen entbehren mochte, versprach ihm mit Rat und Tat an die Hand zu gehen, weil er wohl einsah, dass es dem jungen Manne vor Allem darum zu tun sein müsse, endlich einmal selbstständig zu werden.
Bevor jedoch Konrad einen entscheidenden Schritt tun wollte, mußte er vor Allem das gute, ihm so herzlich ergebene Mädchen von dem Vorhaben in Kenntnis gesetzt und ihrer Meinung eingeholt werden.
Das Brieflein, worin er dieses tat, hatte er mit auf den Löffinger Fruchtmarkt genommen. Hier traf er gewöhnlich Landsleute. Einem Zwetschgenwasserhändler, der beim Vogt ein- und ausging, wurde das Schreiben anvertraut. Dasselbe wurde aber zufällig unterwegs aufgehalten, und weil ihm Konrad gesagt habe, es pressiere, so übergab er das Papier einem Bauern aus dessen Dorfe, dem er just im Posthaus zu Unadingen begegnete. – Er sagte ihm aber nicht, von wem das Dokument sei und was es damit für eine Bewandtnis habe, sondern schärfte ihm lediglich ein, den Brief dem Mariannele richtig einzuhändigen und dem Alten nichts davon merken zu lassen.
Der gute Mann, der keine Ahnung hatte, was in einem solchen Schreiben stehen könne, wovon der Alte nichts wissen dürfe, trug den Brief getreulich heim. Wie er ankommt, sieht er die Vögtin aus dem Hause gehen, und denkt: Jetzt ist das Nest sauber; den Vogt treffe ich ohnehin nicht, um die Zeit sitzt er im Adler drüben und trinkt sein Schöpple. Geht also gutemuths hin und macht die Türe auf. Wer aber gerade vor dem Spiegel steht und den Seifenschaum aus dem fetten Gesichte trocknet, das ist der Vogt. „Es ist doch merkwürdig, dass mich das verteufelte Katzendoktorle jedes Mal schneiden muss, wenn es mich barbiert“, spricht er dazu und legt ein Stücklein Zündschwamm auf den beleidigten Teil, welcher aussieht, als ob der Pflug über ihn gegangen wäre.
Der arme Mann erschrak und wollte wieder rücklings zur Türe hinaus. Der Vogt aber, der ihn in dem unseligen Spiegel gesehen hatte, sagte, ohne sich umzuwenden: „Du, Antoni, was bringt dir Gut’s?“
Dies machte den Liebesboten vollends ganz bestürzt und verwirrt; er stotterte etwas von einer „Commission“ und von der „Jungfer Tochter“, legte zuletzt den Brief auf den Tisch und salvierte sich zur Tür hinaus, indem er „Nichts für ungut!“ murmelte.
Der Vogt sieht ihm verwundert nach. Jetzt erst hat er sich umgekehrt, sein Auge fällt auf den Brief; den beachtet er gemächlich von allen Seiten. „Pressant“ stand auf der Adresse. An meine Tochter? fragte er: Das werde ich doch auch wissen dürfen. Krack – ist das Siegel offen und – Himmel – Kreuz – Hagel usw. usw.. – Welch ein Gewitter brach über die arme Mariann‘ herein, die in diesem verhängnisschweren Augenblicke geschäftehalber an nichts denkend, unter der Türe erschien. Der zweifelhafte Wetterprophet hätte ihr das Einschlagen prophezeit, so furchtbar tobte und fuderte der Vogt über diese „heimliche Garss“, wie er sich auszudrücken beliebte. Zu guter Zeit kam jetzt auch die Mutter nach Hause und wendete das Ärgste von der Armen ab. Die Vögtin hatte von jeher solchen Donner- und Hagelwetter gegenüber eine Art von Assecuranz geltend zu machen gewußt.
Mariannele war bis in den Tod betrübt, und konnte ihren Konrad nur so viel Wissen tun: er möge um Gottes willen nicht mehr an sie schreiben und sich ja nicht so bald wieder im Orte blicken lassen. Alles sei verraten.
So schnell Konrad im Hoffen und Vertrauen gewesen war, so schnell ließ er sich durch diese Hiobspost darnieder schlagen. Eigentlich hätte er sich von Anfang an vorstellen können, dass es über kurz oder lang so gehen werde. Aber diese jungen Brauseköpfe finden ein besonderes Vergnügen darin, sich durch jeden Hasenfuß, der ihnen über den Weg läuft, stutzig machen zu lassen. In heftiger Aufregung war er in seine Kammer gerannt, hatte dort den Deckel des Troges, der seine Habseligkeiten barg, hastig aufgerissen, und zuerst den Brief, hernach einige herumliegende Kleidungsstücke hineingeworfen, als sollte es in der nächsten Viertelstunde schon fort gehen, den Kameraden noch in’s ferne Ungarnland. – So wie er aber den Unmut vergährte und die erste Hitze verraucht war, setzte er sich an’s Fenstersims, das Gesicht auf die Faust gestemmt, und heiße Tropfen stahlen sich aus dem unbeweglich vor sich hin starrenden Augen.
Er machte sich die bittersten Vorwürfe, dieses Leid über das arme Mädchen gebracht zu haben. Zugleich war es ihm aber auch klar, dass er jetzt der Heimat und allem Valet sagen, und in die Fremde ziehen müsse. – Doch noch einmal musste er sie sehen, um Verzeihung bitten und Abschied von ihr nehmen. – Dem Bruder ließ er nichts von Allem merken und verrichtete die Geschäfte wie zuvor.
So verging Woche um Woche, Monat um Monat. Der einsilbige Mensch verlebte die Zeit in gleichgiltigem Verzicht auf alle Annehmlichkeiten, die ein junges Leben bietet.
Der Frühling und ein Teil des Sommers waren vorübergegangen, und der nahe Herbst spreitete schon sein Gewerbe von thaurigen Sommerfäden über abgemähte Wiesen und einzelne Stoppelfelder.
Konrad erinnerte sich, dass der Vogt jedes Jahr regelmäßig, und zwar meist in Gesellschaft seiner Tochter, zum Jakobifeste nach Hüfingen ging, und das ist der Grund, weshalb wir ihn diesmal auf dem Heimwege begriffen, begriffen finden. Er hoffte die „Gewisse“, mit der ihm der Franzsepp geneckt hatte, bei dem Feste zu treffen, hoffte sie vielleicht noch vorher benachrichtigen zu können. Um eine Minute flüchtigen Gesprächs oder gar auch nur einen Blick aus der Ferne zu erhaschen, hat er die Wanderung angetreten und manchen guten Schritt getan. Gott gebe ihm Gelingen! Denn wenn der Vogt morgen zu Hause bleibt, so ist die Rechnung ohne den Wirt gemacht und der Arme getäuscht.
Die Finsternis brach immer tiefer herein. Um sich das Herz frisch zu erhalten, stimmte er ein Liedchen an, das er in Löffingen von einem Handwerksburschen gehört hatte:
Es gibt keine größere Freudigkeit Auf dieser Erde, Als wenn zwei junge junge Leut‘ In den Ehstand treten
Da gibt’s keine Sorg‘ und Noth, Kein Kreuz, kein Leiden. Nichts als der bittre bittre Tod Der kann sie scheiden.
Wenn einer eine Liebe hat, Und weiß nicht wie, Muß er auf die Seite Seite sehen Und schweigen still.
Wenn einer eine Liebe hat, Und weißt’s nit z’machen, Muß er auf die Steite Seite stehn Und freundlich lachen.
Lachen, das ist ein schweres Ding, Leichter ist’s Weinen. Was ich am liebsten liebsten hab‘, Das muß ich meiden.
Unversehens stand er vor dem Dorfe, wo schon alle Lichter ausgelöscht waren. Er wollte in seines Vetters Hause niemand mehr wecken und ging still und leise die hintere Treppe, die vom Garten her führte, hinauf. Auf dem Boden war ein Gelaß mit dem Rang und Charakter einer Rumpelkammer, wo nie jemand schlief. Dort gedachte er zu übernachten. Er griff durch das Katzenloch in der Türe und richtig, der Schlüssel lag an der gewohnten Stelle. Nun tappte er in die finstere Kammer hinein und zwischen ausgedienten Rossgeschirr, zerbrochenen Rechen und Heugabeln herum, bis er endlich einen Haufen „Kuder“ (Abwerg) fand. Der tut’s mit dem Fundament, sagte er und legte sich darauf, nachdem er zuvor den Schoopen ausgezogen hatte. Er konnte aber nicht lange schlafen, denn er mußte tausend Pläne schmieden, wie er morgen in aller Frühe der Mariannele ein Zeichen geben könnte. Endlich fiel er in einen unruhigen Schlaf, aus dem er bald wieder erwachte. Eine bedrückende Schwüle umgab ihn. Er stand auf und sah zum Fenster hinaus. Totenstille herrschte über dem Dorf. Kein Blatt rührte sich. Im Westen stand eine dichte Wolkenmauer, aus der es hie und da wetterleuchtete, schwarz und drohend am Himmel. Am Waldrand oben brannte einem Hause ein einzelnes Licht; vielleicht war es der Kasper, der alte Geistersehr, krank. Das Vogts Haus, mit seinem zackigen Giebeln lag stumm und finster zwischen den Obstbäumen des Gartens. Der Wächter im Dorfe unten rief Mitternacht.
Konrad ließ das Fenster offen stehen, begab sich in sein Nest zurück und schlief bald wieder ein. Da träumte ihm, er stehe bei der Mariann‘ und wolle ewigen Abschied von ihr nehmen. Wie er sie aber küssen will, wer kommt dazwischen? der Vogt! und ruft: Hab‘ ich dir nicht schon oft gesagt, du sollst nichts mit dem – Abermals musste er den unvergesslichen Ehrentitel aus seinem Knabenjahren entgegennehmen. Das Mariannele lief schreiend von ihm weg, er wollte ja noch nach, der Vogt aber hob seine gewichtige Hand auf – da weckte ihn plötzlich ein mächtiger Knall. Die Kammertüre wurde aufgerissen, das Fenster schlug klirrend zu. Eine lange weiße Gestalt stürzte zur Türe hinein, stracks auf das Fenster los und riegelte es eiligst zu, während Konrad noch schlaftrunken den Kopf erhebt. Als aber dem Gespenst einige wohlbekannte Flüche entschlüpften, erkennt er seinen Vetter. Nun ist es ihm wie ausgemacht, dass der Knall vorhin ein Schuss gewesen und das Haus von Dieben überfallen sei, weshalb der Riedbauer die Fenster zu verwahren trachte. Er springt auf, seinem Vetter beizustehen; der aber an ihm vorbei zur Kammer hinaus: „Zu Hilf‘! Schelmen, Diebe!“ Schreit er und rennt die Stiege hinab.
Ich hab‘ also doch recht, man will einbrechen, sagt Konrad, und er wischt ein altes zerbrochenes Joch: mit dem laß‘ ich mir keinen auf den Leib; wart’t, ich will es euch.
In dem hört er seinen Vetter mit den Knechten die Treppe heraufkommen. Du stellst dich mit der Mistgabel unten an’s Fenster, kommandiert der Alte im Dunkeln, und die anderen schlagt euch zu mir! Sie müssen noch im Hause sein. – Die Türe geht auf, und herein schreitet der Riedbauer voran mit dem „Heuslicher“ in der Faust. Wo sind sie? Ruft ihm Konrad entgegen.
Alle guten Geister – Dunder un’s Wetter, das ist ja bigott der Konrad! schreit der Alte, wirft die Waffe weg und leuchtet mit der trüben Laterne vor. Ein Blitz, der die Kammer erhellt, hilft nach, hilft nach, und sie erkennen sich von Angesicht zu Angesicht. Ei so b’hüt‘ mich Gott! ruft der Alte, etwas aufgeregter als gewöhnlich: du Teufelsbub‘, wie hast du mich erschreckt; es ist mir in alle Glieder gefahren.
Nun erklärte sich das Missverständnis auf. Der alte Riedbauer, der in der Nacht wenig schlafen konnte, hatte ein Gewitter herankommen hören, dem ein starker Sturm vorausging. Mit der verdrießlichen Sorglichkeit des Alters dachte er sogleich: Ich will nur sehen, ob die Magd nicht wieder einmal das Fenster droben offen gelassen hat! Und richtig, kaum gedacht, so hört er, wie das Fenster in der Rumpelkammer, das Konrad offen ließ, vom Winde hin und her geschlagen wird. Ingrimmig hebt er sich aus den Federn, macht sich hinauf und wäre beinahe nicht auf die erbaulichste Weise mit dem unvermuteten Gaste zusammengeraten.
Nachdem sie sich nun hinlänglich angeschrien und verständigt hatten, gingen sie alle in die vordere Stube hinunter, wo schon das übrige Gesinde im Gebet versammelt war. Eine der Mägde verfügte sich in der Küche, um das am Palmtag geweihte Scheit, dessen Rauch den Blitzen steuert, auf dem Herd anzuzünden.
Jetzt aber brach ein furchtbares Wetter aus, Blitz und Blitz und Schlag auf Schlag, so dass das alte Haus in seinem Grundfesten erzitterte. Der Riedbauer hatte indessen einen schlechten Rock übergeworfen, seinen breitrandigen Regenhut aufgesetzt und ging mit den Knechten in den Stall, um die Stalltüre gegen das eindringende Wasser mit Mist zu verwahren; denn der Regen fiel in Strömen und schwelte draußen das Bächlein zum wahren See.
Endlich ließ die ärgste Wut des Gewitters nach, das Donnergrollen verzog sich in die Ferne und man wollte eben Anstalt machen, wieder in’s Bett zu gehen, als Konrad auf einmal fragte: Ich glaub‘, sie schießen auf dem Fürstenberg.
Jetzt ist’s letz (schief), bemerkte der alte Riedbauer. Alle Alten vor das Haus und wendeten sich nach der Gegend jenes Berges, der eine weite Aussicht über die Baar gewährte und damals noch mit Wächtern und Kanonen für Brandfälle versehen war. Sie hatten sich nicht getäuscht. Deutlich sahen sie den Blitz des Pulvers, und bumm! hallte der Schuss nach einiger Zeit in die Landschaft heraus. Jetzt wurde es im Dorfe lebendig: da und dort klirrte ein Fenster auf. Wo brennt’s? rief man heraus. Niemand wollte es wissen. Am Horizont leuchtete eine starke Röte auf.
Konrad stieg mit seinem Vetter auf den Heuboden. Sie hoben Ziegel und lugten mit scharfen Augen, konnten aber nicht über die Brandstätte einig werden. Während sie noch hin und her riethen, kam das Geschrei, es brenne im oberen Wald, wo der Blitz eingeschlagen habe. Einige junge Burschen warfen sich auf ihre Rosse und jagten der Gegend zu, wo das, wo sie das Feuer vermuteten. Die Feuerspritze wurde aus ihrem Behältniß herausgeschoben, Laternen geisteten hin und her. Der alte Vogt, der trotz seiner Abdankung das Befehlen nicht lassen kann, kommandierte oben zum Fenster heraus; als er aber nicht gehört wurde, bemühte er sich auf die Straße hinab. Konrad, der seine Augen überall hatte, sah ihn unten erschienen, und in diesem Augenblicke kam mir mein guter Gedanke. Husch, war er drüben, wo er das Töchterlein am Fenster sprechen hörte.
„Grüß Gott, Mariannele!“ „Um Gottes willen“, flüsterte sie, „du bist’s!“ „Ja, ich – morgen – biet‘ Alles auf, um deinen Vater auf’s Fest nach Hüfingen . „ „Er geht ja, er geht! – Gute Nacht!“ und fort war er. Denn dass der Alte nicht allein gehe, bedurfte keiner Erörterung.
Die Unruhe wogte inzwischen im Dorfe hin und her. Endlich, nach einer halben Stunde ängstlichen Harrens, kamen die Reiter zurück und meldeten, dass die ganze Sache nichts zu bedeuten habe. Der Blitz hatte bei einem einzelnen stehenden Bauernhof in eine alte Tanne geschlagen, um welche etliche Klafter Holz aufgeschichtet lagen, sonst aber keinen weiteren Schaden gethan. Das Feuer war erloschen, das Gewitter vorbeigegangen; bald schimmerten die Sterne wieder hell und klar durch die zerrissenen Wolken, und die aufgeschreckten Bewohner des Dorfes legten sich zu Bette, um noch einen ruhigen Morgenschläfchen zu tun.
In der Stadt aber dämmerte kaum der erste Morgenstrahl, als die guten Hüfinger durch die „Tagwacht“ aus ihren Träumen aufgerufen wurden. Mit innerlichem Behagen hörten sie von ihren Federn aus, wie die türkische Musik durch alle Straßen zog. Dazwischen knallten Schüsse freudig in den jungen Tag hinein und luden Nah und Fern zum Feste. Sie kamen von vom unteren Thore, wo die kurzen Böller, Katzenköpfe genannt, aufgestellt waren, die ein grauer Veteran bediente.
Vom frühen Morgen an war das Militär auf dem Exerzierplatz beim Schützenhause versammelt. Der Major ließ es nicht an Ermahnungen fehlen, während seine Mannschaft fröhlich zusah, wie auf allen Wegen die Einwohner der umliegenden Dörfer in Scharen zu den Toren der Stadt hineinströmten. Alles freute sich über den klaren Tag und den schönen blauen Himmel.
Das Musikkorps aber hatte den goldenen Ochsen zum Sammelplatz gewählt, um sich auf die bevorstehenden Strapazen des Tages gehörig vorzubereiten. Ein ansehnliches Gabelfrühstück wurde aufgetragen, denn die Weisheit der Völker weiß, dass es sich mit leerem Magen mangelhaft musiziert, besonders was Blasinstrumente anbelangt. Eben kam noch eine volle Platte geschmälzter Kutteln auf den Tisch, als eine Ordonnanz vom Major erschien und den Tagesbefehl überbrachte: schleunig aufbrechen! Es war Zeit zum Einmarsch, die Glocken konnten jeden Augenblick in die Kirche läuten. Auf! rief der Kapellmeister. Alle griffen nach ihren Instrumenten und stürzten mit pflichtschuliger Eile zu Tür und Tor hinaus. Nur einer blieb noch ein wenig zurück. Die volle Schüssel mit der köstlichen, fein zubereiteten Leibspeise hielt seine Seele gefesselt. Wie? die sollte unberührt, gewissermaßen unbegraben bleiben? – Ich seh‘ nicht ein, warum ich dem Ochsenwirt das schenken sollte, sagte er kaltblütig, indem er das Futter seines geräumigen Tschakos aufknüpfte und den duftenden Inhalt der Schüssel hineinschüttete. Dies getan, zog er den Knoten wieder zu, setzte den Tschako auf und eilte mit der Gottesbescherung seiner Truppe nach.
Ein jeder Mensch hat seinen Geschmack, seine Leidenschaft, seine Herzensschwäche. Während solche Heldentat an der Kuttelfleckschüssel verübt wurde, befleißigte sie sich unser Konrad der Wegelagerei. Er hatte morgens bei guter Zeit seinen Lenden gegürtet und sodann bei der Höhe des Hexenberges, über den die Straße führt, seinen Stab genommen, um die Gegend auszuspionieren. Nicht lange harrte er also, da kam in der Ferne ein Bernerwägelein daher gerasselt, das es zu erkennen meinte. Wie er näher schaute, glaubte auch einen dicken Mann darauf zu erkennen. Und wer noch näher schaute, entdeckt er neben ihm einen weißen Hut, der ihm vollends gar nicht unbekannt vorkam.
Schnell sprang er hinter einem am Wege stehenden Schlehenbusch, und siehe, da kamen sie! Selbstgefällig und breit saß der Vogt – doch was kümmerte ihn der! Kein gleichgiltigeres Ding gibt es auf der Welt, als einen Schwiegervater, von dem man gar nicht weißt, ob er es jemals werden wird. Er sah an ihm vorbei auf das Töchterlein, das im dunkelgrünen Samtschoopen an seiner Seite saß, einen frischen Resedastrauß am Busen zwischen dem roten Latz und Goller, unter dem weißen Hut ein Paar sonntäglich geflochtene gewaltige hellbraune Zöpfe, und zwischen den Zöpfen das frische herzige Angesicht. Er hätte ihr weiß nicht was antun können zur Strafe, dass sie so einen schlechten Merks hatte und keinen Blick nach dem Schlehenbusche warf. Der „Tralle“! konnte er denn nicht ausrechnen, wie viele Büsche sie schon vergebens d’rum angesehen haben mochte, ob nicht ihr Holderstock dahinter wachse? Er hatte ja die Wahl: Warum stelle er sich nicht hinter einen solchen, dem ein Treffer zugedacht war? Für diesmal hatte er eine Niete gezogen. Sie sauste achtlos vorüber, und ihre schwarzseidenen Hutbänder flatterten luftig im Morgenwind. Er sah dem Wägelein nach, bis es hinter den ersten Häusern der Stadt verschwand.
Ich bin nur froh, dachte der Vogt, als er wenige Minuten nachher mit seiner Tochter den Einmarsch der Truppen erwartend, am Fenster des Goldenen Kreuzes stand: Ich bin nur froh, dass sich das Mädchen heute so gut unterhält und wieder Theil nimmt am Leben. – Ihr Köpfchen war heute ganz absonderlich in Bewegung; alle Augenblicke streckte sie es zum Fenster hinaus. Nu, so hab‘ doch nur noch ein klein wenig Geduld, sagte der Vogt zu ihr: Sie müssen ja gleich zum Tore hinein kommen – Er glaubte, ihr Herz denke an nichts and’res, als an die Stadtmiliz.
In diesem Falle hätte sie sehr ungeduldig werden müssen, denn der Einmarsch wurde wider Vermuten verzögert. Als nämlich der Major „Angetreten!“ kommandierte und die Trommler sich eben in Bereitschaft setzten, den Wirbel zu beginnen, bemerkte man erst, dass die große Trommel ihres Bearbeiters ermangele. Ohne diese Hauptperson war nichts zu machen. Noch fünf Minuten höchstens! und außer Vermutung und Gerüchte, wie sie täglich in den Zeitungen zu finden sind, war nicht Sicheres über den Vermißten in Erfahrung zu bringen. Jeder wollte ihn in einer anderen Schenke gesehen haben. Der Tambour-Major rückte seine große Bärenmütze etwas seitwärts auf das linke Ohr und murmelte Flüche. Lauf, sagte er dem Kapellmeister zu dem Triangelspieler, einem 11-jährigen Dilettanten in einem faltigen roten Frack, dessen Flügel bis auf den Boden hingen: Lauf! und zählte ihm ein halbes Dutzend Bierhäuser an den Fingern her.
Der Triangelist gab sein Instrument in die Hände des Brentenschlägers, dessen Tonwerkzeug auch Rollensieb oder zur Abwechslung Tambourin geheißen wird, nahm den großen Tschako unter den einen, den rolandsmäßigen Hirschfänger unter den anderen Arm, verteilte seine beiden Frackflügel eben so und begann nach solchen Vorbereitungen spornstreichs zum Tor hineinzurennen, als im gleichen Augenblick der sehnlichst Erwartete noch eiliger zum Thor herausrannte, so dass ihr Zusammentreffen einen musikalischen Klang, ähnlich einem Schlag auf die große Pauke, zur Folge hatte.
Nachdem der Spätling von allen Seiten gehörig abgekapitelt wurde und der verblüffte Triangulist an seinen Posten zurückgekehrt war, wirbelten die Trommeln und der Einmarsch begann. Unter dem gewölbten Tore erscholl die Musik. Zur gleichen Zeit fiel das Glockengeläut ein. Eine unabsehbare Menschenmenge wälzte sich neben und hinter dem Zuge her. Alle Fenster waren mit geputzten Menschen, mit fröhlichen Gesichtern gefüllt; über die ganze Stadt verbreitete sich das herrliche Festgefühl. Die Bajonnete der Bürgersoldaten blinkten und blitzten im goldenen Sonnenschein; die blaue Fahne mit dem Stadtwappen und dem Wahlspruch „für Gott und sein Volk“ flatterte freudig in der klaren Morgenluft. Im Taktschritte bewegte sich die Menge gegen die Kirche.
Seht! sagten die Bauersleute, der dort spielt das schwerste Instrument, der schwitzt wie ein Präceptor. Damit meinten sie ohne Zweifel den, welcher das Frühstück im Tschako hatte. Das Fett mochte durch das Futter seiner Kopfbedeckung gedrungen sein, und da und dort über das Gesicht des Musikanten herunter rieseln. Gleichwohl machte der Wackere eine so zufriedene Miene, als ob er sagen wollte: „Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an.“
Nach der Predigt erfolgte ein feierlicher Umgang durch die Stadt, wobei sechs schmucke Jungfrauen in Schappeltracht das blumengeschmückte Muttergottesbild trugen.
Hierauf begann das Hochamt. Während desselben finden wir die Mariann‘ in einem der überfüllten Kirchenstühle. Sie betete in dem bekannten schwarzen Buche so inbrünstig, als wolle sie dem Himmel all ihr Leid und ihren Kummer klagen. Als sie ein Blatt umwandelte, fiel ihr Blick auf ein eingelegten Blatt, das von der kunstreichen Hand ihres Liebsten kam, und haftete lange auf der Einlassung von Rosen und Vergissmeinnicht. In einem grünen Kranz standen die Worte:
Und wenn du wärest gleich da, wo die Sonn‘ aufgehet, Und ich am Ende, wo der Abendstern entstehet, So scheidet uns doch nichts: mein Herz bleibt dir In Unglück und Gefahr, dein Herz bleibt bei mir.
Unter diesen Zeilen hatte er noch einen dörflichen Rebus angebracht. Derselbe lautete folgendermaßen:
Über diesen Gedanken vergaß sie alles, was sie um sie her vorging. Sie betete nur für Konrad, den sie vor der Kirche unter der Menschenmenge gesehen und dessen Gruß sie mit einem Augenzwinkern erwidert hatte. Während sie so im Gebete versunken war, erteilte der Priester den Segen. Die gläubige Gemeinde kniete nieder.
„Bataillon, fertig!“ wurde vor der Kirche commandiert. „Feuer!“ und die Gewehre krachten so dass das arme Mariannele beinahe vor Schrecken das Buch zu Boden fallen ließ. Dumpfe Böllerschüsse schlugen unteren Tore her an die Kirchenfenster.
Nach dem Gottesdienst spielte die Musik noch eine Zeit lang vor dem Pfarrhofe und Rathause. Der Schmelz und die Blüte des Festes war aber jetzt vorüber. Wohl wurde noch exerziert und musiziert, manche Gewehrsalve krachte noch, aber die eigentliche Feststimmung war verflogen.
Um den rechten Übergang vom Außerordentlichen zum Alltäglichen zu treffen, gibt es eine äußerst scharfsinnige Erfindung, welche auf der Uhrtafel gewöhnlich mit der Ziffer Zwölf bezeichnet ist. Diese traten auch jetzt zur angemessenen Zeit in ihre Rechte ein, oder, wenn es sich unverblümt sagen soll, die Leute begaben sich zum Mittagessen. Die Zahl der fremden Zuschauer war bedeutend angewachsen, und die vierfüßigen sowohl als auch die geflügelten Bewohner der Baar erlitten an diesem Tage eine Niederlage, welche die Geschichte zu den schwersten zählt.
Ob und wo der Konrad gegessen hat, ist ein Geheimnis geblieben. Wir begegnen ihm erst wieder auf den Gassen, wo er hastig und Unruhe voll auf und ab rennt, um einen Blick, ein Wort von der Mariann‘ zu erhaschen. Doch der Vogt wich und wankte nicht von ihrer Seite. Missmutig und halb verzweifelnd warf er sich endlich in ein Bierhaus, dem goldenen Kreuz gegenüber, wo er durch den beweglichen Fensterschieber spionierte. Ein Mädchen kam und stellte ihm ungefragt ein Glas Bier hin, das er instinktmäßig bezahlte. Das Gebräu des Königs von Barbant ist Labsal für den Durstigen, der es mit unzweideutiger Absicht genießt; wenn man es aber bloß zum Vorwande trinkt, so wird es ihm die Menschenseele gram, und auf diese Weise ist es zu erklären, dass Konrad in seinem Hasse mehrere Schoppen nacheinander vertilgte, ohne es recht zu bemerken, dass sein Hauptberuf in genauerem Zusammenhange mit dem Fensterschieber war. Auf einmal sieht er den Vogt herauskommen, allein, das heißt ohne seine Tochter, und in eifrigem Gespräche mit einigen Bekannten, mit welchen er sich allmälig die Straße hinauf in den gold’nen Löwen hinein verfügt. Wie ein Pfeil von der Sehne eines Starken geschleudert, fuhr Konrad ins Goldene Kreuz hinüber.
In der Wirtsstube ging es sehr lärmend und lustig her. Die halbe Baar saß da und zechte wacker. Soldaten und Musikanten der Stadt verzehrten ihre Löhnung; denn nach Beendigung der Parade war jedem 15 Kreuzer Gage aus der Stadtkasse verabreicht worden, und wer sich eines Schnurrbarts rühmen konnte, der hatte noch eine Zulage von einem Groschen erhalten. Auf den Tischen lagen musikalische Instrumente umher; an den Wänden hingen da und dort die abgeschnallten Seitengewehre.
Konrad blieb einen Augenblick unter der Türe stehen und überschaute das Getümmel. Endlich erblickte er die, welche seine Augen suchten. Sie saß bei einigen ihrer Bekannten. Diesmal war er glücklicher als hinter dem Schlehenbusche; sie sah ihn ebenfalls, so wie er nur in der Türe getreten war. Er gab ihr einen Wink mit den Augen. Stille erhob sie sich, kam herüber und stellte sich etwas abseits mit ihm in eine Fenstervertiefung. Sie hatte die Augen voll Tränen, als Konrad so vor ihr stand und ihre Hände stets in der ihrigen hielt. Eine Zeit lang schwiegen sie still, dann begann er allerlei verworrene Dinge durcheinander zu reden. Er sehe nun ein, sagte er, dass sie niemals zusammenkommen würde. Er sehe deutlich, dass er zum Unglück geboren sei, und sie solle ihn nur so schnell wie möglich vergessen. Wie ernstlich es aber mit dieser Bitte gemeint war, ist daraus abzunehmen, dass er in gleichem Atemzuge hinzusetzte, dass er jetzt fest entschlossen sei auszuwandern und es werde sein einziger Trost im fernen Lande sein, wenn er sich vorstellen könne, dass sie hie und da noch seiner gedenke. Sie erwiderte wenig darauf, denn sie war zum Tode betrübt. In drei Wochen, hatte er ja gesagt, werde er wahrscheinlich schon auf Reise sein.
Das Mädchen hatte ihn ernstlich und in allen heiligen Willen gebeten, diesen Schritt wenigstens noch auf ein halbes Jahr zu verschieben.
Konrad war beständig bange, der Vogt möge zurückkommen. Er wollte ihr eben zu verstehen geben, sie solle ihn an die Türe begleiten, um allda Abschied zu nehmen, als diese aufging und ein höchst widrige Störung den Scheidekuss der beiden Liebenden auf’s grausamste vereitelte.
Zur Tür herein kamen der oben erwähnte Wirtssohn, der im Elsass französisch geworden war, und sein Freund, der junge Krämer. Der Erstere hatte, wie wir wissen, früher der Mariann‘ aufs Angelegenlichste den Hof gemacht und Konrad hindurch aus der Heimat vertrieben. Nach dessen Abgang war er zuversichtlicher und zudringlicher geworden, und gewiss würde der Vogt seine Bewerbung mit demjenigen Nachdruck, der sich von ihm erwarten ließ, unterstützt haben, wenn nicht gerade zur nämlichen Zeit einige Liebesaffären der zweideutigen Art, die er auswärts hatte, vom Gerücht im Umlauf gebracht worden wären. Dies machte den Vogt doch etwas bedenklich, seine Tochter einen Menschen von so wurmstichigem Charakter zu geben, und da er keineswegs der Mann der versteckten Wendungen war, so konnte er nicht umhin, dem Bewerber seine Ansicht mit unverkennbarer Deutlichkeit unter die Nase zu reiben. Der Abgewiesene trug seinen seiner Korb mit großer Bosheit von dannen, die er namentlich gegen Konrad kehrte, weil er diesem den Hauptriegel erkannte, der ihm, zwar nicht in den Absichten des Vaters, aber desto gewisser im Herzen der Tochter vorgeschoben war.
Wie der Elsässer nun die Beiden so unvermutet Hand in Hand am Fenster stehen sah, fing es alsbald wie lauter Gift und Galle in ihm zu kochen an. Er und sein Freund ließen Wein aufstellen, „eine Maß vom besten“, und hierin lag eine hochmütige Herausforderung, über die man nicht einen Augenblick im Zweifel sein konnte. Um aber seinen Zorn auf geistreiche Art auszulassen, warf er den Teller mit dem Brote an die Wand, ebenso einige Gläser.
Der Mariann‘ zitterte schon das Herz im Leibe; aber es sollte noch besser kommen. Denn nun trat er halb betrunken, mit verglasten Augen, die ohnehin nicht die schönsten waren, vor die Beiden hin und fing an zu sticheln. Konrad würdigte ihn anfänglich keine Antwort. Der Andere aber wurde dadurch immer tückischer und beleidigender; er sprach von Ungarn und der Auswanderung. Da stieg dem Konrad das Blut in den Kopf, doch schwieg er noch. Aber als der Widersacher mit noch anzüglicheren Redensarten sich zur Mariann‘ wendete und fragte, ob Madame Conrade auch von der Partie sein werde? da übermannte ihn die Wut, die Besinnung verging ihm, und comme ça da flog der Franzos‘ über Tisch und Bänke, dass Gläser, Teller, Flaschen umherwirbelten und der Wein in Strömen auf den Boden floss. Allgemeine Aufruhr.
Wohlmeinende Hände griffen zu, um den wütenden Konrad zurückzuhalten. Andere halfen dem Gestürzten wieder auf die zitternden Beine und fuhren ihm säubend und dürftend über den von oben bis unten zerrissenen Rock. Sein Freund hatte eine durchaus neutrale Stellung angenommen. Der Hornist der Bürgergarde schoss wie ein Blitz herbei, um sein auf dem Tische liegendes Horn in Sicherheit zu bringen. Denn, sagte er, es ist wie wenn’s das auf sich hätte! Schon einmal wurde es mir zusammengequetscht wie ein Knöpfleteig, drauß in Behla, wo ich aufspielte und mir Zwei mitten in den besten Händeln darauf hinfielen. Ich muss es wieder austreiben lassen. Um Ton hat es nichts verloren. – contraire!
Als die größte Gefahr vorüber und die Ordnung im Groben hergestellt war, sprang auch die gerade anwesende Polizei herzu und predigte: Friede, Friede! Nur keine Händel, Kinder Gottes, sonst –
Konrads sah in das tränende todtenblasse Angesicht, das so flehend anblickte; er ließ die Arme sinken, sein Zorn schwand hin und es war ihm sehr übel zu Muthe. In diesem Augenblicke ging die Thüre auf und der Vogt kam herein.
Konrad warf der Mariann‘ einen Abschiedsblick zu und stürzte fort, am Vogt vorüber, die Treppe hinunter, zum Tore hinaus. Und so sehen wir ihn denn wieder den nämlichen Weg dahin wandern, den er gestern hergekommen ist. Er hieb aber nicht mehr mit der Gerte nach den tanzenden Mücken. Er summte kein Lied mehr vor sich hin, er hielt kein Selbstgespräch. Finster und gedankenlos rannte er über Stock und Stein, ohne zu bemerken, dass die Sonne in rotem Dunst unterging und der Himmel sich überzog. Die Nacht brach herein; es fing still und undurchdringlich zu regnen an. Als er am „Schlossbuck“ vorbeikam, sah er die alte Burgruine finster in das einsame Wiesental herab und in dien knorrigen Ästen der Birnbäume am Wege sauste der anziehende Sturm. Er blieb einem Augenblick stehen; es war ihm so Wehe, dass ihm ein böser Gedanke durch den Kopf fuhr; doch eilte er von der Stätte der Versuchung fort. Bei finsterer Nacht kam er, durchnäßt bis auf die Haut, auf dem Hofe an. Den Hut hatte ihm ein Windstoß vom Kopf gerissen und gegen die Weiden am Bache entführt. Er tappte leise zu seinem Bette; aber müd und aufgeregt zugleich, wie er war, warf er sich die ganze Nacht in qualvoller Unruhe hin und her.
Aus diesem Bette war er gestern Morgen so fröhlich, so hoffnungsreich aufgesprungen. Galt es auch seinem Abschied vielleicht fürs Leben, so galt es doch einen honneten Schmerz, und einen warmen Kuss dazu, den ein junges Blut auch unter den traurigsten Umständen nicht verschmähen wird. Nun aber, wie hatte der so lang ersehnte Tag geendigt? Statt des Kusses mit einer Prügelei. „O zarte Sehnsucht, süßes Hoffen!“ – Und was wird der Vogt zu der Geschichte sagen? Wie wird er toben über den Handel, der sich vor einer ganzen Stube voll Menschen um seiner Tochter willen erhob! Arme Mariann‘! Ein neues Ungewitter über dir, und dein Liebster steht nun als Unruhestifter, als Händelmacher da! Jetzt ist er endlich doch, nur leider auf eine Weise, wie er sich am wenigsten wünschte, zum Helden geworden. Das ist aber noch nicht alles. Das Schönste wird nachfolgen, wenn sein Widersacher, wie nichts anderes zu erwarten, die Sache vor das Amt bringt.
Die Gesetze für Schlaghändel waren damals etwas strenger als jetzt. Schon sah er im Geiste die Execution mit Amtsdiener und Haselnußstock vor sich gehen. Schöne Aussicht! Jetzt nur so schnell wie möglich fort! war sein erster Gedanke, als er aus einem kurzen Schlummer den anderen Tag erwachte. Er mußte doppelt wünschen, bald seine Auswanderung bewerkstelligen zu können. Es war ihm bekannt, dass noch einige Kameraden den Fortgezogenen nachkommen wollten. Mit diesen war er in Unterhandlungen getreten, doch konnte es immer noch Monate anstehen, bis alles zur Abreise fertig war. – Jeden Morgen fürchtete er eine Vorladung vom Amte zu erhalten, von wegen der fatalen Wirtshausszene. – So lebte er in beständiger Angst und Unruhe.
Ob der Vogt von dem Vorgefallenen im Kreuz zu Hüfingen Notiz genommen oder nicht, wüsste ich nicht zu sagen, gewiss dagegen ist, dass sein Töchterlein stiller und einsilbiger als sonst nach Hause gekommen.
Einige Tage nachher war ihr Namensfest. Der Vogt machte ihr jedes Mal an diesem Tag ein wertvolles Präsent. Es waren meist Sachen, die einstens als Zierde in ihrer Aussteuer glänzen sollten. Seit der Zeit aber, wo des Vaters unbeugsamer Eigenwille in so entschiedene Opposition zu ihrem Hoffen und Lieben gekommen, schien das Mädchen alle Freudigkeit verloren zu haben. Tage lang saß sie stumm und sinnend in ihrer Arbeit; bei öffentlichen Anlässen, wo der Vater gerne mit der schönen Tochter Staat machte, war sie selten mehr erschienen. Stets wusste sie, zum heimlichen Verdruss des Vaters, eine Ausrede, die als Grund ihres Zuhausebleibens gelten mußte. Die Fahrt zum Jakobifest war seit langer Zeit wieder die erste Ausflug, den sie freiwillig mitgemacht hatte.
Der Vogt gedacht ihr diesmal am Namensfeste ein besondere Freude zu machen. Aber es sollte die Wahl des Angebindes ganz dem Mädchen überlassen bleiben. Die seid’nen Tücher vom vorigen Jahr lagen noch immer unberührt in ihrem Kasten, und auch der neue silberne Gürtel und die goldenen Ringe, mit welchen die Mutter sie beschenkt hatte, schienen der Jungfrau wenig Freude zu machen.
„Wähl‘ dir selbst!“ sagte der Vater, als er am Annatag seinem Töchterlein gratulierte. – „Es mag sein was ’s will, und kosten was ’s will; du siehst, dass man ja Alles tut, dir Freud‘ zu machen!“ „Vater“, sagte die Tochter nach einigem Zögern, „darf ich frei reden?“ „Was es ist,“ sagte der Alte lebhaft, „und wenn es das halbe Vermögen kostet!“ Das Mädchen besann sich eine Weile, dann sagte es zweifelnd: „Ist es Euch ernst?“ „Da“, ließ sich der Alte vernehmen, „hast meine Hand drauf; wenn der Vogt sein Wort gibt, soll es mehr gelten als Brief und Siegel!“ „So will ich denn wählen, Vater, und sage, was mir einzig Freud‘ machen kann: – gebt mir den Konrad!“ – Mit diesen Worten hatte sie des Vaters dargehaltene Rechte ergriffen. Und wie in stummer Bundesgenossenschaft hat er auch die Mutter zu Bittenden sich gesellt. Verdutzt stand der Vogt einen Augenblick, dann fuhr er mit der Hand in die Haare und verließ mit dem Ausruf: „Weiber!“ die Stube. Die Mutter aber folgte ihm, und nach längerem Unterreden brachte sie es zuletzt dahin, dass der Alte den Ausspruch that: er wolle den Handel überlegen!
Dies galt so viel wie ein zustimmendes Jawort, und die gute überglückliche Tochter beschloß den Tag mit einem frohen Dankgebet zu ihrer Namenspatronin, der heiligen Mutter Anna.
Ehe jedoch unser halbverzweifelter Konrad von dieser erwünschten Schicksalswendung benachrichtigt werden konnte, erschien eines Morgens der Amtsbote auf dem Hofe mit einer Invitation. – Eine böse Ahnung beengte die Brust des Geladenen. – Ertrage auch das, mein Herz! dachte er, oder wenigstens schwebte ihm ein derartiger Gedanke vor, als er dem Boten der Gerechtigkeit mit etwas zögernden Schritten folgte. Er konnte sich nicht anderes denken, als dass er wegen der bösen Händel im Kreuzwirtshause (die er längst vergessen geglaubt hatte) vor Amt geladen sei.
Amtsmiene und Amtssprache hatten, besonders dazumal noch, etwas Fürchterliches. Der Bescheid, der ihm zugedacht war, wurde in einem Tone verlesen, als ob es ihm um den Kopf gehen sollte. Aber wie war ihm, als die gefürchtete Untersuchung sich in eine Nachricht verwandelte, die ihm so unvermutet kam, als ein holländisches Erbe! Der alte Riedbauer hatte das Zeitliche mit dem Ewigen verwechselt, voher aber noch darüber verfügt und seinem jungen Vetter einen beträchtlichen Teil seines Vermögens hinterlassen.
Konrad hatte nie auch nur im Traume daran gedacht, dass sich sein Schicksal auf eine so einfache Weise wenden könnte. Er stand stumm und starr vor Erstaunen; der Hingang des guten alten Mannes machte ihn schmerzlich bestürzt. Als er aber von Amtswegen ein wenig angefahren wurde, kam er wieder zu sich, dankte im Stillen für die gnädige Strafe und machte, dass er weiter kam.
„Jetzt nur so schnell als möglich fort!“ dies war abermals sein erster Gedanke, als er das Amthaus verlassen hatte; nur meinte er es ganz anders als jenen Morgen nach seiner Zurückkunft vom Feste. Dass er es aber anders und wie er es meinte, ersehen wir am deutlichsten daraus, dass er schon nach einer Viertelstunde auf dem Wege war, den er nie wieder zu betreten gehofft hatte. Ein Beispiel, wie der Mensch sich irren kann! Warum eilt er aber so sehr? Lag ihm denn der Mammon so gewaltig am Herzen, dass er es nicht erwarten konnte, bis er ihn gehoben hatte? Gott bewahre! Seine Absicht war eine ganz andere, obgleich der Mammon allerdings dabei eine Hauptrolle spielte.
Laßt alle Worte in der Welt zusammenkommen und ihre Schmuckkästlein umstürzen, eine Liebschaft gehörig aufzuputzen, was hilft’s? Aber werft ein paar tausend solide harte Taler dazu, die just nicht vorher gewaschen zu werden brauchen, dann, ja dann wird das Ding gleich ein anderes Gesicht haben. Warum also rennt der Pfiffikus, der Konrad, so spornstreichs dahin? Weil er sehr wohl weiß, dass er dem Vogt jetzt dreist unter die Nase treten darf, dass er diesem sogar eine Ehre sein wird, wenn er bei ihm „einkehrt“, wie auch, dass er sich wegen jener Tathandlung kein Gewissen mehr zu machen braucht, sintemal dieselbe nichts weniger als eine gemeine Rauferei, sondern eine wohlverdiente Execution, dabei aber noch ein sehr lustiger Streich und ein absonderliches Heldenstück, mit Einem Worte, um es nicht gar zu lang zu machen; er weiß, dass er aufgehört hat, ein „R…r“ zu sein!
Wie hätte er auch ahnen können, dass er Alles das nicht brauche, und das Glück ihm durch die Treue des Mädchens so freundlich die Pfade geebnet habe.
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Lassen wir zwei Jahre verstreichen, und machen dann noch einen flüchtigen Besuch in dem Dorfe, wo Konrad geboren war. Es ist Sonntag früh, der herrliche Sommermorgen, wo der Bauer zum Edelmann wird und der Städter ein armer Schlucker ist. Gleich beim Eintritt in’s Dorf sticht uns das weiland finstere rauchige Haus des alten Riedbauers gar stattlich in die Augen. Es ist von Grund auf „renoviert“, die Fensterläden sind frisch grün gestrichen. Der alte Spruch über der Haustür: „Laß Neider neiden, lass Hasser hassen, Was Gott mir giebt, muss man mir lassen!“ ist wieder aufgefrischt und mit einem zierlich gemalten Blumenkranz umgeben. Im Gärtlein hinter dem Hause blühen die Rosen, und der Nägeleinflor auf der Laube gilt für den schönsten im ganzen Ort.
Wir treten in die von der Morgensonne freundlich erhellte Stube. Das sitzt still und im Gebet versunken, unsere Mariann‘ bei einer Wiege. In dieser Wiege schläft ihr Konrad, aber nicht der Große, ihr Herr und Oberhaupt, denn er befindet sich soeben in der Kirche, sondern der kleine Konradle, ihr liebes Kind. In ihrer Hand erblicken wir das wohlbekannte, schwarz eingebundene Gebetbuch mit dem golde’en Schnitt. Ob sie Dank oder bittet, das läßt sich so genau nicht sagen; vielleicht ist beides der Fall. Denkt sie aber an ihren Sohn, so betet sie gewiss, dass der Herr ihm eine leichtere Jugend schenken möge als seinem Vater, und dazu ist auch alle Aussicht vorhanden. Doch blickt sie so zufrieden in ihr Buch, als ob ihr kein Wunsch mehr übrig geblieben wäre. Der größte wenigstens erfüllt: die Vereinigung mit ihrem vielgeliebten Konrad.
Soeben sind die Glocken, welche zum Gottesdienste riefen, verhallt. Durch das offene Stubenfenster sieht man noch die letzten Nachzügler in die Kirche wallen, den alten Kasper, den Geisterseher, und eine Nachbarin mit ihrem Kinde. Sonst ist’s im ganzen Dorfe still. Nur die Bienen vom nahen Immenstande summen am Fenster. Der grünende Rosmarin, von welchem vor anderthalb Jahren die Mariann‘ ihr Bräutgränzlein nahm, steht, heilig aufgehoben und gepflegt, vor dem Fenster.
Aus der Ferne aber, von Hüfingen her, hallen dumpfe Böllerschüsse. Sie feiern heute das Jakobifest.
Und eben jetzt, wo die junge Frau durch den wohlbekannten Knall an den Tag, der ihre Hoffnung so grausam knicken zu wollen schien, erinnert wird, trifft sie beim Umwenden auf das Blatt, das immer noch im Buche liegt, und liest, mit stiller Freundlichkeit: „Und wenn du wärest gleich da, wo die Sonn‘ aufgehet!“
Die Sonne ging jetzt über zwei glücklichen Menschen auf, die wohl sagen konnten: „Dein Herze bleibt mir, mein Herze bleibt dir!“ und wenn der Abendstern am milden Himmel glänzt, so sieht er abermals zwei glückliche Menschen, die nach vollbrachten Tagewerk froh plaudernd auf der Bank vor ihrem Hause sitzen.
Jeden Sonntag vor der Kirche kommt der Vogt mit der Vögtin herüber. Seit er nichts mehr gegen den Konrad einzuwenden hat, weil der wohl sein Schwiegersohn ist, glaubt auch dieser zu finden, dass der Alte kein so übler Mann sei. Wenigstens hat er die harte Schale abgelegt, und gleicht einer alten Nuss, die zwar vielleicht etwas ranzig, aber im ganzen doch immerhin genießbar ist. Wenn er dann wohlgefällig mit dem dickbackigen kleinen Konrad vor dem Spiegel steht, so sagt er oft: Der wird wie sein Großvater, er schlagt mir nach. – Gott gebe nur, dass er nicht gar so eigensinnig wird! pflegt die Vögtin jedesmal darauf zu bemerken.
„Hoffnung hintergehet zwar, Aber was wandelmüthig; Hoffnung zeigt sich immerdar Treu gesinnten Herzen gütig!“ v. Logau
Das untere Tor zu Hüfingen. Abgebrochen im Jahre 1829. Gemalt von Karl von Schneider 1909.
Zu den Hüfinger Stadtanlagen gehörte das untere und das obere Tor. Im Jahre 1814 wurde zuerst das obere Tor in seiner bisherigen Form abgerissen und neu überbaut und später wurde das untere Tor abgebrochen. Dies war nötig geworden, wegen der großen Frachtwagen (Chronik von August Vetter 1984).
In dem Abschnitt beschreibt Lucian Reich auch wieder das Jakobifest in Hüfingen das am 25. Juli gefeiert wird.
Das Sommergewitter das Konrad erlebt erinnert an den Großbrand von Fürstenberg am 18. Juli 1841. Da die Geschichte um das Jahr 1825 spielt und die Wanderblühten 1855 geschrieben wurden, war Lucian Reich seinen Protagonisten hier etwas voraus.
Die Rettung des Gnadenbilds beim Feuer am 18. Juli 1841 in Fürstenberg von Hans Schroedter in St. Maria
Hexenberg
Der Hexenberg in Hüfingen, wo sich Konrad hinter einem Schlehenbusch versteckt hat, ist schon lange zugepflastert. Aber auch in Hüfingen wurden dort bis ins 18 Jahrhundert unzählige Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt. Allerdings waren die meisten Hexen damals noch Frauen, im Gegensatz zu den nostalgischen „Männerhexen“ die heute auf der Fasnet Schabernack betreiben.
In der Gemeindeversammlung am 6. Juni 1634 war das Signal zur allgemeinen Hexenjagd gegeben worden. An diesem Tag wurde eine alte, als Hexe verrufene Bettlerin „Anna Beckhin“ genannt, vors Amt geführt und peinlich befragt. Ein Bündnis und Buhlschaft mit dem Teufel gab die Beschuldigte ebenso zu wie die Teilnahme an Hexentänzen und die Schädigung von Menschen und Tieren durch Zauberei. Auf die Frage nach Gespielinnen gab sie an „Anna Bennerin, Anna Scheurin, Agatha Flammin. Alle wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
*Chronik von August Vetter 1984
Nach der Predigt erfolgte ein feierlicher Umgang durch die Stadt, wobei sechs schmucke Jungfrauen in Schappeltracht das blumengeschückte Muttergottesbild trugen. Hierauf begann das Hochamt.
Das Buch habe ich hier 2021 veröffentlicht. Allerdings veraltet auch eine Webpage ziemlich schnell und die nächsten Monate möchte ich die einzelnen Kapitel aktualisieren. Deswegen werde ich jedes aktuelle Kapitel wieder nach vorne kramen. Das alte Buch mit der sehr eigenwilligen Schreibweise in Frakturschrift hatte ich damals vorgelesen, um den gesprochenen Text von einem Programm namens f4transkript in Buchstaben umzuwandeln. Den umgewandelten Text habe ich danach bearbeitet, da viele der Wörter dem Programm nicht bekannt waren. Aus diesen Gründen ist der Text ein Gemisch aus alter und neuer Schreibweise. Was es in den verschiedenen Kapiteln des Buches gibt, ist diese vorgelesene Tonspur mit dem Transkript in schwarz. In blau sind unten Erklärungen dabei.
Jedermann kennt den Volksglauben, nach welchem es keinen Samstag im Jahre gibt, an dem nicht wenigstens ein Stücklein blauen Himmels zum Vorschein kommt. Man sagt, die himmlische Haushaltung sei zu Gunsten Marien’s ausdrücklich so eingerichtet worden, damit unsere liebe Frau den frischgewaschenen Schleier jeden Sonntag trocken habe, um in die Kirche oder über das Gebirge gehen zu können.
Den Verweis hierfür mögen Wetter- und andere Propheten führen. So viel ist entschieden gewiss, dass zu Anfang der 20er Jahre, am 24. Juli, dem Samstag vor dem Jakobifeste, das zufällig auf den Sonntag fiel, der klarste blauste Himmel sich über dem alten Städtlein Hüfingen wölbte. Damals war sein Aus- und Eingang noch jeglicher mit einem Tore gesegnet; und hing noch ein gutes Stück der verwitterten Stadtmauer umher. Die Sonne stand schon tief. Auf dem Gartenhängen waren da und dort weiße Kleidungsstücke von jener Gattung aufgehängt, die ein redliches Gemüt geradezu Hosen zu nennen wagt, sie sahen frisch gewaschen und appetitlich aus und hatten eine kriegerische Bedeckung von Säbelkuppeln und Fangschnüren. In der Ferne hörte man trommeln. Buben von zehn, zwölf Jahren marschierten einen entlegenen Feldweg hin und übten sich in dieser nützlichen Kunst. Auf den Lauben (Galerien) der Häuser wurden dunkelblaue Uniformen mit weißen Aufschlägen ausgeklopft. Wer im Felde zu tun hatte, der machte sich früher als gewöhnlich heim, um noch so Manches für morgen herzurichten. Der hatte sein Säbelgefäß und die Rockknöpfe noch mit Ziegelmehl abzureiben, dieser mußte sein Tschako noch lackieren, jener erwartete vom Schuhmacher die neuen Stiefel, die er morgen einweihen wollte. Alles sprach nur von morgen und freute sich des schönen Wetters.
„Wenn es nur auch so hält“, sagte der alte Hafnermeister, in den er seinen Sappeursbart, den er morgen anlegen wollte, wieder ein wenig heraus ausstaffierte. „Es bleibt gut“, bemerkte ein Nachbar, der sassianene Gerbermeister. „Mein Laubfrosch sitzt jetzt schon seit vorgestern früh hoch auf der Leiter, und das Männle am Rathausfähnle läßt gutes Wetter supponieren.“ „Es wird einen merkwürdigen Zulauf von Fremden geben“, erwiderte der Andere. Und was war denn das für ein Tag, auf welchen so ausgebreitete Zurüstungen gemacht wurden? Es galt nichts weniger, als das Fest des heiligen Jakobus, Kirchenpatrons von Hüfingen, das seit uralten Zeiten mit geziemender Würde begangen wird.
Zur Zeit unserer Erzählung war dieser Tag für die ganze Baar sozusagen ein Volksfest, zu welchem die Gäste von nah und fern zusammenströmten. Nicht wenig zum Glanz des Tages trug eine bürgerliche Miliz und ein Musikkorps bei, welche beide nach dem Muster anderer kleinen Städte auch hier errichtet worden waren. Die Musik, von ihrem unermüdlichen Kapellmeister aufs trefflichste eingeübt, hatte den Beifall aller Hörer und die wackeren Musketiere exerzierten und manövrierten, dass es eine Lust war, ihnen zuzusehen. Und weil dazumal noch nicht jeder alte Student und Gevatter Handschuhmacher sich einbildete, ein größerer Mann zu sein, der das Volk beglücken und Deutschland umgestalten müsse, so ginge alles im besten Contento, zur Freude für Jung und Alt.
Der damalige Major und Bürgermeister war ein Kriegsoberster, der trefflich Manneszucht zu halten wußte, und recht stattlich sah es aus, wenn er in der Uniform mit kurzen hirschledernen Beinkleidern und Suwarowstiefeln, ähnlich einem Erzherzog Karl oder Fürst Schwarzenberg, vor der Fronte stand.
Die Seele der Armada von Hüfingen aber, wenigstens wenn man ihn selbst hörte, war der alte Marte, der zu dieser Stunde noch auf der Stiege hinter seinem Hause stand und bedächtig das Wetter beobachtete, ob die Sonne kein Wasser ziehe oder ob der Wind sich nicht drehe. Wahrscheinlich wäre er noch lange so gestanden, wenn nicht ein kleiner Bub in der Eigenschaft eines Feldjägers atemlos und schwitzend daher gelaufen wäre mit der Meldung, alles sei versammelt, man warte nur noch auf ihn.
Gedachter Marte war der Feldwaibel beim Corpo, der die Rekruten einschulen mußte, und zu diesem Behufe hatte er auch das Exerzieren gründlich studiert bei den Österreichern. Unter vier Augen ließ er oft Winke fallen, dass selbst der Major „das Meiste von ihm habe“. „Gleich!“ sagte er, „gleich werd‘ ich erscheinen.“ Er rückte noch einmal seine Waffen zurecht, und eilte durch das Städtlein, wo vor allen Häusern gekehrt, an allen Brunnen gefegt und gewaschen wurde, hinaus auf den Anger vor dem Schützenhause. Sobald er anlangte, stellte sich das Bürgerkorps in Reih und Glied und begann sämtliche Schwenkungen und Manövers, welche das morgige Fest verherrlichen sollten, zur Vorübung auszuführen. Hinter her aber zog ein Haufen von Buben mit Bohnenstecken statt der Gewehr, und machten alle Exercitien glücklich nach.
„Stellt euch“, sagt der Major und Bürgermeister, als diese beendet waren. „Stellt euch nur morgen auch Alle präzis ein und nehmt euch zusammen, besonders was das Feuern anbelangt, dass wir den alten Ruhm nicht einbüßen“.
Nach dieser öffentlichen Anrede zog er den Feldwebel Marte und den Korporal-Nachtwächter auf die Seite und flüsterte diesen seinen Vertrauen zu: „Ihr Leut‘, ich fürcht‘, dass uns die Zwei“ – hier winkte er verstohlen gegen zwei Rekruten hin – „morgen bei den Salven Confusion machen. Entweder schießen sie vor, oder, was noch schlimmer, sie laden unrichtig. Es wird gut sein, wenn sie morgen gar keine Patronen erhalten.!
„Herr Major“, warf der Feldwaibel mit wichtiger Miene ein: “ das wird’s nicht wohltun; wofür verzürnen die Leutele. Ich weiß ein besser Mittel, laßt mir mich machen. Morgen, bevor und dass wir einmarschieren, will ich tun, als visitiere ich ihre Musketen, und werde dann unvermerkt jedem einen tüchtigen Lichtstumpfen auf die Schwanzschraube hinunterstoßen; dann schießt keiner vor, es gibt kein Unglück, und die Leut‘ haben ihre Plaisir.“ – Der Major gab dieser Maßregel seine oberbefehlshaberliche Genehmigung und commandierte demnächst „Auseinander“, worauf sich die Buben schon längst gefreut hatten, weil sie jetzt ihren Alten die Musketen heimtragen durften.
Während alles dieses in der Stadt vorging, schritten zwei junge Burschen die staubige Straße von Bräunlingen her. Der eine, mit der Sense auf den Rücken, kam aus dem Felde. Der andere schien auf der Reise begriffen zu sein; er mochte etwa 24 Jahre zählen, ein stämmiger Bursche mit braunem Haar und rötlichem Backenbart. Die Reise konnte aber nicht allzu weit gehen, denn er hatte offenbar seine Sonntagskleider an: Über den neuen schwarzen Lederhosen, den neuen grünen Samtschoopen und das rote Leible. In der Hand trug eine schwanke Haselnussgerte, mit welcher er von Zeit zu Zeit durch den Schwarm Mücken hieb, der vor ihnen hertanzte. K
„Konrad“, sagte der mit der Sense, „das kann ich dir sagen, seit du auf dem Hofe bist, kennt man dich fast nicht mehr, du bist ein Weltkerle geworden“. „D’rum bin ich gesund, Gott Lob“, erwiderte der im Sonntagsstaat, „Essen und Trinken schmeckt mir, und überflüssige Sorgen mach‘ ich mir auch keine“. „Ja, wenn eine gewisse nicht wär!“ „Du hast gehört läuten, und weißt nicht wo, Franzsepp“, meinte Konrad. „Was soll denn das für eine gewisse sein? – Vom Hörensagen lügt man gern“. – Er suchte ablenkend das Gespräch auf eine andere Materie zu leiten, uls sie bald hernach gegen das Städtlein kamen, so dass man die vergoldeten Zeiger der Turmuhr sehen konnte, machte er ein Paar von den blanken runden Knöpfen an dem roten Leibe auf, zog eine Uhr an silberner Kette heraus, und nachdem er sie zuerst an das Ohr gehalten hatte, ob sie noch gehe, verglich er sie mit der Kirchturmuhr.- „Sechs Uhr!“ , sagte er, „Die geht eine halbe Stund‘ früher als die Bräunlingerin. Sechse, Siebene – bis um Achte bin ich daheim.“ „Ei was! kannst’s du auch Neune werden lassen“, rief der Franzsepp. „Jetzt müssen wir noch einen Schoppen Schweizer oder Markgräfler miteinander trinken in der Sonne, denn so jung kommen wir doch nicht mehr zusammen.“ „Nichts da, sag Dank, ein andermal! für jetzt b’hüti Gott!“ „Aha, es zieht den Menschen eben heim; ei, das muss ja ein großmächtiges Zugpflaster sein, das so stark zieht. – Aber morgen kommst doch zum Fest?“ „Ja, freili'“, rief Konrad zurück, der sich schon eilenden Fußes entfernte. Auf der steinernen Brücke, die vor dem Tore über die Bregach führt, machte er Halt und sah den eben zu Ende gehenden Evolutionen auf dem Anger drüben zu. Die Brücke ist ein Hauptschauplatz im Leben der Bürger dieser guten Stadt. Besonders am Sonntag nach dem Mittagessen wandern sie in aller Seelenruhe zum Tore hinaus und lassen sich auf der breiten steinernen Brustwehr um den heiligen Johann von Nepomuk nieder. Denn unter Gottes freiem Himmel spricht sich ja gar so gut von Allem, was die Woche über passiert, von Altem und Neuen, von Kriegs- und Friedenstagen. Diese Sonntagsfreude ist aber einem fleißigen Bürger wohl zu gönnen, sie kommt auch wohlfeiler, als die im Wirtshause.
Heute, an so einem geschäftigen Abend, war natürlich niemand auf der Brücke zu sehen als ihr Patron, der seit alten Zeiten in Stein gehauen, auf der Brustwehr steht. Zur Feier des kommenden Festes hatte man ihm bereits einen großen frischen Blumenstrauß statt des alten verwelkten in den Arm gegeben; er schien sich aber wenig daraus zu machen. Mit gesenktem Haupt und bedächtiger Miene sah er, wie immer, dem Lauf des Baches nach, der in einiger Entfernung die Stadtmühle treibt.
Der Wanderer verließ die Brücke und gegen den Fußweg hin, dadurch abgemähte Wiesen führte. Er achtete wenig auf die im Wege liegende, mit Kreuzen und Namen bezeichneten Bretter, die den Vorübergehenden zum Gebet für die Verstorbenen ermahnen, und doch hielt er mitten in seinem Geschwindschritte oft plötzlich ein, und bald ging es wie eine hoffnungsreiche Morgensonne in seinem frischen Gesichte auf, bald zog sich die gebräunten Züge wieder zusammen, als ob finstere Nacht und böses Unwetter im Anzug wäre. Solches Zögern verschaffte ihm noch einen Genuß, den kein echter Hüfinger diesen Abend entbehrt haben würde. Denn nachdem die Betglocken, welche in der Umgegend den kommenden Festtage verkündigten, ausgeklungen hatten, erfüllte die türkische Musik, nach langer gründlicher Probe auf der Rathaussstube, die Straßen mit ihrem Getöse, und in ihrer Gesellschaft rasselte der Zapfenstreich weit in die still gewordene abendliche Gegend hinaus. Er traf das Ohr des Wanderers, der aus der Zerstreuung auffuhr und plötzlich seine Schritte beflügelte.
Was trieb ihn denn so vorwärts, und hier sind immer wieder stille stehen? Dachte er an die Zeit, wo er noch mit seinem Ältern zu dem Hüfinger Feste gegangen war? oder an laue Sommerabende, wie dieser, wo er mit seinen Kameraden bis in die späte Nacht hinein auf der Bank vor dem Hause sang und schwatzte, und die Mädchen ihnen von oben zu den offenen Kammerfenstern heraus gute Nacht wünschen? Oder ging ihm die „Gewisse“, mit der ih der Franzsepp aufgezogen hatte, im Kopf herum? –
Hier ist nun der Ort, wo ihr mich meinetwegen unterbrechen mögt. Unser Freund hat seine zwei guten Stündlein von Hüfingen zu dem Dorfe zu gehen, wohin er trachtet. Wir können ihn jetzt verlassen und an einen anderen Weg einschlagen; wenn wir unsere Schritte fördern, so kommen wir immer noch zur gleichen Zeit mit ihm an.
Nun, da werden wir eben in die Gegend des russischen Feldzuges zurückgehen müssen. Richtig. Der Marsch ist so weit nicht, als es den Anschein hat. Also, wie Konrad’s Eltern starben und sein und sein Xaver aus Russland, wo er im kühlen Schneebette schlief, nicht wiederkehrte, da hatte der 13-jährige Waisenknabe nur noch einen einzigen älteren Bruder. Der aber konnte sich selbst noch nicht helfen; er ging in den Dienst zu einem Vetter, der einen Hof oberhalb Mistelbrunn besaß. Durch Rührigkeit und Sparsamkeit hatte sich der Knecht bald so emporgeschwungen, dass er als Pächter des fürstlichen Meierhofes zu Waldhausen sich dauernd wieder niederlassen konnte. So blieb denn Konrad allein im heimatlichen Dorfe zurück. Dort nahm ihm ein Verwandter zu sich, der keine Kinder hatte, aber sehr für möglich war. Dieser Vatersbruder, den man den „Riedbauer“ nannte, war ein langer, hagerer Mann und sah fast dem hölzernen heiligen Antonius ähnlich, der auf dem Seitenaltar der Dorfkirche stand. Er sprach „wenig um einen Groschen“, wie man zu sagen pflegte; im Übrigen, wenn man ihn näher kannte, war er kein so übler Mann. Seine Frau war im Dorfe nicht sehr beliebt, auch stand sie keineswegs unverdient im Rufe des Geizes, denn sie wäre in der Tat im Stande gewesen, „die Laus und den Balg zu schinden“. Dieser trockene, einsilbige Vetter und dieses knickrische Weib war nun alles, was Konrad noch im Leben besaß, und kühle Tage kamen für ihn; denn was half es ihm, dass ihn sein Vetter im Stillen ganz gut leiden konnte? Der ließ sich nie darüber aus, und da ist der arme Konrad nicht merkte, so machte es ihm auch nicht warm. Arm aber war er wie eine Kirchenmaus; denn nach dem Verkauf seines elterlichen Gutes war über die Schulden hinaus so viel wie nichts übrig geblieben, und für ihn gab es keine Hoffnung, jemals ein freier Mann zu werden. Er wurde anfangs zum Hüten verwendet, um allmählich zu der Würde eines Oberknechts emporzurücken.
Dazumal war noch die Ross- und Nachtweiden im Gange, und mit ihnen bestand noch die alte Rossbubenverfassung, welche seitdem auch von dem raschen Lauf der Zeit umgestürzt worden ist. Da nämlich die jüngeren Hüter den ganzen Sommer über mehr draußen als daheim lebten, so war es kein Wunder, dass sich nach und nach ureigene Gesetze und Einrichtungen, die von den Alten respektiert wurden, unter ihnen gebildet hatten. So oft sie das erste Mal im neuen Jahre „ausfuhren“, das heißt die Rosse auf die Weide trieben, wurde ein allgemeinenes Turnier gehalten, worin sie einzeln mit einander kämpfen mussten. Die vier Stärksten, die in diesen Ringspielen Meister wurden, hießen die „Stillieger“ und waren die Oberhäupter der anderen. Sie lagen nämlich still, das heißt müßig und behaglich, auf dem grünen Rasen ausgestreckt, und während sie ein Spiel zusammen machten oder sich sonst belustigten, mußte ihre Unterthanen alle Arbeit für sie tun. Sie mußten ihnen die Pfeifen stopfen, anzünden, die Rosse auf- und abzäunen und, wenn sie sich verlaufen hatten, aus dem „Schaden“ holen. Mit einem Wort, die Viere waren die Herrscher und bei Streitsachen auch die Richter des kleinen Hirtenvolkes. Aber es galt auch etwas, um zu solchem königlichen Ansehen zu gelangen; denn der Ringkampf war kein Kinderspiel, und es mußte nicht weniger als Arm und Bein eingesetzt werden. So geschah es unserem Konrad, dass er am Wahltage im Zweikampf einen unglücklichen Fall tat und den Arm brach. Das Schicksal wollte nicht, dass er ein Stillleger werden sollte. Der Barbier des Orts, das sogenannte „Katzendoktor“, unterwarf ihn einer schmerzlichen und langwierigen Kur. Da hatte er nun, obgleich sein Vetter, der ihm gesetzte „Pfleger“, einen wirklicher Pfleger an ihm wurde, voller Muße, die Geduld zu lernen, zu der das Leben seine Insassen auf diese oder jene Weise erzieht.
Aber er hatte auch noch Muße, um anderen Stimmungen und Empfindungen in sich wachsen zu lassen. Konrad ging jetzt in sein 18. Jahr, und begann eben, wie es in diesem Alter zu geschehen pflegte, die Mädchen des Dorfes mit anderen Augen anzusehen, als sonst. Während er nun stille lag, nur freilich nicht auf so angenehme Art wie seine Kameraden draußen auf der Weide, konnte er seine Gedanken nach Herzenslust spazieren führen, und da mußte er bald die Erfahrung machen, dass dieselben eine Richtung nahmen, die er sich kaum vermutet hätte. Was er auch tun und wohin er sich wenden mochte, seine eigensinnigen Gedanken gingen immer denselben Weg. Zu wem spazierten sie aber? War es des Storchenfrieders Mareille mit den schönen roten Backen und den vielen Ringen an den Fingern? Oder des Tony’s „zumpferne“ Agnes? oder eine von des Müllers Töchtern? Keine von all diesen, so oft er sich auch ihre Tugenden und Vorzüge ausmalen mochte. Oder war es gar am Ende die, welche als Bub bei jeder Gelegenheit geneckt und ihr zu Leid gelebt hatte nach Leibeskräften, die um seinetwillen in Tränen zu sehen, ihm ein Genuss gewesen war? Ja die, die war’s, des alten, vermöglichen Vogts sein feines Mariannle, das er einst so gern in die Hölle geholt und gepeinigt hätte. Jetzt war sie groß und schön geworden, und mancher junge Bursche des Dorfes warf ein Auge auf sie oder auch zwei.
Freilich hätte er lieber auch jetzt wieder, wenn ihr liebliches Bild vor seinen Augen trat, ein böses Gesicht gemacht, nur damit sie ihm auf immer aus dem Sinne schwinden solle, denn er wusste wohl, welch Kluft sei, zwischen der reichen Tochter des Vogts und einem armen Bauernknecht. Er konnte aber nicht, denn immer und immer mußte er sich wieder an die freundlichen Augen erinnern, mit denen sie ihn letztlich angeschaut hatte, so dass es ihm dabei war, als sähe er in das Paradies hinein. Ihr roter Mund und ihre blauen Augen waren jedoch gegen alle Menschen freundlich, und er durfte sich das nicht zu sehr zu seinen Gunsten auslegen.
Als er aber das erste Mal wieder aufstehen und zu seinem Kammerfenster oben heraus sehen durfte, da konnte er noch nicht umhin, es für eine gute Vorbedeutung zu nehmen, dass es das erste Menschenkind, auf das seine Augen fielen, Niemand anderes war, als das Mariannele. Sie ging gerade unten vorbei, kehrte das Köpflein ein klein wenig herauf, erblickte ihn, rief ihm einen freundlichen Gruß zu und erkundigte sich nach dem kranken Arme. Durch diesen Arm aber rann es zur Stunde wie ein Strom von Genesung, denn es war derjenige, der zunächst am Herzen liegt.
Abermals kamen Tage, die nicht Jedem gefallen. Konrad machte sich mit denen, die seines Alters waren, auf nach der Amtsstadt zur „Ziehung“. Zu Fuß war sie ausgezogen, das ganze Dorf hatte ihnen Glück gewünscht. Abends kamen sie auf einem Leiterwagen, den sie mit der konscriptionspflichtigen Mannschaft des nächsten Dorfes zusammengenommen hatten, zurück. Schon in weiter Entfernung hörte man sie singen und johlen.
Als der Wagen in’s Dorf hineinfuhr und an dem Hause, an welchem die Bürger und Mädchen beisammen standen, vorbeifuhr, stimmten die lärmenden Rekruten ein Lied an. Und ein Buckliger, den der lustige Zufall Nummer Eins hatte ziehen lassen, brachte mit kreischende Stimme dem Soldatenstand ein lautes Vivat.
Die Mädchen lachten. Als ihnen aber Konrad den Hut, worauf eine gezogene Nummer steckte, mit den Worten: „Verspielt! Nummer 17!“ entgegenhielt, da wurden die gute Mariann‘ blass bis in den Hals hinunter, und wenn der Konrad nicht, wie jeder verliebte junge Mensch, blind gewesen wäre, so hätte ihm doch an seinem Rekrutentage ein Licht aufgehen müssen.
Ich bin eigentlich froh, sagte er zu sich, als er sich von der lärmenden Gesellschaft losgemacht hatte, ich bin froh, dass ich fort komm‘. Je weiter, je lieber, je eher, je besser. Auf die Mariann‘ kannst du dir keine Hoffnungen machen. Sie ist hübsch – dazu reicher Leute, Kind. Du hast nichts, und wo nichts ist, da hat der Kaiser ’s Recht verloren. Und zudem, setzte er hinzu, indem er sich selbst einen Nasenstüber beibrachte, wer sagt dir denn, dass sie dir hold ist, einfältiger Kerl? Also nur fort – Unglückskind – fort, fort!
Doch so schnell sollte es nicht gehen. „Hast du denn gar keine Fehler?“ Fragte ihn sein Vetter nach einiger Zeit, als er sich zur Visitation stellen mußte. „Zwanzig Jahre und kein Fehler!“, sagte die Riedbäuerin dazwischen. „das wär mir was! Jugend hat kein‘ Tugend.“ „Von solchen Fehlern ist nicht die Red‘. Annekäther“, bemerkte der alte Rittbauer. „Keinen, dass ich weiß“, erwiderte Konrad. „Den linken Arm kann ich nicht mehr ganz biegen, seit ich ihn gebrochen habe.“ „Das kannst du auf alle Fälle bei den Herren angeben“, sagte sein Pfleger. – „Ja“, dachte Conrad, „das werd‘ ich wohl bleiben lassen; Soldat sein, das ist’s ja eben, was ich will.“ Aber das Schicksal hatte ihn so wenig zum Helden als zum Stilllieger bestimmt. „Was ist’s denn mit dem Arm da?“ Fragte der Regimentsarzt bei der Visitation, jedoch in einem anderen Ton, als dass Mariannle einst gefragt hatte. „Ich hab‘ ihn vor zwei Jahren gebrochen“. „Untauglich!“ hieß es. Denn es war eben für selbiges Jahr ein besonderer kräftiger Schlag gewachsen, und die Herren wußten, dass noch ganz andere Kerle vor der Türe standen.
Nu, weit ist’s auch nicht gefehlt, dachte Konrad, als er aus dem Amzhause ging: das hab‘ ich schon gemerkt, dass der Soldatenstand just kein Schleckhafen ist. – Ich weiß nicht, woher er sich diesen Werks genommen hat. Aber als er in die Abstandsstube unter das Maß gestellt wurde und nicht gleich ganz aufrecht dastand, trat ihm der Unteroffizier auf die Zehen, und, ihm einen heimlichen Rippenstoß verabreichend, murmelte er in den Bart hinein, „Aufrecht, dummer Bauerntölpel!“ Wie aber der Konrad auf dieses mit einem grimmigen Blick seine ganze Länge entfaltete, ließ er ihm das Maß so derb auf den Kopf fallen, dass der arme Rekrut sich darüber verschütteln mußte.
So hat ihm also das Vorhaben, durch die Nötigung der Umstände aus seinem heimatlichen Dorfe zu entkommen, fehlgeschlagen, und es blieb mir nichts anderes übrig, als ein freiwilliges Losreißen. Denn aushalten konnte er es länger nicht. Mußte er nicht tagtäglich mit ansehen, wie sich die vermöglichsten Bursche um des Vogts Tochter bewarben?
Die Familie des Mädchens gehörte zu den wohlhabendsten der Baar. Seit mehr als einem Jahrhundert war das Vogtamt beständig bei diesem Hause verblieben. Der älteste Besitzer des Stammgutes hatte unter anderem das Recht, mit eigenem Wappen zu siegeln, und selbst die regierenden Fürsten beliebten früher Zeit während der Jagd öfters ihre Einkehr in dem wohlgelegenen Bauernhause zu nehmen.
Kein Wunder also, dass der Vogt einen gewissen angeerbten Stolz und behäbige Selbstgefühl zur Schau trug. Zudem war er der Mann, der noch viel auf alte Sitten und Bräuche hielt. So herrschte zum Beispiel in dem Dorf noch die Sitte, die Gemeindeversammlungen im Freien unter der alten Linde bei der Kirche abzuhalten. Am Sonntag, wenn Wichtiges verhandelt werden sollte, postierte sich der Bannwart jedes Mal an die Kirchtür und entbot dem herauskommen den Bürger mit den Worten: „Ihr Mannen, ’s ist G’meind, Ihr sollet warten unter der Linden!“
Als einige Neurer später darauf drangen, die Versammlung, wie bereits anderwärts, im neuen Schulhause abzuhalten, stand sich der Vogt, der bei dieser Gelegenheit in eigensinnigen Widerspruch und Wortwechsel gerathen war, bewogen, das Vogtamt abzugeben, und vom Gemeindewesen gänzlich sich zurückzuziehen.
Um diese Zeit waren namentlich Zwei, der Sohn des Krämermichels und der Sternenwirtssohn: die waren nach anderthalb jähriger Abwesenheit wieder in’s Dorf zurückgekommen, trugen städtische Kleider und konnten etwas französisch. Diese „Modebuben“, wie sie von den Bauern genannt werden, fanden natürlich das Heimatleben gar nicht mehr nach ihrem Sinn. Anfangs taten sie, als ob sie gleich wieder umkehren wollten; der eine wollte sich in Straßburg oder Lyon, der andere in Bern oder Lausanne ein Geschäft gründen. Nur ihren Eltern zu gefallen, entschlossen sie sich endlich zu bleiben. So sagten sie wenigstens. Für diese Aufopferung aber machten sie sich durch stehende Redensarten bezahlt. „In Frankreich ist es so und so“ pflegte der Eine, der ein halbes Jahr im Elsass gewesen war, bei jeder Gelegenheit zu sagen. Der Andere hatte die Parole umgekehrt: „So ist’s in der welschen Schweiz nicht“, warf er hin, so oft ihm etwas mißfiel.
Leider aber stieß er erste, der Franzos‘, auf etwas, das er in Frankreich nicht so gefunden zu haben schien; denn er begann auf einmal der Mariann‘ auf’s Angelegentlichste den Hof zu machen. Als Konrad das gewahrte, so litt es ihn nicht mehr im Dorfe.
Sein Bruder hatte ihm schon früher den Antrag gemacht, zu ihm auf dem Maierhof zu kommen, um den Dienst eines Oberknechts bei ihm zu versehen. Ein Antrag, der unserem Konrad eben recht kam.
Am „Bündelstage“ nach Weihnachten, wo das Gesinde wechselt, schnürte auch er sein Bündel. Sein wortkarger Vetter machte ihm den Abschied nicht sonderlich sauer. Seine Kleider hatte er einem Krämer aufgeladen, und eines Morgens, von dem ich nicht weiß, ob er schön war, verließ er das Dorf mit seinem Bündeleien, das er in ein rotes Taschentuch eingewickelt trug. Es war ein eigener Zufall, dass das Mariannele just unter der Hausthür stehen mußte, als er vorüberkam. Sie wünschte ihm Glück auf den Weg und sah ihm eifrig nach. Seines Vetters großer Hofhund aber begleitet ihn noch eine Strecke vor das Dorf hinaus; dann trollte er sich wieder heim.
Auf der Höhe blieb Konrad stehen und sah sich um. Einen Schritt und noch einen, da war sein Dorf hinter dem Walde verschwunden. Aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn.
Der Pachthof, zu dem wir den jungen Landwirt begleiten, liegt auf einem stillen, waldbegrenzten Tal hinter dem Städtlein Bräunlingen, auf der Grenze zwischen der Baar und dem Schwarzwald. Auf kahler Anhöhe schauen die Überreste einer Burg. Das Wiesengelände, in dessen Mitte der Maierhof, ein weitläufiges steinernes Gebäude mit zackigen Giebeln sich erhebt.
Wenn es wahr ist, dass Tätigkeit und Unmuße am Besten geeignet sind, von Fällen von selbstquälerischen Sinnen und Grillenfangen abzulenken, so hätte es hier unzweifelhaft unserem Konrad gelingen müssen, seine Gedanken loszuwerden. Denn da galt es tüchtig Hand anzulegen von morgens früh bis abends spät. So sehr der Oberknecht und Gehilfe aber auch mit Arbeit überladen war, fand er dennoch Zeit genug, sich wachend und schlafend an die Heimat zurück zu träumen. –
Wenn die Schneestürme durch die winterliche Gegend wehten oder in kalten, hellstirnigen Nächten das Eis im nahe Teiche krachte, und Abends das Gesinde um den warmen Ofen sich gelagert hatte, führten ihn seine Gedanken nach Hause. – Jetzt, dachte er, werden sie beim Pfleger um den runden Tisch sitzen, und die Weiber spinnen, dass der Ofen zittert, und die Männer liegen auf der Ofenbank. Jetzt wird der alte Kasper hereinkommen, er reibt die Hände, klagt über die Grindskälte und setzt sich in den Herrgottswinkel, wo er zu erzählen anhebt.
Von den „alten Zeiten“ kommt er auf sein Lieblingsthema, die Geister, um so lieber, wenn der Wind gerade recht schauerlich um Kamin und um die Dächer rumort und die „Nachtfrau“, wie er sagt, um die Häuser schleicht. – So hörte ihn Konrad alle die alten Geschichten wieder vorbringen: vom „Berchenappele“ und anderen gespenstischen Weiblein, die in den Wäldern zwischen Hüfingen und seinem Heimatorte ihr so neckisches Wesen treiben sollen. – „Der Krieg“, schloss der Alte gewöhnlich, „hat die Geister alle vertrieben, d’rum hört man auch so wenig mehr davon“.
Solche und ähnliche Szenen malte sich in ungestörten Augenblicken der Träumer gerne aus. Aber der Besuch in der Stube seines Pflegers war gleichsam nur Vorwand, denn von da begaben sich seine Gedanken alsbald um ein Haus weiter zu kehrten in das Vogtes Heimwesen ein, obgleich sie daselbst eigentlich ein kein Hausrecht hatten. – Doch wir dürfen uns nicht zu lange aufhalten, wenn wir heute noch, da er sich leiblich der Heimat nähert, gleichen Schritt mit ihm halten wolle, denn seht, er ist auf einmal bedeutend in der Marsch geraten, und wenn ihm das „Appele“ unterwegs keinen Streich spielt, so kann er noch zeitig genug kommen, um den alten Kaspar von ihm erzählen zu hören.
An einem hellen Februartag ging Konrad, vor der Sonntagskirche, auf einen der nächsten Berge, die „Windstelle“ genannt, und erstieg hier die höchste Tanne, um nur wieder einmal den Kirchturm seines Dorfes zu erblicken. Er hatte eine weite, weite Aussicht da oben, über all die dunklen Tannenwälder hinaus, in die Baar, bis an den blauen Osterberg und den hohen Randen. Da saß er denn, während ringsum die vielen Morgenglocken zusammen klangen, und sah und suchte; aber er konnte den wohlbekannten Turm nicht finden. Da, sagte er, indem er mit der Hand gegen den Fürstenberg wies, da muss er liegen. Eine ganze Stunde saß er auf dem Baum, bis sich die Ferne in bläulich weißen Duft gehüllt hatte; dann stieg er ein wenig mißmutig herunter doch war es dabei wunderlich zu Sinne, just als schon der Frühling anbrechen wollte.
Als er auf dem Hofe zurückkam, grüßte ihn ein Landsmann und richtete ihm aus, dass seine Base, die Riederbäuerin, gestorben sei. Der gute Vetter dauerte ihn herzlich, denn er wusste wohl, dass ihm seine Frau trotz ihres unfreundlichen Wesens unentbehrliche geworden war. Die Ehe hatte unter manchen wunderbaren Geheimnissen auch das, dass sie selbst widersprechende Charaktere mit einem unauflöslichen Bande umschlingt, und es gibt Beispiele, dass zwei Leute selbst durch Zanken und Keifen, das einzige Produkt ihres Ehevereins, so aneinander gewöhnt und gefesselt waren, dass der überlebende Teil bald seinen losgelassenen Widerpart nachwelken musste.
Am Donnerstag, sagte, der Bote, sei das erste „Opfer“. Dann überbrachte er dem Konrad noch verschiedene Grüße, darunter aber auch einen ganz besonderen vom – Mariannele.
Letzterer traf ihn wie ein Blitzstrahl. Und es schien kein kalter Streich gewesen zu sein; denn am folgenden Morgen ging Konrad mit entschlossenen Schritten im Hause umher, wie wenn ihm der schwarzwäldische Unternehmergeist in den Kopf gestiegen wäre. Ich wag’s! , sagte er endlich und ging auf seine Kammer. Was er aber wagen wollte, sagte er nicht. Nur war er den übrigen Teil des Tages das Gegenteil von dem, was er Morgen gewesen. Es schien ihn etwas zu gereuen, was er nicht wieder rückgängig machen konnte; er schlicht betreten umher und fast schüchtern, so dass der alte Veitle, der Karrenknecht, vermutete, es sei ihm der Geist begegnet, der in dem Hofe zu weilen sich hören lasse, wenn er mit seinem Viergespann rassend durch das Haus fahre. – So viel ist übrigens gewiss, dass der junge Mensch so zerstreut war, dass er den Pferden den Wasserkübel statt des Heu’s in die Krippe schüttete.
Was hatte er denn gewagt? Es gab Jemanden, dem dies nicht lange ein Geheimnis bleiben sollte. Denn wie das Mariannele den nächsten Abend aus der Vesper kommt, steht ein Schneidergeselle, der früher im Ort gearbeitet hatte, ihr auf dem Weg, richtet er viele hundert Grüße aus vom Konrad, – der sei nämlich bei ihm gewesen auf dem Waldhauserhof – und praktizierte ihr dabei ein Brieflein in die Hand.
Sie wurde blass und rot vor Schrecken und hätte beinahe das schwarz im Goldschnitt eingebundene Gebetsbuch und den Rosenkranz mit den blanken silbernen „Gottesregeln“ (Pathengulden) aus der Hand fallen lassen. Nichts desto weniger flog sie, nachdem sie den Schneider mit halber Stimme gedankt hatte, auf ihr Kämmerlein, wo sie das stark verklebte Brieflein öffnete und unter Herzklopfen las. Von diesem aber liegt das Original bei den Alten und lautet folgendermaßen:
Das Jokobifest war in Hüfingen sehr wichtig und wird auch schon im Hieronymus behandelt.
In Hüfingen ist schon seit dem Mittelalter ein Abzweig zum Jakobusweg. In früheren Zeiten gab es in Hüfingen viele Pilger. Ein Pilger auf dem Weg war deshalb ein Jakobsbruder. Deshalb bemerkt der Hafnermeister (Ofenbauer) mit dem Sappeursbart (sapeur=Steinhauer):
„Es wird einen merkwürdigen Zulauf von Fremden geben“.
Eine etwa 300 Jahre alte Fahne der Jakobuspilgerbruderschaft erinnert noch heute an diese Pilgerwanderungen. Die Jakobusfahne wird an Fronleichnam bei Prozessionen mitgeführt und wurde vom FF Hofmaler Franz Joseph Weiß (*15.02.1735 Hüfingen – 14.06.1790 Donaueschingen) gefertigt (siehe im Hieronymus Kapitel 17). Ebenfalls erinnert der Jakobusbrunnen vor dem Hüfinger Stadtmuseum und der Jakobusaltar in der Hüfinger Stadtkirche St. Verena und Gallus an die Jakobusverehrung.
Fahne der Jakobsbruderschaft
Bildstock zu Ehren des Stadtpatrons St. Jakobus von Bernhard Wintermantel 1987
Im Jahre 1824 fiel der Samstag auf den 24. Juli, also war das Jakobifest auf das sich Hüfingen vorbereitet am Sonntag den 25. Juli 1824.
Lucian Reich beschreibt hier genau die Vorbereitungen in Hüfingen auf das Fest, an dem er selber 7 Jahre alt gewesen ist.
Schützenhaus
Das Schützenhaus stand bis 1839 auf dem Anger beim Farrenstall und die Breg wird in jener Gegend noch immer Schützenbach genannt. 1848 wurde dann im “unteren Angel” ein neues Schützenhaus errichtet. Nach der Schützenordnung des Fürsten Karl Friedrich vom 8. Juni 1744 wurde das “Ordinarii- Wochen- und Gesellenschießen” mit “Bürstenbüchsen” zur Pflicht gemacht. (1)
Das Schießen begann nach dieser Ordnung alljährlich am Sonntag nach Georgi (23. April).
Der Schützenmeister Franz Xaver Reich (der Bruder von Lucian Reich) schrieb am 2. April 1859, dass der Fürst zu Fürstenberg der Gesellschaft das Abbruchmaterial des Kegelhauses im Schloßgarten zum Bau eines neuen Schützenhauses als Geschenk überlassen habe. (1)
Postkarte von 1929 aus der Sammlung Dieter Friedt.
Das Fürstenbergische Kontigent Schwäbischen Kreises (1)
Mit dem „Bündelstag“ ist sicher Mariä Lichtmess gemeint. Dies war einer der wichtigsten Tage im Bauernjahr, da am 2. Februar Knechten und Mägden in der Landwirtschaft erlaubt war, ihren Dienstherrn zu wechseln.
Heiliger Nepomuk in Hüfingen
Ölbild von Martin Menradt 1682 mit der alten Bregbrücke. Foto aus der Chronik von August Vetter 1984
Der Hüfinger Kirchturm hatte es damals den Menschen wohl sehr angetan. Hierzu fällt mir der Ferienbummler von Josef Schelble aus dem Jahre 1899 ein. Hier kann man auch dem Mühlenbach und dem damaligen Stadtmüller begegnen:
Nach der lieben Vaterstadt Die den grünen Kirchturm hat
Der Maierhof und die Schafweide Waldhausen gehörte damals dem Kloster Bebenhausen, einer Zisterzienserabtei, wobei Lucian Reich schrieb „fürstlicher Maierhof zu Waldhausen“. Waldhausen gehörte tatsächlich den Fürsten zu Fürstenberg und war bis zur Eingemeindung nach Bräunlingen selbstständig.
Die „Riedbauern“ lebten vermutlich Richtung Rieböhringen bei Hausen vor Wald, da er ein bis zwei Stunden von Hüfingen unterwegs war, den Fürstenberg sehen konnte und der Vogt gerne im Adler einkehrt.
Das Buch habe ich hier 2021 veröffentlicht. Allerdings veraltet auch eine Webpage ziemlich schnell und die nächsten Monate möchte ich die einzelnen Kapitel aktualisieren. Deswegen werde ich jedes aktuelle Kapitel wieder nach vorne kramen. Das alte Buch mit der sehr eigenwilligen Schreibweise in Frakturschrift hatte ich damals vorgelesen, um den gesprochenen Text von einem Programm namens f4transkript in Buchstaben umzuwandeln. Den umgewandelten Text habe ich danach bearbeitet, da viele der Wörter dem Programm nicht bekannt waren. Aus diesen Gründen ist der Text ein Gemisch aus alter und neuer Schreibweise. Was es in den verschiedenen Kapiteln des Buches gibt, ist diese vorgelesene Tonspur mit dem Transkript in schwarz. In blau sind unten Erklärungen dabei.
„Keine Kohle, kein Feuer Kann brennen also heiß, Wie stille heimliche Liebe, Die Niemand nicht weiß“ Volkslied
„Hoffnung hintergehet zwar, Aber was wandelmüthig; Hoffnung zeigt sich immerdar Treu gesinnten Herzen gütig!“ v. Logau
Was habt ihr da gemacht, Meister Lucian? – Das ist ja ein allerliebste Bildchen! Läßt sich der Freund und Gevatter vernehmen. – Da habt Ihr einmal recht mit dem Griffel ausgedrückt, was in der deutschen Schriftsprache keinen Namen hat und was nur die Schwaben zu erkennen geben können, wenn sie sagen: da sieht’s heimelig aus! Ja, eine ganze Heimat, wo gut wohnen ist, habt Ihr hineingetragen, und es wird nicht weit gefehlt sein, wenn ich denke, es sei Eure eigene, Die Baar, die an den Schwarzwald stößt.-
Wie still und traulich ist es in dieser Haushaltung! Geht ein Friedenszauber von dem schwarz eingebundenen Buche aus, in welchen die Seele der jungen Mutter atmet? Er schwebt hinüber auf das Kind, das einen kräftigen Schlaf der Gesundheit in der mit dem heiligen Zeichen gesegneten Wiege schläft. Er verbreitert sich durch das ganze Gemach mit dem wohlgeordneten reinlichen Geräte, und hat sich auch des behaglichen Haustiers bemächtigt, das vielleicht vorher noch mit dem Kinde gespielt und dann sein Schüffelein rein gemacht hatte. Nur leise wagt der Pendel an der Uhr zu gehen; durch das offene Fenster hauchte frische Gottesluft herein und schmeichelt dem dort stehenden Blumenstock so viel ab, als nötig ist, um die trauliche Stube mit Wohlgeruch zu erfüllen. – Wißt ihr? es gibt ein Bild, das die Jungfrau mit dem Kinde, in dem Propheten lesend, darstellt; es ist bekannt unter dem Namen: Mater nati fata requirens. Nun, sieht das hier nicht aus wie eine Mutter, die in den Geschicken des Kindes forscht? Wollen wir ein bisschen nachhelfen und dem kleinen, runden, dicken, süßträumenden Menschen ein Lebensläufchen zurechtmachen? Aber nicht aus den „swarzen Buochen“ wie Gottfried von Straßburg sagt! Nein, wir wollen’s frischweg aus dem Leben nehmen. Kommt, Meister Lucian, Ihr müßt ein wenig dazu behilflich sein.
Das kann schon werden, sagte er, indem er das Pfeifchen aus dem Munde nimmt, den Schnurrbart streicht und behaglich der blauen Wolke nachschaut, die sich so eben an seiner kleinen gypfernen Venus emporkräuselt.
Wohlan denn, frisch an’s Werk! In der Wiege haben wir ihn einmal, jetzt handelt es sich darum, ihn weiter zu fördern.
Nun, für die nächsten paar Jahre ist das gleich geschehen. „Wachse ’n und trüeihe“, wie Hebel singt: Damit ist alles gesagt, und gilt auch für alle gleich, ob einer mit den Insignien eines Dragonerobersten unter seidener Decke, oder mit dem weißleinen Häublein in der Wiege von Schwarzwälder Tannenholz gebettet ist. „Wachset und trüeihet!“ Es wird hernach schon Rechnung gehalten werden, ob es mit dem Gedeihen des Leibes und der Seele ernst gewesen ist.
Richtig. Also wollen wir ihn derweil den Schutzengeln überlassen, nach welchen seiner Mutter so eifrig in dem Buche schaut, und wollen ihn erst wieder heimsuchen, nachdem er seine erste Selbstständigkeit erlangt hat.
Da hält er sich an der Mutter ihrem Rock und steigt mit ihr in den Stube herum, tummelt sich mit seinen Geschwistern, und spitzt die Ohren, wenn die Mutter am Samstag Abend erzählt, was sie morgen kochen wolle; und wenn sie gar den längst versprochenen Schinken aus dem rußigen Kaminschlosse herunterlangt, dann hängen sich alle lachend und schreiend um sie her. Wenn sie „Knöpfle“ einlegt, dann muss er ihr aus dem Gärtlein hinter dem Hause „Peterle“ und Schnittlauch holen. Am Sonntag nach dem Essen, falls das Wetter schön ist, geht der Vater in den „Busch„Oesch“, um die Felder zu beschauen; die Mutter bleibt zu Hause sitzen und betet in dem Gesangbuch oder auch im alten „Himmelsschlüssel“. Da hört man dann gewöhnlich im Dorfe keinen Laut. Nur beim oberen Bierhaus ist’s lebendig; dort liegt die blanken Groschen und Sechser auf dem Boden im Sand, und der kleine Konrad sieht mit seinen Kameraden zu, wie sie von den Gewinnenden mit zufriedenem Schmunzeln aufgehoben werden.
Auf die Art wird der kleine Mensch schon frühzeitig in Dinge eingeweiht, wovon die Mutter wahrscheinlich nichts in dem fliederbeschlagenen Buche gelesen hat.
Meinhalb strolchen sie auch im Feld herum, schneiden Pfeifen im Rohr und musizieren. Aber an Regensonntage da stehen sie unter dem Vordach an des Vogts Haus, und schachern um Sackmesser, Wachholdergeißelstöcke oder um Zwick.
Zwick! das ist mir eine unbekannte Gegend. So heißt man das vordere Ende einer Geißelschnur. Jetzt weiß ich, wo ich d’ran bin. Das ist die Treibschnur; die hat bei uns auch eine große Rolle gespielt. O, geht mir mit der Treibschnur! Das ist bei den Stadtbuben ein jämmerliches einfaches Schnürlein. Aber der Zwick wird sehr kunstgerecht in einer Maschine gedreht, und knallt, dass einem das Herz im Leibe lacht. Das ist andere Arbeit. Nun, was hilft’s. Die Freude wird auch nicht ewig währen. Wenn Hölth sagt:
Bald sitzest du, nicht immer froh, Im engen Kämmerlein, Und lernst vom dicken Cicero, Verschimmeltes Latein,
So ist das ein gemeinsames Leid, das auch in seiner Weise jeden heimsucht, ob er in dem leinenen Häublein, oder mit dem Kommandostab in der Wiege lag, ob er mit dem Zwick, oder ob er als Stadtbube mit der Treibschnur knallt. Wenn man auf der Schulbank sitzen muss, und die Sonne scheint so lustig draußen, dass es einem wie Quecksilber durch die Adern ringt. –
Ja, das ist halt freilich eine harte Nuss. Wir wollen froh sein, dass wir sie durchgeknackt haben. Übrigens fehlt es auch in diesem Stande nicht an Lustbarkeiten.
Ja, im Winter tut’s das Schneeballen vor und nach der Schule, im Sommer gibt’s Eckballen, Marbel, Ball und andere Ergötzungen, und in der Schule selbst führen wir die Armbrust in Taschenformat mit dem feinen Bogen aus Fischbein, und beschossen uns, während die verlassene Dido ihrem Aeneas nachseufzte, mit erbarmungslosen Papierkugeln.
Gott segne Eure Studia! spricht Lucian, und läßt eine lange, dünne Rauchsäule in die Höhe steigen. Zu solchem reisigen Zeug darf es mein Konrad nicht bringen; auch muss er in der Schule hübsch aufpassen, schon deshalb, weil sich‘ da nicht nur um Eure leichtfertigen Poeten handelt, sondern um löblichere Dinge. als da sind die Geschichten vom ägyptischen Joseph und vom König David und dergleichen mehr. Will er nebenher noch eine Ergötzlichkeit haben, so soll er auch dazu was Ordentliches lernen, zum Beispiel „Helgle“ und Agathenzettel malen. Dadurch macht er sich dann auch bei den Mädchen, seinen Schulkamerädinnen, beliebt. Halt – kann er denn die Mädchen leiden? Das nicht gerade. Vielmehr zupft und rupft er sie, scheucht und jagt sie herum, und wo er ihnen einen Possen spielen kann, da ist‘ s ihm ein „gemähtes Wiesle“. Aber dann und wann wird er doch ein wenig gnädig und beschenkt sie, sei es auch nur aus Eitelkeit, um seine Meisterwerke an sie abzusetzen. An Lob und Schmeichelei und Bettelei lassen sie es ihrerseits nicht fehlen.
Noch einmal Halt – Ist keine ist keine darunter, die er, – wie soll ich mich ausdrücken? – so ganz besonders nicht leiden kann? Ihr wisst schon – es gibt Fälle, da hat man Beispiele. Allemal ist so eine d’runter, das versteht sich. Und wie heißt sie? Das müssen wir gleich in’s Reine bringen, denn der Name tut sehr viel zur Sache. Bei einem Konrad, meine ich immer, müsse es eine Anna sein, die er so sehr besonders leiden oder so eigentümlich besonders nicht leiden kann. Wir wollen noch eine Marie hinzufügen, dann hat der Name den rechten landschaftlichen Klang. Also, Marianne? Des erreichen Vogts Marianneli. Die Jagt er immer am hitzigsten, die kneift der am ärgsten, wenn er sie erwischen kann. Und doch hat sie ihm gewiss nie etwas zuleide getan. Bewahre, sie könnte keine Fliege kränken. Er weiß auch gar nicht, warum er so einen absonderlichen Grimm auf sie hat. Ihr Vater ist freilich ein stolzer grober Melcher, aber dafür kann das kleine freundliche Mädel ja nichts, das immer so fleißig lernt und so gutherzig gegen alle Kameraden und Kammerädinnen ist.
Doch kann das im stillen mitwirken. Gebt Acht, der Bursche läßt sie’s entgelten, dass sie ein wenig vornehmer ist als er. Freilich tut er das, und ich will gleich so ein Zeug anbringen. Da ist einmal große Kälte, es wird ein paar Tage keine Schule gehalten, und der Konrad benützte diese Zeit, um die zwei Tafeln, die in seiner Vaterstube hängen, zehn oder zwölfmal auf’s herrlichste abzumalen. Wie nun die Schule wieder angeht, legt er seinen Kram aus, eh‘ der Lehrer kommt. Den Buben verhandelt er die Bilder, den Mädchen schenkt er sie. Jede Kammerädin bekommt eins, nur nicht die Mariann‘, und doch hat der Bösewicht noch ein übriges Exemplar in der Hand. Das Marianneli, wie es solche sieht, sagt es mit seiner kleinen süßen Stimme: Aber Konrad, mir schenkst du doch auch eins? Grad‘ dir schenk‘ ich keins, sagt er: Warum hat mich dein Vater vorige Woche durchgeprügelt, als wir in eurem Shopf Tabak rauchten? Ich kann ja aber auch nichts dafür, sagt sie, und die Tränen fließen ihr in die Augen, dass sie allein leer ausgehen soll. Kauf dir eins, sagt er. Ihr sind. Ihr seid ja reich genug. Und dabei freut’s ihn innerlich, zu sehen, wie ihr das zu Herzen geht. Nachher aber reut es ihn wieder sehr, wie wenn er einem Schmetterling die Flügel ausgerupft hätte, und während der Schule sieht er oft von seiner Bank in die ihrige hinüber, was sie mache. Sie sieht ihn aber nicht an? Nicht ein einziges Mal. Deshalb wartet er auch nach der Schule und unten an der Haustür auf sie, und sagt: da, Mariann, ich schenk es dir doch. – Sie aber schlägt ihm das Bildchen aus der Hand: Jetzt will ich es auch nicht mehr, sagt sie, ich kann mir ja eins kaufen. – Nachher aber ist sie aber gleich wieder gut. Da muss er übrigens doch noch etwas extra tun, um sie für ein solch schweres Stück zu entschädigen. Ja, nach feiner Art. Werden gleich sehen. Ein paar Tage darauf sind sie alle auf dem Platz vor der Zehntscheuer. Es wird hin und her geraten, was sie spielen sollen. Wir wollen Farben auszuteilen, sagt endlich der Konrad.
Das ist, schätze ich, wohl, „Engel und Teufel“? Ja, es kommt auf eins heraus.
Die Kinder sitzen im Kreis, eines teilt die Farben oder Blumen aus, ein anderes stellt den Engel und ein drittes den Teufel vor. Ein Mädchen geht von einem Kind zum anderen und sagt ihm ins Ohr: du bist eine rote Rose, du eine weiße, du bist eine weiße Lilie, du eine braune Nelke und so weiter. Den Buben aber gibt sie keine so schöne Namen; da heißt es: du bist ein Schlehenbusch, du eine Brennessel, du ein grüner Distel, und dergleichen Zartheiten mehr. Nun kommt der Engel mit der Kuhschelle: Klingkling. – Wer ist drauß‘? fragt die Austeilerin. – Der Engel mit dem Schein. – Herein. – Was hätt Er gern? – Eine Farb‘. – Was für eine? – Eine weiße Rose. – Die bekommt er auch richtig, und führt sie in den Himmel, wo nichts als Gesang und Freude ist. Darauf erscheint der Teufel – Den macht unser Konrad? Natürlich. Der hat sich Hörner von Pappdeckel verfertigt, einen Schwanz von Werg angebunden und das Gesicht mit Ruß geschwärzt. In der Hand trägt er einen Stecken, der stellt den Schürhaken vor. Bum, bum. – Wer ist drauß? – Der Teufel mit der Schürgabel. – Was hätt‘ er gern? – Nun bekommt auch der Teufel seinen Anteil und führt die armen Seelen in die Hölle, wo er sie unter Heulen und Zähnklappern entsetzlich peinigt. Er läßt seinen ganzen Grimm an ihnen aus, der diesmal groß ist, weil er trotz allen Ratens nicht auf die rechte Farbe kommen kann.
Die Sache ist nämlich die: er möchte gar zu gern die Mariann‘ in der Hölle haben, bringt aber ihren Blumenname nicht heraus. Endlich fällt es dem Engel ein, Rosmarin zu verlangen, und siehe da, der Teufel hat das Nachsehen, und muss es sich auch noch gefallen lassen, dass die Seele, und der vergebens schnappte, im Triumph an der Hölle vorbei in den Himmel geführt wird. Darüber wird er denn ganz erbost und wütend, kann es auch nicht unterlassen, mit der Schürgabel nach dem vorbei marschierenden Engel zu schlagen; da aber dieser gewandt ausweicht, so trifft der an sich nicht ernstlich gemeinte Schlag die Mariann‘ in’s Gesicht und verursacht ihr heftiges Nasenbluten. Zarte Aufmerksamkeit!
Soll ihm auch wohl bekommen. Auf das Geschrei der jüngsten Kinder, die natürlich kein Blut sehen können, ohne einen Zetermordio zu erheben, streckt der Vogt seinen Kopf zum Fenster raus. Was gibts? – Der Konrad hat die Mariann‘ ins Gesicht geschlagen, dass sie blutet. – Habe ich dir nicht schon oft gesagt, du sollst nichts mit dem Rotzer haben?
Welche Demütigung für seine satanische Majestät! Es kommt noch besser. Während er starr wie eine Salzsäure vom Vogt noch eine Zugabe von Ehrentiteln hinnimmt, faßt in eine Hand von hinten am Kragen und nimmt ihn mit dem Seilstumpen in Arbeit.
Ah, bitte, Meister Lucian, mit dem Seilstumpen! Da beißt die Maus keinen Faden davon; denn es ist sein eigener Vater, der auf diese Weise vor dem gestrengen Vogt seine bürgerliche Freiheit wahrt. Alsdann führt er ihn am Arm nach Hause; an der Stiege, die in die Schlafkammer des Buben führt, zählt ihm noch etliche aus dem ff auf und stößt ihn nach der Treppe: So, jetzt pack dich ins Bett. – Wie ein Pfeil fährt der Teufel mit Schweif und Hörnern die Stiege hinan und läßt nichts mehr von sich hören. So, sagt der Vater zur erschrockenen Mutter, besser jetzt, als später!
Der Konrad aber kommt den ganzen folgenden Tag nicht herunter, was auch die Mutter sagen mag. Droben malt er die schönsten Blumen auf einen Bogen Papier, und wie er wieder in die Schule kommt, schenkt er sie dem Marianneli. Dem Vogt aber trägt er’s noch lange nach.
Wenn er das vorher wüßte, er würde die Wiege schwerlich verlassen wollen, in der hier so harmlos träumte. – Wenn ich so einen kleinen runden Kindskopf sehe, so pflegte ich immer zu denken: Du wirst mit der Zeit auch noch ein längeres Gesicht machen.
Und doch, wie klein sind die Unfälle, über die wir zurerst die Unterlippe hängen lassen! Wie bald sind jene Tränen vergessen, wie leicht ist die Speise des Lebens selbst da noch, wo wir sie zuerst als einen harten Bissen kennen lernen!
Ja, die Kinderjahre sind schön, und erscheinen schön und schöner, je weiter uns die Jahre von ihnen entfernen.
Das Leben kommt mir vor wie eine Stickerei. Die Gegenwart, die wir in ihrer ganzen, oft so unschönen Weitläufigkeit durchleben, ist die Kehrseite, wo die Fäden aufgetragen werden. Da läuft alles wirr und kraus durcheinander, ist wenig Sinn und Bedeutung zu finden. Wenn uns aber, wie Ihr sagt, die Jahre davon entfernen, so dreht sich allmählich vor unsren Auge das Stück, und die schöne Seite kommt zum Vorschein mit ihrer vollkommenen Gestalten, die wir in Unmuth und Unvollkommenheit gewoben haben. Da ist denn manches böse Fädelein verschwunden, das uns so dick wie ein Seilstumpen däuchte, und das uns keine Maus abbeißen zu können schien. Es ist eigentlich der Gegensatz des Lebens und der Kunst, die jenes nur wie durch fromme Erinnerung auf der Gestaltenseite schaut, denn jeder Mensch, der in die Vergangenheit und vornämlich auf seine Kinderjahre zurückblickt, wird unwillkürlich ein Künstler. – Aber nun webt mir für unseren Schützling einige freundliche Fäden ein.
Später, wenn’s schöner wird. Vorläufig tut es mir leid, dass ich nicht willfahren kann. Jetzt kommen erst die mißfarbigen, denn es nötigt mich etwas, einen dunklen Grund zu legen.
Ihr seid unerbittlich, wie das Schicksal. So thut denn, was Ihr nicht lassen könnt.
Einmal kann ich ihm die Speise der Jugend nicht sonderlich süß und schmackhaft machen, denn seine Eltern sind sehr arm. Wie? Da sagt Euer Bildchen die Wahrheit nicht. Die hübsche Tracht der Frau weiß nichts von Armut, und das Zimmer sieht so blank gescheuert und wohlhabend aus.
Bei diesem Einwurf ist Lucian etwas betroffen geworden. Er zündet sein Pfeifchen wieder an, raucht einige nachdenkliche Züge und erwidert dann: Reinlichkeit ist zwar auch Reichtum, gilt aber doch nichts im Pfandbuch, und ein Sonntagskleid hat jedes ordentliche Mädchen schon von Haus aus. Wenn sogar etwas Silber am Mieder glänzt, so kann deswegen doch Schmalhans Küchenmeister sein. Und sagt selbst, ist es nicht besser für unseren Konrad, wenn er in Armut aufwächst?
Ja, das ist wahr, und zwar ohne alles weitere Raisonnement. Macht ihn also in Gottes Namen so arm wie eine Kirchenmaus. Wird nicht viel fehlen. Der Vater arbeitet wacker auf dem Felde, und die Mutter läuft sich die Beine lahm, um Butter oder Eier in Hüfingen und Donaueschingen zu verkaufen; aber mit allem Fleiß und allen Entbehrungen kommen sie nicht aus den Schulden heraus. Das sind die grauen Fäden, und nun folgen die schwarzen. Es gibt Familien, die oft schnell und unerwartet durch eine Reihe von Todesfällen zerrissen werden. Der kleine Träumer, den wir auf seinem künftigen Lebensgange begleiten, wird nicht 13 Jahre alt, so verliert er Vater und Mutter hinter einander, und auch den ältesten Bruder dazu, der sein Beschützer sein sollte.
Warum denn auch den noch? Räumt doch nicht so grässlich auf! Wie und wo kommt der denn ums Leben? Der? Als Soldat, im russischen Feldzuge. Halt, halt, Meister Lucian, man muss den Teufel nicht an die Wand malen! Laßt uns vielmehr den Frieden festhalten, solange er mit Ehren geschehen kann. Oder – ja, nun merk‘ ich’s. – Ihr seid ein rückwärts gekehrter Prophet, und während ihr mir weiß macht, dass ihr mit dem Sehrohr in die Nebelflecken der Zukunft dringet, habt Ihr das andere Auge weit offen und schaut Euch bequemlich in der vergangenen Wirklichkeit um, wo man leider Beispiele genug für allzu frühe Todesfälle holen kann.
Wie soll ich’s anders machen? Die Geschichte, heißt es, ist die Lehrerin der Völker. Soll ich euch erzählen, wie es dem Kinde da gehen wird, so läßt sich das am besten aus Dem abnehmen, was-
Was etwa einem Vater geschehen ist? Nun, ich will nur so viel sagen, dass ich die Geschichte des Vaters mit mehr Sicherheit angeben kann, als die des Sohnes und dass ich dabei besser zu fahren hoffe, als Ihr, wenn Ihr das Nebelsehrohr von des zugedrückten Auge setzt und Träume aus dem Ärmel schüttelt; den ich kann die Geschichte gerade so erzählen, wie sie vorgefallen ist. Und zwar will ich das so kunstgerecht machen, als Ihr nur immer verlangen mögt.
Ei, das ist ja um so viel besser. Da wollen wir also den Apfel in der Wiege liegen lassen und die Geschichte des Stammes vornehmen. Je treuer je besser, und je kunstgerechter je schöner. Wohlan denn, sagt Euer Sprüchlein und teilt es mit, ich verspreche, Euch hinfüro so wenig als möglich zu unterbrechen.
Darauf legt der Freund Lucian die bereits wieder ausgegangene Pfeife weg, streicht sich den Schnurrbart im Bewusstsein eines wichtigen Unternehmens, und hebt seine Geschichte an, wie folgt.
Lucian Reich erzählt hier zuerst eine Unterhaltung mit „einem schriftgeübten Freund und Sohn der Musen“ und nennt sich hierbei selbst „Meister Lucian“.
Mater nati fata requirens – die Mutter des Sohnes sucht das Schicksal
„Wachse ‚ n und trüeihe“ bzw. „Wachset und trüeihet!“
Zwick, so heißt das vordere Ende einer Geißelschnur oder Treibschnur. Das Wort Peitsche wurde damals wohl nicht in diesem Zusammenhang benutzt.
O, geht mir mit der Treibschnur! Das ist bei den Stadtbuben ein jämmerliches einfaches Schnürlein. Aber der Zwick wird sehr kunstgerecht in einer Maschine gedreht, und knallt, daß einem das Herz im Leibe lacht.
Rottweiler Schlinge mit Zwick
Bald schwitzest du, nicht immer froh, Im engen Kämmerlein, Und lernst vom dicken Cicero‘, Verschimmeltes Latein,
Wie glücklich, wenn das Knabenkleid Noch um die Schultern fliegt! Nie lästert er der bösen Zeit, Stets munter und vergnügt. Das hölzerne Husarenschwert Belustiget ihn jetzt, Der Kreisel und das Steckenpferd, Auf dem er herrisch sitzt. O Knabe, spiel und laufe nur, Den lieben langen Tag, Durch Garten und durch grüne Flur Den Schmetterlingen nach. Bald schwitzest du, nicht immer froh, Im engen Kämmerlein, Und lernst vom dicken Cicero Verschimmeltes Latein!
„Die Knabenzeit“ von Ludwig Heinrich Christoph Hölty (1748-1776)
Darauf legt Freund Lucian die bereits wieder ausgegangene Pfeife weg, streicht sich den Schnurrbart im Bewußtsein eines wichtigen Unternehmens, und hebt seine Geschicht an, wie folgt.
Das Buch habe ich hier 2021 veröffentlicht. Allerdings veraltet auch eine Webpage ziemlich schnell und die nächsten Monate möchte ich die einzelnen Kapitel aktualisieren. Deswegen werde ich jedes aktuelle Kapitel wieder nach vorne kramen. Das alte Buch mit der sehr eigenwilligen Schreibweise in Frakturschrift hatte ich damals vorgelesen, um den gesprochenen Text von einem Programm namens f4transkript in Buchstaben umzuwandeln. Den umgewandelten Text habe ich danach bearbeitet, da viele der Wörter dem Programm nicht bekannt waren. Aus diesen Gründen ist der Text ein Gemisch aus alter und neuer Schreibweise. Was es in den verschiedenen Kapiteln des Buches gibt, ist diese vorgelesene Tonspur mit dem Transkript in schwarz. In blau sind unten Erklärungen dabei.
Mehrere Jahre, erzählt unser Reisender weiter, waren seit meinem ersten Aufenthalt über Wald verflossen, als mich Geschäfte wieder in jene, mir in mancher Beziehung liebgewordenen Schwarzwald-Thäler führten. Und da es stets etwas Ansprechendes hat, Orte und Gegenden zu betreten, wo wir früher heitere Stunden verlebt haben, so unternahm ich manche Wallfahrt zu bekannten Plätzen und Menschen. Wie wir aber eine Landschaft nach Jahren zwar unverändert als dieselbe wieder finden, manches Bäumlein darin jedoch zum Baume aufgewachsen, manch vormals blühendes Gewächs verdorrt sehen, also ergeht es auch mit den Menschen und ihren Verhältnissen: die Gesamtheit erscheint uns unverändert dieselbe, am Einzelnen jedoch bemerken wir den allmächtigen Einfluss der Zeit.
So fand ich auch bei meinen Besuchen Manches, was mich des Lebens Flüchtigkeit mahnte. In dem bekannten Wirtshause zum Beispiel traf ich meinen gesprächigen Freund, der mir vor Jahren seine Lebensgeschichte erzählt hatte, nicht mehr; ein Fremder, der das Haus an sich gebracht, bewillkommente den Fremden, während der frühere Eigentümer seit Monaten von dem Mühseligkeiten dieses Lebens ausruhte – auf dem Kirchhofe zu Friedenweiler.
Nach kurzer Rast trieb es mich weiter, hinaus in die sonnig-grüne Landschaft mit ihrem ruhsamen Talgründen und hohen von Pfriemen vergoldeten Bergkuppen, über welche das Auge frei hinaus schweifte bis zu den fernen lichtblauen Linien des Jura.
Mittag war vorüber, und jene Stunde eingetreten, welche die Alten die Schlummerstunde des Pan nannten, wo die ganze Natur schweige, um den träumenden Feldgott nicht aufzuwecken. Und wahrlich, die Stille ringsum schien Alles, was Leben hatte, in Schlummer gewiegt zu haben, so vereinsamt lagen die Hütten und Höfe, und wie blankgeschliffene, von keinem Hauch getrübte Spiegel, die Weiher und Lachen in den grünen Tälern; das einzige Lebendige in der Landschaft waren allein die ruhelos fortwellenden Bächlein und plätschernden Brunnen, sowie ein Paar Schmetterlinge, die über die sonnigen Halden flatterten.
Ich hatte langsam eine letzte Höhe erstiegen und war stille gestanden, die zu meinen Füßen liegende Landschaft zu überschauen. Vor mir, gegen Süden, drang der Blick hinaus, bis wo die Landschaft in vielen Abstufungen gegen den Rhein sich verliert, während die nächsten Taleinschnitte zu meiner Linken, schon der jungen Donau ihre Quellen und Bächlein zutrugen.
Eine Weile hatte ich so gestanden, als eine Pilgerin, welche des Weges daherkam, meine Betrachtung ablenkte. Der gelbe Strohhut sowie die üppige übrige Tracht zeigten eine Landeseingeborene, während das schwarzseidene Halstuch und die gleiche Farbe der anderen Kleidungsstücke die Leidtragende verrieten. Die Züge schienen mir bekannt, und als sie näher gekommen war, erkannte ich die Tochter meines verewigten Freundes; dieselbe, welche an jedem Morgen bei meiner ersten Einkehr in dem Wirtshause den Kindern die Kränze und Blumen geordnet hatte: Philippine, das Ebenbild der seligen Mutter, wie sie ihr Vater genannt hatte.
Wir begrüßten einander als Bekannte, denn auch sie hatte mich folglich wiedererkannt. Ihr verständiges blaues Auge nahm einen eigenen Glanz und Ausdruck an, als ich in warmen, lobenden Worten ihres verewigten Vaters gedachte. Es war etwas von wehmütigen Dank für meine Anteilnahme darin zu lesen.
Ich erfuhr, dass sie seit dem Tode ihres Vaters bei der Schwester ihrer Mutter und dem Onkel Valentin wohne, im Augenblick aber im Begriffe stehe, eine Wallfahrt zum „Schneekreuz“ bei Löffingen zu machen und zur Begleitung noch eine Freundin in der Nähe abholen wollte. Auch sagte sie mir ferner, dass sie Lust habe, nach Amerika auszuwandern – und fragte, was ich hier rathe?
„In solchen Fällen“, meinte ich, „ist guter Rat teuer. – Im Allgemeinen, ich muss es gestehen, will es mir nicht sonderlich gefallen, wenn ich sehe, dass namentlich Frauen und Mädchen gar keine Anhänglichkeit an ihre Heimat haben. Liebt ja doch die Blume, der Baum, seinen heimatlichen Boden, warum nicht auch der Mensch? Doch wenn es einmal sein muss, und ein solcher Schritt durch Umstände geboten ist, so soll er auch resolut ohne verzagenden Kleinmut geschehen, mit dem man in der Regel ja nur sich und Anderen das Leben versauert. – Was Euch anbetrifft, werteste Freundin, fuhr ich im Ton eines Predigers fort, so glaube ich nicht, dass Ihr Ursache habt, zeitlicher Güter wegen fremde Weltenteile aufzusuchen. (ich wusste nämlich, dass er Vater ein ansehnliches Vermögen hinterlassen hatte), es müßte denn nur sein, fügte ich scherzhaft bei, dass etwa euer Holderstock drüben blüht“, und deutete auf einen goldenen Ring, den sie am Finger trug. – Das Mädchen aber schüttelte den Kopf. „Ihr Männer,“ sagte sie mit treuherziger Schalkhaftigkeit, „meint auch gar immer, wir täten Alles nur um Euretwillen. Es kann ja auch noch etwas anderes sein, was mich forzieht. Hab‘ ich nicht die einzige Schwester drüben, und mit Ausnahme der Schwester meiner Mutter selig gar niemand Eigenes mehr hier? Und doch – je mehr ich es überlege, desto unschlüssiger werde ich. Vor einigen Tagen hab‘ ich einen Brief bekommen aus Amerika von meiner Schwester. Sie können ihn lesen, und dann will ich hören, was Sie dazu sagen.“ Mit diesen Worten hatte sie den Brief hervorgezogen und mir dargereicht. – So viel mir noch erinnerlich, lautet das Sendschreiben etwa folgendermaßen:
„Teure, liebe Schwester Philippine! Dass Ihr mein Schreiben zu spät erhalten habt, und solches dem gottseligen Vater nicht mehr am Leben getroffen, hat mich schwer gekränkt. Doch will ich das, was mich anbetrifft, in Gottesnamen mit Stillschweigen übergehen. Was aber das anbelangt, was Du mir geschrieben hast, dass die Mutter nach ihrem Ausspruche, am großen Gerichtstage mir die Rechnung selber vorlegen werde, weil ich durch meine Heirat und mein Fortziehen ihr so viel Kummer verursacht habe, darauf ist mir gar nicht bange; denn mein Gewissen hat mir noch niemals Vorwürfe gemacht. – Auch habe ich meine Kindespflicht immer redlich an ihr erfüllt. Übrigens hatte ich manchen stillen Kummer, sie in ihrer Krankheit nicht verpflegen helfen zu können. – Doch, was man nicht ändern kann, tut man besser, sich darein zu schicken. – Liebe Schwester, wenn Du von heim abreisest, so tritt die Reise in Gottesnamen an, und lasse frischen Mut. Ich bitte Dich, wenn Du etwas gegen Jemand hast, so versöhn dich noch und trage nichts Böses in deinem Herzen fort; lass alles Böse zurück, das Gute aber nehme mit – Bringe mir, wenn du kannst, auch die Bücher mit, verfaßt von Christoph Schmid, und dem Alois, meinem Mann, ein konstanzer Gesangbuch. Vergesse auch nicht, mir etwas Zeichnungsgarn, sowie wenig Blumen-, Kopfsalat- und Rettichsamen mitzubringen. Sonst, liebe Schwester, nehmen mir nicht zu viel unnötige Sachen mit, aber Weißzeug so viel du hast. Tu alles in Kisten und nehme sie wohl in Acht, denn in der Fremde darf man auf die Ehrlichkeit der Leute nicht allzu viel bauen.
Es hat freilich viel arme deutsche Leut in Amerika, aber auch viele, die es wieder besser haben, als draußen. Es kostete uns sehr viel, bis wir alles in guter amerikanischer Ordnung hatten, und doch müssen wir noch Manches entbehren, was wir daheim hatten und wenig schätzten. Überhaupt mache dir sowohl von dem Guten wie Schlimmen, was dich hier erwartet, keine zu übertriebene Vorstellung, ziehe aber auch die Annehmlichkeiten in Betracht, die du zu Hause zurücklassen mußt.
Ich bitte Dich, gehe noch einmal für mich nach Löffingen zum Winterschneekreuz, und bete für mich und grüße mir alle Freunde und Bekannte herzlich u.s.w. Deine Schwester Martha“
„Sie sehen“, nahm die schöne Pilgerin wieder das Wort, „dass von nichts der Art, wie Sie meinen die Rede ist. – Was raten Sie mir aber? Man folgt oft lieber fremden Leuten, als den eigenen oder sich selbst.“ „Weil ihr mich“, versetzte ich, „durchaus zu Eurem Rat haben wollt, ich diesen Titel aber nicht, wie so viele Räte in Germanien, lediglich umsonst haben möchte, so rate ich Euch: in dem Lande zu bleiben, wo ihr geboren seid und wo Eure braven Eltern und Vorältern gelebt haben und begraben liegen. Überhaupt ist, meiner Meinung nach, das Streifchen irdischen Lebens zu kurz, als dass es sich der Mühe lohnte, gar zu große Logisveränderung vorzunehmen. Was jedoch den Umstand mangelnder Angehörige anbelangt, so denke ich, hat ein hübsches Mädchen Gelegenheit genug, diesem Übelstand in Ehren abzuhelfen. Sindtemal und alldieweilen es eine Menge Junggesellen im Vaterlande gibt, denen es zu ihrem Glück nichts mehr und nichts weniger fehlt, als die schönere Hälfte des Lebens, ein braves Weib!“ „Ich sehe wohl“, unterbrach mich lachend die Schöne „Ihr macht halb Spaß halb Ernst,doch will ich’s überlegen und das Beste daraus wählen.“ Ich versprach ihr, wenn sie meinen Rat befolgen würde, ihrer Hochzeit als Gast und wirklicher Geheimer Rat anzuwohnen, worauf sie mir lachend die Hand gab.
Und so schieden die Pilgrime, auf entgegengesetzten Wegen ihre Reise weiter fortsetzend.
Über Berg und Tal war ich gewandert und kehrte erst spät am Tage zurück. Die Sonne war schon untergegangen, als ich auf die Höhe kam, und die aus der Tiefe wachsenden Schatten verkündeten das Nahen der Nacht. Wie in zärtlichem Geflüster scheidend zog der Abendwind durch Gras und Laub, und über dem blaßgrünen Saatfelde wirbelte allein noch eine Lerche ihr einsames Lied. Höher in der Luft schwebten einzelne rosige Wölklein, wie abgeschiedene Seelen, gegen Osten, der Nacht und dem Norden entgegen; und die Vögel flogen ihrer Herberge zu, dem schweigsamen Walde. Erstorben war das unruhevolle Jagen und Tosen des Tages, nur ein Paar ferne, weitgetragene Stimmen von Wandernden trafen das Ohr des Lauschers. – Endlich verloren sich auch diese, und tiefes Schweigen herrschte ringsumher.
Jetzt erklang es fast wie Gesang – näher und näher unterschied ich die Stimmen Betender. Es waren Wallfahrerinnen, die unten durch das Tal zogen; ich glaube die Gestalt Philippines zu erkennen. Und wie das Beten mehr und mehr verklang, schien in jedner Richtung Erd‘ und Himmel in lichtem glühendem Dufte sich zu vermählen, und unwillkürlich kamen mir die Worte des Psalms in den Sinn:
Wir sind nur Pilger dieser Erde, und sehnen nach der ew’gen Heimath uns!
Wir kehren zu unserem Junker Harold zurück und begleiten ihn hinaus in die Hochebene der Baar, zu den grünen Buchenwäldern der „Länge„, wo, alles breit gelagerter Vorberg des Jura, der Fürstenberg sich erhebt:
„Als sey er Ausgang einer Bergesreihe, Ein Vorgebirg, nur daß die See ihm nicht Den Fuß umringt; statt ihrer siehet man Lebendig sich die Landschaft vor ihm breiten, Der Wälder und der korngefide Wellen, Der Menschenwohnung auch umhergestreut Und Rauch, der von des Bauern Dach sich hebt“
Von seinem Gipfel, auf dem ehemals das Städtlein Fürstenberg gestanden*, schauen öde, ausgebrannte Mauerzacken in die Niederung, und vergeblich sucht der Besucher die Reste des der Stammburg des durchlauchtigen Hauses der alten Landgrafen der Baar. Die Stürme des 30-jährigen Krieges haben, wie vermutet wird, die Veste in Trümmer gelegt, und auch diese sind im Laufe nachfolgender Zeiten verschwunden. Der Fernblick, der uns dieser hohe Punkt thun läßt, gibt uns ein deutliches Panorama der fruchtreichen, von der jungen Donau durchschlängelten Ebene, die südöstlich mit dem Jura, und westlich mit dem Schwarzwald zusammenhängt, welch‘ letzterer wie ein fernes grünes Meer vor unseren Blicken liegt. * Das Städtlein brannte im Jahr 1841 an einem stürmischen Sonntag (den 18. Juli) gänzlich ab, und wurde später am Fuße des Berges wieder aufgebaut.
So anziehend ein solches Gemälde auch immer sein mag, so weiß ich doch nicht, ob es einem Landschafts- und Aussichtenschwärmer modernsten Schnittes die halbstündige Mühe des Aufsteigens lohnen wüde. Wahrscheinlich möchte ein solcher finden, dass ein Sonnenaufgang auf dem Rigi oder Montblanc eben doch ungleich „wundervoller“, eine Landschaft aber ohne Ruinen, Schweizerhäuser und Alpen gar nicht „romantisch“ und nichts sei, gegen eine italienische mit „tiefblauen“ Himmel u.s.w.
Ich hatte den Berg im Geleite des alten Schulmeisters und Meßners erstiegen, und er versicherte mich, dass er früher, zur Zeit, als die Stadt noch oben gestanden, selten Morgens bei Tagesanbruch vom Betläuten zurückgekommen sei, ohne noch einen Rundgang um die stillen Ringmauern des Städtleines zu machen, und hinauszuschauen in die dämmernde Hochebene, in welcher er 98 Ortschaften und Meierhöfe zählte. –
Auch berichtete er mir von einem geisterhaften Reiter, der früher zuweilen am Fuße des Berges sich gezeigt habe. Er selbst habe ihn einmal gesehen, als er, noch ein kleiner Bub‘ mit mehreren Kindern an einem schönen Sonntag-Mittag in die Buchenwälder der Länge gegangen, um Erdbeeren zu pflücken. Auf dem Heimweg in der Talschlucht, wo die Kapelle steht, hätten sie einen Reiter erblickt, der in halbem Trab daher geritten und im Walde verschwunden sei. Diese Gestalt habe eine schwarze Kriegsrüstung getragen, sowie auch Sattel und Reitzeug von derselben Farbe gewesen seien. Während die Kinder noch unter sich gezankt hätten, ob der Reiter zu Fuß oder zu Pferd gewesen, habe sie ein alter Kuhhirt am Wege um die Ursache des Streits gefragt, und als er solche vernommen, gesagt: „den schwarzen Reiter habe sich schon oft gesehen, und jedesmal, wenn er sich zeigt, gibt es Unwetter, was auch sicherlich jetzt der Fall sein wird“.
Ob solches eingetroffen, war meinem Gewährsmann nicht mehr erinnerlich, doch, meinte er, sei es das letzte Mal gewesen, dass der Reiter gesehen worden sei. –
Noch heut zu Tage aber ist der Berg, den Bewohnern der Ebene ein Wetterkündiger. So lange nämlich Nebel seinen Gipfel umlagern, ist anhaltend trockene Witterung nicht zu hoffen.
Statt jedoch dem Leser ein weitläufige Beschreibung der Gegend liefern zu wollen, nehmen wir Veranlassung ein kleines Geschichtlein hier einzuschalten, welches in der Baar seine Heimat hat, und eine frühere Arbeit des Verfassers ist.
Vorher nur die kurze Bemerkung, dass damals bei diesem Geisteskindlein ein schriftgeübter Freund und Sohn der Musen zu Gevatter gestanden und dem Neugeborenen manch‘ gute Regel und poetische Blume als Angebinde unter das Deckbettlein gelegt hat, so wie auch im Vorbericht (der hier unverändert beibehalten worden) der kleine Held meist an dieses Freundes Hand in’s Leben eingeführt wird.
Nachdem Lucian Reich die Chronik des Kirner abgeschrieben hatte, geht er unvermittelt zurück auf einen späteren Besuch in Friedenweiler, um seinen Freund, der bei den Befreiungskriegen auf beiden Seiten mitgekämpft hatte, zu besuchen.
Lucian Reich ergeht sich hier in längeren Beschreibungen der Landschaft und dass sein Freund, der Wirt gestorben sei und auf dem Friedhof in Friedenweiler begraben liege.
Die Schneekreuzkapelle bei Löffingen 1855 von Nikolaus Ganter. Aus „Der Maler Nikolaus Ganter” in den Schriften der Baar Band 55, 2012 von Gerrit Müller.
Die hölzerne Wallfahrtskapelle war erst 1849/50 neben einer schon bestehenden offenen Andachtsstätte errichtet worden. Die heute das Landschaftsbild eindrucksvoll prägende neoromanische Kapelle wurde erst 1894–97 in der direkten Nachbarschaft erbaut und nach Fertigstellung der Innenarbeiten 1901 geweiht. Die Wallfahrt zum wundertätigen Schneekreuz spielte im 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle auf der Westbaar und den angrenzenden Waldgebieten. Da hier ein entsprechend guter Absatz für Heiligenbildchen, Agathenzettel u.ä. bestand, ist gut denkbar, dass auch Nikolaus Ganter am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn für diesen Markt produzierte. Die auf dem Bild dargestellten Biedermeier-Figuren sind Ganter gut gelungen, auch wenn sie dem Geiste der Zeit folgend alle nur von hinten zu sehen sind. Der an zwei Stöcken gehende gut gekleidete Herr dürfte ein Pilger sein, der sich am Gnadenort Besserung seiner Gesundheit erbitten will. Die Mühle in der Mitte des Bildes und auch die links oberhalb davon sichtbaren Häuser am Ahlenberg sind in der Höhe überproportioniert und wirken wie gegenüber dem ansonsten klein gemalten Städtchen wie Riesenbauten. Rechts im Hintergrund sieht man den Schnee des Säntis in den Schweizer Alpen, die bei klarer Luft tatsächlich aus diesem Blickwinkel sichtbar sind. Es ist das einzige Mal, dass Ganter in seinem Werk den Alpenblick dokumentiert, der doch von Friedenweilers Höhen aus keine Seltenheit ist und den „echten“ Schwarzwaldmalern um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sicher ein dankbares Motiv gewesen wäre.
“Der Maler Nikolaus Ganter” in den Schriften der Baar Band 55, 2012 von Gerrit Müller.
Schneekreuz 1980
Dann kehrt Lucian Reich spontan „zu unserem Junker Harold zurück“ (keine Ahnung was er damit meint) und begleiten ihn hinaus auf die Hochebene der Baar, „zu den grünen Buchwäldern der Länge, wo, als bereit gelagerter Vorberg des Jura, der Fürstenberg sich erhebt“
Fürstenberg von Guido Schreiber (13.05. 1886-12.11.1979)
Da Fürstenberg am 18.Juli 1841, „einem stürmischen Sonntag“ abbrannte, kannte Lucian Reich noch die „öden, abgebrannten Mauerzacken„.
Fürstenberg von oben 2021 Foto: Simon Rottler (ArchaeoTask)
Blick vom Fürstenberg über die Baar 2020
Geschichten von Schwarzen Reitern gibt es viele. Hier einer in Niederbayern
In Furtwangen befindet sich das Kirner-Kabinett zu dessen Besuch ich jedem nur raten kann. Dort befinden sich Zeichnungen über das Leben von Johann Baptist Kirner (1806-1866).
Johann Baptist Kirner war wie Xaver Reich in Italien und hatte auch die selbe Künstlerin porträtiert wie Josef Heinemann. Ich vermute, dass die Künstlerfamilien Kirner, Reich und Heinemann befreundet waren.
Bildnis der Malerin Ida Müller, einer Studentin der Kunstakademie Karlsruhe aus dem Jahr 1841 von Josef Heinemann der hier 16 Jahre alt war.
Bildnis der Malerin Ida Müller (verh. Maier) aus dem Jahr 1842 von Johann Baptist Kirner.
Aus dem Kirner Kabinett in Furtwangen: „Die Eltern in der Stube. Mutter Genofeva, geb. Dilger 1765-1838 und Vater Johann Baptist 1767-1835 genannt Schuhpeterhänsle. Das Ölbild hat Johann Baptist Kirner fast 30 Jahre nach dem Tod seiner Eltern in Erinnerung an seine Jugendzeit im Elternhaus gemalt. Einige Details hatte er in früheren Jahren in Skizzen festgehalten. Das Gemälde hatte er seinem Neffen Hermann Duffner zur Hochzeit versprochen; es ist eines der letzten Werke vor seinem Tode im Jahre 1866.“
Fortsetzung vom Kapitel
Badener im Russlandfeldzug 1812
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Unter solchen Gesprächen hatten wir unser Ziel, das Wirtshaus zu Ahorn, erreicht. Ich blieb jedoch nicht länger daselbst, als nötig war, um eine kleine Erfrischung einzunehmen, denn ich wollte denselben Tag noch Friedenweiler besuchen und auch wegen der besprochenen Hauschronik unterwegs Schritte thun. Deshalb verabschiedete ich mich bei Zeiten von meinem Freund und Begleiter und wanderte talabwärts in’s kleine Eisenbächele, wo das bezeichnete Haus und die Familie bald gefunden war.
Es gelang mir jedoch erst bei einem zweiten Besuch, die Chronik zu erhalten, welche wortgetreu, neben der Ansicht des oftgenannten, ehemaligen Klosters Friedenweiler, hier mitgeteilt wird.
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Wanderblühten Hauschronik einer Schwarzwälder Schildmalers-Familie
Das Buch habe ich hier 2021 veröffentlicht. Allerdings veraltet auch eine Webpage ziemlich schnell und die nächsten Monate möchte ich die einzelnen Kapitel aktualisieren. Deswegen werde ich jedes aktuelle Kapitel wieder nach vorne kramen. Das alte Buch mit der sehr eigenwilligen Schreibweise in Frakturschrift hatte ich damals vorgelesen, um den gesprochenen Text von einem Programm namens f4transkript in Buchstaben umzuwandeln. Den umgewandelten Text habe ich danach bearbeitet, da viele der Wörter dem Programm nicht bekannt waren. Aus diesen Gründen ist der Text ein Gemisch aus alter und neuer Schreibweise. Was es in den verschiedenen Kapiteln des Buches gibt, ist diese vorgelesene Tonspur mit dem Transkript in schwarz. In blau sind unten Erklärungen dabei.
Der Künstler Johann Baptist Kirner (1806-1866) war wohl der Neffe von Anton Kirner, also ein Sohn von seinem älteren Bruder Johann der nach Neustadt geheiratet hatte.
Chronik,
oder Etwas von dem Ursprung dieses Hauses, so wie über die Lebensverhältnisse der Familie Kirner.
Niedergeschrieben von Anton Kirner.
Bevor ich dieses kleine Denkmal meiner Familie zu stiften mich unterfange, bitte ich Gott, dass er dieselbe noch lange erhalten und fortgedeihen lassen wolle, und ihr zeitliches wie ewiges Wohl in seine Vaterhand nehmen möge. Ebenso bitte und bete ich für Diejenigen, welche schon vor dem Meinen in diesem Hause gewohnt und aus diesem Leben geschieden sind, sowie für alle Jene, welche in Zukunft noch darin hausen und sterben werden. Gott gebe ihnen und allen Menschen die ewige Glückseligkeit im Namen Jesu und Maria!
Wie mir meine Eltern sagten, und ihnen ihre Vorälteren erzählt haben, so begab es sich, dass ein großer Sturmwind viele Bäume in den Wäldern, welche zum Kloster Friedenweiler gehörten, niederriss. Auf einem der Klosterhöfe diente dazumal ein alter Oberknecht, der sich durch langjährige treue Dienste sehr verdient gemacht hatte; die Frau Abtissin, welche auf eine anständige Versorgung des Mannes bedacht war, verwilligte ihm schon von dem umgeworfen Holz so viel, als er zum Bau eines kleinen Häusleins notwendig hatte. Das Bauwerk wurde sodann aufgeführt auf einen früheren Kohlplatz im Walde, an derselben Stelle, wo gegenwärtiges, der Familie Kirner eigenes Wohnhaus steht. Die gnädige Frau erteilte darauf noch die weitere Gerechtsame, dass im Falle eines Brandunglücks, der Eigentümer jederzeit das Recht haben solle, zum Wiederaufbau vier der größten Baumstämme aus der Klosterwaldung anzusprechen. Alles dieses geschah nach meinem Vermuthen vor zwei bis dreihundert Jahren. Denn das Kloster bestand schon viele Jahrhunderte, ehe im kleinen Eisenbächle, wo früher nur Wald und Wildnis mit einigen Kohlhütten war, sich Menschen ansiedelten.
Vor dem Jahr 1770 gehörte dieses Haus, wie ich mit Gewissheit sagen kann, dem Joseph Schunhart, einem fürstenbergischen Untertan, und dessen Eheweib Katharina Willmann, welche, wie mir noch einer ihrer Söhne gesagt hat, ein armes Leben führen mußten. Der Vater beschäftigte sich meistens mit Erzgraben am Feldberg, und die Kinder, so lange sie noch klein waren, gingen betteln, und größer geworden kamen sie zu den Bauern in den Dienst. Als später der Vater, weil keines seiner Kinder ein selbständiges Auskommen erringen konnte, genötigt war, das Häuslein zu veräußern, brachte es mein Großvater Matthias Kirner an sich, der damals in des sogenannten Bürlis-Hof in der Schollach in Herberge war.
Er kaufte das kleine Anwesen, wie der Kaufbrief besagt, um 700 Gulden rauher Währung, mit allem Hausgerät, „Holz im Wald und Blumen im Feld“, jedoch mit der Bedingung, dass den Verkäufern lebenslang noch der Sitz daselbst verbleiben solle, und zwar hatten sie laut festgelegtem Leibgeding anzusprechen: einen Platz in der Stube, wo ihnen gestattet war, einen Tisch bei der Uhr zu stellen, ebenso eine Liegestatt im besagten Uhrenwinkel, als alleinige Wohnung, aber die Nebenkammer, dazu einen Platz in der Küche am Herd, nebst einem Stücklein Feld zu Kartoffeln und Hafer x.
Also war mein Großvater Eigentümer, und bezog das Häuslein mit seinem Eheweib Maria Winterhalter, beide von Schollach, und einem Sohn Martin Kirner, meinem Vater, der geboren ist im Jahre 1758.
Seines Geschäftes war der Großvater, und zwar bis ans Ende seines Lebens, Glasträger bei der Pfälzer Glashändler-Kompagnie. Sein Sohn Martin beschäftigte sich seit frühester Jugend mit allerlei Künstlereien: er fertigte Zifferblätter, schnitzte Vögel auf Kuckucksuhren, malte Heiligenbilderlein und Spielkarten. Besonders aber hatte er sein Augenmerk auf die Schildmalerei gerichtet, die dazumal noch manches zu wünschen übrig ließ. Als er jedoch herangewachsen war, kam er nach dem Willen seines Vaters ebenfalls zur Glashändler-Kompanie.
Die beiden schunhartischen Leibgedingsleute waren unterdessen gestorben, dafür erhielt aber die Zahl der Hausbewohner anderwertig Zuwachs. Im 20. Jahr seines Alters verheiratete sich nämlich mein Vater mit der Jungfrau Agatha Höffler aus Eisenbach, und die Vermählung fand statt in der Klosterkirche zu Friedenweiler, worauf im dortigen Wirtshause das zweitägige Hochzeitsfest fröhlich und guter Dinge abgehalten wurde. All dieses geschah über die Kirchweih des Jahres 1778.
Doch, nach dem unerforschlichen Ratschluss des Höchsten sollte der Ehebund nicht von langer Dauer sein, denn schon nach fünf glücklich verlebten Jahren starb die junge Frau und Mutter von drei Kindern und wurde am Jahrestag ihrer Hochzeit zur Erde bestattet.
So war denn mein Vater frühe schon Witwer geworden, mit drei unmündigen Kindern, zwei Buben und einem Mägdlein, welche mit ihrem Vater beim Großvater in Herberg waren. Letzterer, schon wohl bejaht, und wie die Großmutter nicht mehr ganz tüchtig zu den Hausgeschäften, drang in den Sohn, sich wieder zu verheiraten, auf dass die Kinder wieder eine Mutter, die Großeltern aber eine sorgsame Pflegerin ihres Alters erhalten sollten. Denn dieses war umso notwendiger, als mein Vater sowie auch mein Großvater, die meiste Zeit auswärts auf dem Glashandel zubringen mussten.
Zur selbigen Zeit war die Maria Rohrer, ein braves Mädchen von Oberbränd, als Dienstmagd bei dem fürstlichen Revierförster in Eisenbach. Diese wohl gesittete Jungfrau gefiel meinem Vater und nach Abschluss eines Jahres führte er sie zum Traualtar. Sie wurde kopuliert von dem damaligen tennenbachischen Beichtiger Joachim Lang in Friedenweiler. Dieser Mann starb anno 1811 in Kiechlingsbergen, und ich war im Jahre 1829 selbst alldort auf seinem Grab. – Nun muss ich aber wieder zurück zu meiner angefangenen, zu meiner angefangenen Geschichte.
Als den Eheleuten das erste Kind geboren wurde, befand sich mein Vater gerade auf dem Platz in Offenburg in Glashändlergeschäften. Damals schon lag ihm die Schildmalerei beständig im Sinne, wie mir der gegenwärtig noch lebende Einkäufer Laubis sagte. Tag und Nacht beschäftigte ihn dieser Gedanke, und er ließ kein Mittel unversucht, sich Kenntnisse in dieser Sache zu erwerben. Zur selbigen Zeit lebte in Offenburg ein Maler, der im Anstreichen und Vergolden wohl erfahren war. An diesen wendete sich mein Vater und besuchte ihn regelmäßig in seinen freien Stunden, um etwas von der Wissenschaft der Malerei von ihm zu profitieren. Dies gelang ihm auch so weit, dass er sich wenigstens einen kleinen Begriff von dem Fache aneignete; und wenn er nach Hause auf den Schwarzwald kam, so stellte er unverdrossen Versuche an, die ihm jedoch nicht immer am Besten gelingen wollten. Es war ihm nämlich hauptsächlich darum zu tun, statt der bisherigen Ölfarben einen festen trockenen Lack auf die Schilde zu bringen.
Bis zum Jahr 1787 verblieb dabei seiner Handels-Kompanie; unterdessen hatte seine Mutter das Zeitliche gesegnet und ein zweites Söhnlein, ich, der Schreiber dieser Chronik, zwar zur Welt gekommen, und zwar an einem Sonntag des Monats Dezember, im Zeichen des Fisches – Wolle Gott mich und alle die Meinigen segnen bis in den Tod!
Bald darauf wurde der Großvater von seinem Schöpfer in die Ewigkeit abgefordert. Mein Vater befand sich eben auswärts auf dem Handel, als er die Todesnachricht erhielt. Nebst diesem Trauerfall war eine weitere Veranlassung, nach Hause zu gehen, die Abrechnung der Glashändler-Kompagnie, welche alljährlich an den Tagen Katharinä und Konradi, abwechslungsweise bald in Hinterzarten, bald in Triberg stattfand.
Der Vater, welcher nun das großväterliche Haus übernehmen sollte, hatte den Entschluss gefasst, den Handel aufzugeben und daheim eine Schildmalerwerkstatt einzurichten. Weil er jedoch seiner Sache nicht ganz gewiss war, so wollte er doch nicht alle Verbindung mit der Kompagnie aufgeben und traf deshalb mit seinen Kameraden das Abkommen, dass, wenn ihm die Malerei nicht gelingen sollte, er jederzeit wieder bei ihnen eintreten könne. Für diese Verwilligung hatte er ein Kapital von 1000 Gulden unverzinslich einzulegen, wohingegen aber auch seine Söhne, wie andere Kameraden-Kinder, allezeit bei der Kompagnie angenommen werden müßten.
Hierauf wurde mit der Schildmalerei der Anfang gemacht, welche Kunst von da an bis auf den heutigen Tag im Hause mit Erfolg betrieben wird. Anfänglich wollte jedoch das Geschäft nicht sonderlich vorwärts, weil der Vater immer noch probieren und erfinden mußte und niemals ordentlich in der Lehre gewesen war und daher alles aus sich selbst schöpfen mußte. Doch mit der Zeit ging es besser, und der Verdienst wuchs allgemach heran. Von geschickten Gesellen, die er einstellte, lernte er noch manches, und an Fleiß und Ausdauer mangelte es ihm auch nicht.
Die heranwachsende Kinderzahl veranlaßte ihn, auf Vergrößerung des Häusleins bedacht zu sein, zu welchem Zweck er mit der Abtissin zu Friedenweier als der Eigentümerin des Grund und Bodens ein Übereinkommen traf wegen des nötigen Bauplatzes. Zugleich ließ er im Hause ein Kamin aufführen, eine Neuerung, die man selbige Zeit noch selbst über Wald antraf.
Wer bedenkt, dass dazumal neun lebendige Kinder im Hause waren (drei aus erster Ehe und sechs aus der zweiten), der wird wohl ermessen können, mit welcher Sorgfalt und Anstrengung müsse gearbeitet worden sein, um alles in gehörigem Stande zu erhalten. Aber der Herr im Himmel gab der Arbeit Segen und Gedeihen. Doch blieb die Familie auch nicht von schweren Heimsuchungen verschont. Im Jahr 1795 starben nämlich in kurzer Zeit nacheinander vier Kinder an der Kolik, und auch die übrigen lagen schwer krank darnieder.
Von den fünf Überlebenden waren die größeren Buben bald so weit, dass sie dem Vater bei der Arbeit gute Hilfe leisten konnten, so dass die Malerei einen erfreulichen Vorgang nahm.
Das Jahr 1796 war herangekommen und mit ihm die Franzosen als Feind. Doch hatte man im unsr’em entlegenen Tal wenig vom Kriege verspürt. Nur einmal streifte ein Trupp von zehn Mann von Friedenweiler her über das Gebirge, und raubte in einigen Höfen, aber nicht bedeutend. –
Von hier zogen sie nach Reichenbach, wo sie einen Hausmann von Schwärzenbach, der vom Berg herunter mit Steinen auf sie warf, tot schossen. Größerer Schaden jedoch geschah in Neustadt, allwo sie die Pfarrkirche samt dem Schulhaus in Flammen aufgehen ließen; ebenso beinahe das ganze Dorf Rötenbach an der Heerstraße, weil dort einige Franzosen untergebracht worden waren.
Im Kloster Friedenweiler wurde zu jener Zeit ein österreichisches Militärspital eingerichtet, in welchem während sechs Monaten über 100 Mann verstarben, und hinter dem Weiher bei der Schmiede begraben wurden. Die Abzissin mit ihrem ganzen Konvent hatte sich nach Hausenvorwald in die Baar geflüchtet, wo sie in dem dortigen Schlösslein Aufnahme fanden, nach Abzug der Österreicher, welche ihr Spital nach Villingen verlegten, aber wiederum zurückkehrten.
Von dieser Zeit an bis zum Jahr 1799 weiß ich wenig Erhebliches zu berichten; außer dass unserer Familie der siebente Sprössling zur Welt geboren wurde, so dass wieder sechs lebendige Kinder vorhanden waren. Der Vater ging jedes Jahr über Katharinen oder Konradi zur Abrechnung der Pfälzer Glashändler-Kompanie. Dies geschah auch im Jahr 1796, bei welcher Gelegenheit die Handelsfreunde meinem Vater bedeutende Erleichterung bezüglich des früheren Accordbriefes zugestanden. Es solle jetzt an alljährlich nur 32 Gulden an die Gesellschaft bezahlen und die nämlichen Vergünstigungen haben wie früher.
Nun komme ich zum Jahr 1799, welches mir zeitlebens unvergesslich bleiben wird. Im Spätjahre vorher waren die Franzosen bei uns durchmarschiert und nach Schwabenland, und im Frühjahr um Ostern kamen sie wied’rum zurück. Auf der Kirchsteig zwischen Röthenbach und Neustadt schlugen sie ein Lager, und viele Einwohner der umliegenden Orte flüchteten ihr Hausrat und vieles Vieh in unser verborgenes Tal. Dieses wurde aber dem Feinde verraten, so dass wohl die Flüchtlinge, wie auch die Einwohner in großes Unglück kamen. Es war am zweiten Sonntag nach Ostern, den 31. März, als man 4 bis 5 Franzosen über die Berge streifen sah, um das Eisenbächle ausfindig zu machen. –
Manche wollten zu scharfen Mitteln raten, dem Feinde das Handwerk zu legen; man war jedoch durch das Unglück der Röthenbacher gewitzt worden. – Montags darauf kamen schon mehrere und holten ohne viel Unterschweife einige Kälber und Schweine; am dritten Tag aber besuchten sie uns in noch größerer Anzahl und nahmen mit, was nur fortzubringen war; und am vierten Tag früh schien es, als befinde sich das ganze Lager auf dem Marsch in unser Tal. Bald waren die Häuser vollgestopft von Franzosen, und auf der Straße sah es aus, als wenn man mit groß und kleinem Vieh auf dem Markt fahren wolle – alles dem Lager zu.
Wir waren bis dahin immer in unserem Hause geblieben, wo die Plünderer, als nichts mehr zu finden war, dem Vater und bares Geld quälten, so dass man alle Augenblicke nicht wußte, wann sie ihm das Bajonett in den Leib brennen würden. Ich habe es selbst mit angesehen, wie sie unter Flüchen und Schimpfworten auf ihn zugingen und die Bajonette an seinem Kopf vorbei in die Wand spießten, (wovon jetzt noch Spuren zu sehen sind). –
Endlich schleppten sie ihn unter dem Jammergeschrei seiner Kinder und Frau, hinaus hinter das Haus in den Garten, und verkündigten ihm sein letztes Stündlein. Der Eine hielt ihn am Arm, der And’re ging etliche Schritte rückwärts, spannte den Hahn und schlug auf ihn an. – Da gab es endlich, was er noch besaß, zwei Kronentaler, die er in seinen Kleidern versteckt gehabt hatte, und flüchtete dem Wald zu, wohin ihn auch die Mutter und wir Kinder nachfolgten.
Da blieben wir den ganzen Tag und die Nacht, während die Franzosen unverdrossen in den Häusern fortwirtschafteten.
Da kam endlich unvermutet Erlösung. Kolumban Kaiser, der fürstenbergische Revierförster von Lenzkirch, ein kühner und entschlossener Mann, fand ein Mittel, die gewalttätigen Gäste uns vom Halse zu schaffen. Er wußte, dass in der Umgegend von Bondorf kaiserliche Truppen lagen. Er ging also dahin, meldete sich bei dem Kommandanten und erbat sich Mannschaft. Nachdem er mit seinem Leben für die Redlichkeit seiner Absichten sich hatte verbürgen müssen, wurde ihm eine Rotte Freikorps mitgegeben, die er mit Vorsicht und Stille, bei Nacht, durch die weitausgedehnten Waldungen seines Reviers geleitete*.- Alles ging nach Wunsch. Auf der sogenannten Klapplerhöhe standen die ersten französischen Piquets. – Augenblicklich beginnt der Kampf. – mit Franzosen. Die Franzosen werden umstellt, und wer nicht erschossen wird, flieht. Mit jedem Schuss aus einer Kugelbüchse streckte der wackere Jäger einen Franzosen zu Boden.
* Es waren Fußbänger und Reiter, welche, unter dem Commando des f.f. Hauptmanns Radwojevich und des Rittmeisters Boeiry, den Angriff ausführten, geleitet von dem fürstenbergischen Förster E. Kaiser, von dem die österreichischen Soldaten sagten, daß er zwar langsam lade, aber sicher treffe. Der Kampf dauerte, da die Franzosen Verstärkung an sich gezogen, bis Abends und hatte, wie der Chronist richtig bemerkt, den schleunigen Abzug des Feindes zu Folge.
Es war morgens zehn Uhr, als die Attacke ihren Anfang genommen. Die Plünderer, als sie das Feuern hörten, liefen über Kopf und Hals dem Lager zu, wo bald Alles in Alarm kam, aufpackte und das Weite suchte, über Neustadt und Freiburg.
Der muthvolle Förster, dem man diesen schnellen Aufbruch zu verdanken hatte, erhielt in der Folge vom Hause Österreich die goldene Ehrenmedaille.
Nachdem die Feinde abgezogen waren, wagten sich die Einwohner wieder aus den Wäldern hervor, aber sie fanden ihre Häuser leer. – Was unsere Familie anbetrifft, so hatten die Franzosen das, was versteckt gewesen, zwar nicht gefunden, dagegen Alles mitgenommen, was nur fortzuschaffen war: Kühe, Kälber, Hühner, Geld, Bettzeug, Leinwand, Kleidungsstücke aller Art, Garn, Tauftücher, Rasiermesser, Küchengeschirr, Messer, Gabeln, Salz, Brot, Feldgeschirr, ja sogar noch sämtlichen Malerapparat; in Summa über 200 Gulden Wert.
Es war nicht anders, als hätte man ein leeres Haus gekauft und wollte jetzt erst anfangen zu wirtschaften. Was man brauchen wollte, war fort. – Das Bedauernswürdigste aber war der Zustand des Vaters; denn von der Zeit an, wo er so übel traktiert und in Todesangst getrieben worden, war er niemals mehr recht gesund. Zwar arbeitete er immer noch so gut es gehen wollte, aber sein Zustand verschlimmerte sich zusehends.
In diese verwirrte Zeit fiel auch die Geburt eines Leibeserben, des achten und letzten aus zweiter Ehe. Ich erinnere mich dieses Umstandes noch recht gut, es war an einem Montag, und ich wurde, weil das Kind etwas schwächlich war, eilends fortgeschickt, um die Gothe zu holen, die Willmans-Bäuerin im Schwärzenbach.
Die zwei ältesten Söhne Nikolaus und Johann waren in der Malerei schon so weit voran, dass sie tüchtig bei der Arbeit mithelfen konnten. Demungeachtet aber war der Vater stets darauf bedacht, sie auch mit dem Glashandel vertraut zu machen, so dass sie im Notfall beide Geschäfte zugleich treiben könnten. Zu diesem Ende verordnete er, dass der Älteste, nämlich Nikolaus, zu der Kompagnie gehen solle; und weil die Mitglieder immer viele Zeit zu Hause sein mußten, so konnte er sich nebenher noch in der Malerei hinlänglich üben. Auf dieses reiste der Bruder also ab, und wurde von der Gesellschaft auf den Platz Lahr versetzt.
Des Vaters Unpässlichkeit aber war unterdessen immer schlimmer geworden. Mehrere Kuren, die er versucht hatte, blieben ohne Erfolg. Am Magdalenentag des Jahres 1800 ging die Mutter zum Ersten Mal nach Döggingen zu dem dortigen Wunderdoktor, der jedoch nicht helfen konnte. Hierauf brauchte der Kranke längere Zeit den Doktor Stegerer von Vöhrenbach, sowie zuletzt noch den Doktor Engelberger in Donaueschingen. – Aber es war kein Aufkommen mehr. Sein Zustand wurde immer bedenklicher. Seit fünf Monaten konnte er das Bett nicht mehr verlassen, und war so stark geschwollen, dass ein jammervolle Anblick war. Doch trug er Alles mit Geduld und Ergebenheit.
Als er sah, dass er sterben müßte, trat er noch folgende Anordnung:
Erstens, solle die Mutter den (Haus-) Kauf übernehmen, und zwar um die Summe von 800 Gulden.
Zweitens, solle der älteste Sohn, zurzeit noch im Lande auf dem Glashandel, wiederum nach Hause kommen und die Schildmalerei mit den übrigen Geschwistern fortführen. Ferner solle die Mutter den zwei ältesten Buben, die beide im Malen sehr geschickt waren, sowie dem Mädchen aus erster Ehe, das mit Zurichten (Grundieren und Schleifen der Schilde) gut umgehen konnte, jedem vom Gulden Verdienst acht Kreuzer geben, nebst der Anschaffung alles Nötigen, mit Ausnahme der Kleidung, für welche sie selbst zu sorgen haben solle.
Und drittens, wenn er gestorben sein, solle man ihn in seines ersten Ehe Weibes Grab legen.
Der traurige Tag des Dahinscheidens rückte immer näher. Am 6. Mai 1801, an einem Mittwoch, entschlief er selig im Herrn, in einem Alter von 42 Jahren und 30 Wochen. Gott gebe ihm und allen Abgestorbenen die ewige Ruhe.
Man kann sich leicht denken, dass unser Hauswesen durch diesen Verlust ein betrübtes Ansehen werde bekommen haben. Das jüngste Kind war wenig über ein Jahr alt, dem ältesten aber wurde geschrieben, dass der Vater gestorben sei und er nach Hause kommen solle, was er auch gleich tat.
Hierauf wurde nach des Vaters letzten Willen verfahren und abgeteilt. Jedes der drei Kinder aus erster Ehe erhielt von dem vorhandenen Vermögen 624 Gulden. Den übrigen sowie auch der Mutter trafen jeden 570 Gulden. Mithin hatten unser gottseliger Vater ein Vermögen hinterlassen von 4722 Gulden.
Ich habe schon bemerkt, dass die Schildmalrerei von den Geschwistern fortgetrieben wurde und nach des Vaters Anordnung jeder der ersten Kinder einen gewissen Anteil von dem Verdienst anzusprechen hatte. Was mich betrifft, ich war dazumal noch Lehrjunge und bekam keinen Lohn, außer was ich in der Feierabendstunden mit Anfertigung kleiner Schilde verdiente. Daß ich aber fleißig war, kann der Umstand beweisen, dass ich im 15. Jahr meines Alters bereits 100 Gulden erspartes Geld besaß.
Kaum ein Jahr hatten wir unter diesen Umständen fort gehaust, als sich der ältere Bruder, Nikolaus, verheiratete und von uns wegzog zu seinem Schwiegervater nach Oberbrännd. Doch litt durch seinen Abgang das Handwerk nicht sonderlich; denn Johann, der zweite Bruder, ersetzte ihn vollkommen, und auch ich war unterdessen merklich vorwärts geschritten. Bei diesen Verhältnissen verblieb es bis zum Jahre 1805, wo ein neuer Vertrag abgeschlossen wurde.
Von da an arbeitete nämlich mein Bruder Johann in Verbindung mit der ältesten Schwester Katharina, für sich allein, und bezahlte der Mutter das Kostgeld. Ich aber mußte die Führung des Hauptgeschäftes übernehmen und bezog vom Gulden zwölf Kreuzer, während auch mir Katharina das Zurichten besorgte.-
Das Mädchen blieb jedoch nicht mehr lange bei uns, denn schon im folgenden Jahre verheiratete sie sich mit Anton Hoffmeier im Schwärzenbach. Am baarem Vermögen (ohne Mobilien) zog sie hinweg, 1114 Gulden. Auf dieses mußte Johann seine Arbeit sich selbst zurichten, mir aber leistete die zweite Schwester Theresia recht gute Dienste; im übrigen aber lag das ganze Geschäft allein auf mir. Demnach waren nun zwei Malerwerkstätten im Hause, aber nur kurze Zeit. Denn nach Jahresfrist verehelichte sich Bruder Johann ebenfalls und ließ sich in Neustadt nieder. Sein Vermögen bei seinem Wegzug bestund in 1500 Gulden baarem Gelde.
So waren denn alle vorhergehenden Kinder verheiratet, und die Witwe mit ihren vier eigenen Kinder war allein im Hause. Wir hatten ein ruhiges und vergnügtes Hauswesen, aber leider währte dieser angenehme Zustand nicht lange. Es war an einem Freitag nachmittag, als unsere liebe Mutter mit Steinlesen oder Säubern des Ackers beschäftigt war und plötzlich von einem heftigen Frost ergriffen wurde, so dass sie beinahe nicht mehr nach Hause kommen konnte. Sie fühlte große Schmerzen und mußte folglich zu Bette gebracht werden. Ich holte den Doktor aus der Neustadt, aber sein Mittel schlugen nicht an und das Übel wurde gefährlich.
Die Kranke verlangte nach den heiligen Sakramenten. Die Schmerzen nahmen immer mehr überhand; noch klagte sie nicht, und beschäftigte sich fortwährend im stillen Gebete. Als sie ihr Ende herankommen fühlte, versammelte sie ihre Kinder um das Krankenbett und sprach zu ihnen: „Übervorteilt und verachtet Niemand, und wenn ich werde gestorben sein, so begrabt mich in meines Mannes, Vater Mathias Kirners Grab“. Und weiters befahl sie, dass man ihr den hochwürdigen Herrn Pfarrer von Friedenweiler noch einmal herhole, was auch folglich geschah.
Als der Geistliche nach Verfluss einer Stunde in die Stube trat, fragte er, wie es gehe? – „Recht geht es!“ antwortete die Kranke und bat, dass wir für das Heil ihrer Seele fünf Vaterunser beten möchten. Während dieses geschah, übergab sie ihren Geist sanft in die Hände ihres Schöpfers. – Es war am 17. Mai 1810.
Also waren wir Kinder unseres besten Schatzes auf Erden beraubt. Doch hoffen wir, dass die Verewigte bei Gott für uns bitten würde, so wie wir auf Erden niemals Ihrer vergessen werden. Gott gebe Ihr und allen Abgestorbenen die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte Ihnen!
Wir suchten nun unser Hauswesen so gut wie möglich fortzuführen.Als ältestes Kind sollte ich den Kauf übernehmen, und den Geschwistern eine Vermögensteilung vornehmen. Wir kamen überein, dass wir gegen die Summe von 950 Gulden rheinischer Währung der Hausbesitz verbleiben solle; den ledigen Geschwistern jedoch der Aufenthalt im Hause, nach Landesbrauch, bis zu ihrer Verheiratung oder Tod gestattet werde. Ferner hatte ich noch die Verpflichtung, den jüngeren Bruder in der Malerzunft zu unterrichten, so wie demselben bis zu seinem 15. Altersjahre Kleidung und Kost zu geben.
Bei der Vermögensteilung hatte sich herausgestellt, dass unsere gottselige Mutter während ihres neunjährigen Witwenstandes, unter meiner Geschäftsführung, vorwärts gehauset an barem Gelde 400 Gulden, nebst dem Lohne, den wir arbeitsfähigen Kinder von dem Einkommen bezogen hatten. Zur selbigen Zeit besaß ich aber schon 700 Gulden erspartes Geld, so dass wir der Erbportion, die mir traf, mein Vermögen in 1513 Gulden bestand. Das Notwendigste zu einem wohlgeordneten Hauswesen aber fehlte mir noch: ein braves Weib.
Bei der Brautwahl nahm mich das alte Sprichwort zur Richtschnur: Willst du weiben oder mannen, sollst du zum nächsten Nachbar langen. Demnach führte ich Katharina Schunhart, meines Nachbars Tochter, als ehelich angetrautes Weib in das Haus. Ich war 23, meine Frau aber 20 Jahre alt, und die Hochzeit wurde in Friedenweiler gehalten.
Mein jüngerer Bruder ließ sich in der Malerei sehr gut an. Den Zweiten aber hat Nicolaus zu sich genommen, der das Geschäft auch noch immer fortsetzte, und die Schwester Theresia verheiratete sich bald nachher an einem Uhrenhändler in Eisenbach, der in Graubünden Handel trieb. Die Verbindung war, wie vorauszusehen, eine unglückliche; das Mädchen jedoch hatte sich nicht von ihrem Willen abbringen lassen. Sie zog zu ihrem Manne in die Schweiz, hatte aber wenig gute Tage bei ihm. Der Kummer zog ihr zuletzt eine schmerzliche Krankheit zu, von welcher sie, in ihrem 32. Altersjahre, die Hand des Allmächtigen befreite. Gott gebe ihr und den allen abgestorbenen Christgläubigen die ewige Ruhe! Sie hinterließ zwei Mägdlein und ein Büble.
Wir dagegen führten in unserem neu angetretenen Ehestand ein gesundes und zufriedenes Leben, und der Herr schenkte unserem Hauswesen Gedeihen. Hier mußte ich aber etwas ausführen, was eigentlich billig früher hätte gesagt werden sollen.
Als mein seliger Vater noch auf dem Krankenbett lag, hatte er verlangt, dass die Mutter nach seinem Tode der Pfälzer Glashändler-Kompagnie 50 Gulden übermachen solle, als freiwillige Entschädigung für den Fall, dass er zur Zeit, wo er noch bei dem Geschäfte war, etwas vernachlässigt oder versäumt habe –
Wie die Zeit herangekommen war, wo die Männer ihre jährliche Abrechnung hielten, begab sich meine Mutter mit mir, dem noch jungen Knaben, nach Hinterzarten zu der Gesellschaft, nach des Vaters letztem Wille, das Geld zu überreichen. Als die Leute aber ihr Anliegen vernommen, verweigerten sie sich das Angebot anzunehmen. „Wir müßten,“ sagten sie, „ohne Menschengefühl sein, wenn wir das Geld annehmen würden. Euer Mann hat jederzeit redlich seine Obliegenheiten und Pflichten erfüllt. Wollte Gott, wir hätten immer Solche in der Kompagnie gehabt, wie er war. Nicht nur, dass wir die 50 Gulden nicht annehmen, auch den jährlichen Zins von 32 Gulden, den ihr uns bisher entrichtet habt, setzten wir von heute an auf zwölf Gulden herab.“ Und wirklich nahmen die Männer diesen Beschluss folglich zu Papier und fügten ihn dem früheren Accordbrief bei. –
So verblieb es bis zum Jahre 1816, wo uns der bedungene Zins gänzlich erlassen wurde, mit dem Bedeuten, dass, wenn Einer oder der Andere von uns Kirner’schen in die Kompagnie eintreten wolle, wir jederzeit willkommen sein und wie andere Kameradenkinder sollen angesehen werden.
Unsere Ehe wurde in der Folge sehr mit Kindern gesegnet; von 14 blieben jedoch nur acht am Leben, die nachmals alle glücklich ihr Auskommen gefunden und sich den Ehestand begeben haben.
Während ich mit meinem jüngeren Bruder, der als Gesell bei mir arbeitete, unverdrossen die Malerei betrieb, war ich nicht minder bedacht, durch etwas Wiesen- und Feldbau unser Haushaltung zu verbessern. Ich hatte mir an sogenannten Bachdobel einige Matten gepachtet, auch einige Plätzlein Feld urbar gemacht, sowie den Garten vergrößert. Nebst diesem verwendete ich auch viel auf die Erweiterung und bessere Einrichtung des Wohnhauses.
Unterdessen hatten sich wieder ein schlimmes Wetter über den Schwarzwald zusammengezogen. Der französische Kaiser Napoleon war in Russland geschlagen worden und die Alliierten verfolgten ihn bis nach Paris.
Dieser Umstand brachte auch uns zahlreiche Einquartierung und andere Leiden. Im Kloster wurde ein russisches Spital eingerichtet, wohin nach der Schlacht bei Belfort über 1300 Blessierte verbracht wurden, so dass nicht alle in den Zellen konnten untergebracht und viele in die Kirche und Scheuern mußten gelegt werden. Eine bösartige Nervenkrankheit, welche man die Russenkrankheit nannte, herrschte unter ihnen und verbreitete sich bald auch in der Nachbarschaft. Ich begleitete damals in unserer kleinen Gemeinde das Amt eines Gemeinderechners und mußte wegen Lieferungen, die uns auferlegt waren, viel im Kloster mich aufhalten, welchem Umstand ich es zuschreibe, dass ich samt meinem Weibe von der Krankheit ergriffen wurde und wir beide erst nach langer Zeit wieder genesen konnten.
Indem ich zu dem Jahre 1817 komme, kann ich nicht unterlassen, des traurigen Schicksals zu erwähnen, welche in dieser Zeit die Stadt Neustadt betroffen. Durch Unachtsamkeit österreichischer Soldaten war am heiligen Ostertag im Wirtshaus zum Kreuz Feuer aufgekommen, welches so schnell um sich griff, dass in wenigen Stunden das ganze Städtlein in Asche lag, mit Ausnahme weniger Häuser. Der Schaden belief sich nach dem Brandsocietäts-Anschlag, auf 77.250 Gulden.
Die schreckliche Teuerung, die im Laufe desselben Jahres aufkam, war auch hier zu Lande sehr bedrückend; und wenn nicht eine gesetzliche Tare von dem Landesregenten wäre gemacht worden, hätte der gemeine Mann zugrunde gehen müssen. – Aus dem folgenden Jahre weiß ich nichts Besonderes zu berichten, als dass ich ein neues Immenhäuslein und die Brunnenstube habe machen lassen, nicht minder eine größere Werkstatt, so wie mancherlei Nebenbesserungen im Haus und Feld.
Alles bisher Gesagte aber ist getreulich nach der Wahrheit, und ich hoffe, dass die Mühe des Schreibens von meinem Nachkommen werde nach Verdienst geschätzt werden. Nach meinem Tode aber bitte ich jeden Leser meiner zu gedenken, wenigstens mit einem Vaterunser.
Wieder zum Geschäfte zurückkehrend, bemerkte ich, dass die meiste Arbeit aus meiner Werkstatt nach London ging, an dort ansässige Schwarzwälder Handelsleute. Auch ein Bruder von mir war auswärts auf dem Handel. Joseph, der vielgeliebte Jüngste aber half mir getreulich zu Hause 14 Jahre lang, und als Lohn erhielt er während dieser Zeit 3574 Gulden nebst der Verköstigung. –
Es ist dies zwar ein schönes Geld, aber einen solchen Gesellen, wie er, gibt es in der Welt kein zweiten. Nach seiner Verheiratung zog er von uns weg nach Schwärzenbach; doch wird er mir und meiner Familie stets unvergesslich bleiben. Gott wolle ihn samt seiner Frau und uns Alle segnen auf dieser Erde und uns dereinst alle im Himmel zusammenkommen lassen!
Ich denke, dass er für meine Nachkommen nicht ohne Interesse sein wird, wenn ich eine kurze Aufzeichnung meiner Einnahmen vom Jahr 1810 bis 1830 hier einfüge. In diesem Zeitraum wurden von gefertigten Schildern eingenommen – 31.915 Gulden 33 Kreuzer – und zwar steigerte sich die jährliche Einnahme von 467 Gulden bis zum Jahre 15 allmählich auf 1066 Gulden, und stieg so immer höher bis im Jahre 1822, wo sie schon 2166 Gulden per Jahr betrug, und von dieser Summe ungefähr verblieb bis zum Jahre dreißig. Sonstige Einnahmen, während genannter Zeit füge ich noch bei – 4516 Gulden Kapitalzinsen; Besoldungen und Diäten als Gemeinderechner, nebst Gewinn von Taschenuhrenhandel – 836 Gulden; Erlös von verkaufter Butter – 492 Gulden. Also verblieb mir nach 20 Jahren ein reines Vermögen von – 12.923 Gulden.
Als eine besondere erfreuliche Tatsache muss ich noch erwähnen, dass mir im Jahre 1840 die Ehre zuteil wurde, Seine Durchlaucht den Fürsten zu Fürstenberg auf seinem Schloss Heiligenberg zu besuchen, wo mir dieser menschenfreundliche Herr, und mein besonderer Wohltäter, zum freundlichen Angedenken einen fürstenbergischen Taler aus dem Jahr 1750 schenkte.
Diese Münze soll zum ehrenden Gedächtnis in meiner Familie von Nachkommen zur Nachkommen aufbewahrt bleiben. – Gott segne den edlen Geber und seine ganze Familie fortwährend!
Ferner erwähne ich eine Lustreise, die ich im August des Jahres 1841 in Begleitung eines Freundes nach London unternahm. Nachdem wir bis nach Kehl gefahren, benützten wir rheinabwärts bis Rotterdam das Dampfboot. Von dort verfügten wir uns nach Haag, besuchten das Bad Seveningen am Meere und begaben uns dann wieder nach Rotterdam zurück, von wo wir Nachmittags um zwei Uhr auf einem englischen Dampfboote abfuhren, das anderen Tages aber um diese Zeit in London ankamen und bei einem Geschäftsfreund abstiegen.
Weil ich aus Liebe zu meinen Landsleuten die Reise unternommen hatte, so war es mein Erstes, sie Alle zu besuchen. Während unseres vierzehntägigen Aufenthaltes hatten wir dann hinreichend Gelegenheit, die Stadt mit ihren vorzüglichen Gebäulichkeiten kennen zu lernen. Das Drurylane-Theater, die Kirche St. Paul, den Dower, die königliche Residenz, die Bank, das britische Museum und den Themse-Tunnel. Sonntag Abends wohnten wir auch einem Meeting bei, welches unsere Landsleute zum Besten ihrer Kirche hielten; es waren aber 40 Mitglieder; ich werde diesen Akt niemals vergessen. – Auf der Eisenbahn machten wir einen Ausflug nach Greenwich und Windsor, alwo wir das königliche Schloss zu besuchen die Ehre hatten. Am Sonntag Morgens acht Uhr fuhren wir auf dem Dampfboot Batavia wieder von London ab, und erreichten den nächsten Tag Morgens sieben Uhr glücklich Rotterdam, von wo wir den Rückweg über Köln, Mainz und Frankfurt nahmen, und von Kehl über Offenburg durch das Kinzigthal der Heimat zueilten, wo wir nach 35 tägiger Abwesenheit bei den Unsrigen wiederum eintrafen
Der Schiffslohn von Kehl bis nach London und wieder retour betrug per Mann 53 Gulden 32 Kreuzer. Die ganze Reise aber kostete mich 144 Gulden 30 Kreuzer.
Indem ich nochmals auf die Malerei zurückkomme, bemerkte ich, dass vom 16. Juni 1810 bis zum 16. Juni 1845 gemalte Schilde in meiner Werkstatt gefertigt wurden – 116.408 Stück, und der Erlös hierfür betrug 66.005 Gulden 20 Kreuzer. Verlust (an schlechten Zahlern) habe ich in dieser Summe gehabt ungefähr 300 Gulden.
In diesem nämlichen Jahr starb auch unser verehrter, langjähriger Pfarrer Speckle in Friedenweiler; ein menschenfreundlicher und rastlos tätiger Geistlicher, dessen Andenken noch lange bei seinem Pfarrangehörigen fortleben wird.
Gottes Güte, Gottes Segen und Gottes Beistand ‚ey und Bleibe jederzeit bei uns Allen!
Uhrenschild von Lucian Reich
Uhrenschild von Johann Baptist Kirner
Selbstporträt von Johann Batist Kirner 1829 im Kirner Kabinett Furtwangen
Das Buch habe ich hier 2021 veröffentlicht. Allerdings veraltet auch eine Webpage ziemlich schnell und die nächsten Monate möchte ich die einzelnen Kapitel aktualisieren. Deswegen werde ich jedes aktuelle Kapitel wieder nach vorne kramen. Das alte Buch mit der sehr eigenwilligen Schreibweise in Frakturschrift hatte ich damals vorgelesen, um den gesprochenen Text von einem Programm namens f4transkript in Buchstaben umzuwandeln. Den umgewandelten Text habe ich danach bearbeitet, da viele der Wörter dem Programm nicht bekannt waren. Aus diesen Gründen ist der Text ein Gemisch aus alter und neuer Schreibweise. Was es in den verschiedenen Kapiteln des Buches gibt, ist diese vorgelesene Tonspur mit dem Transkript in schwarz. In blau sind unten Erklärungen dabei.
Mit großer Hast trieb ich an den Vogt, dass er mit mir gehe; und als wir nach Neustadt kamen zum Justizmann, der übrigens unserer Familie von früher her wohlgewogen war, wurde ich freilich anfangs hart angefahren; doch als ich ihm die Sache auseinandersetzte und meine Entschließung kundtat, wurde er etwas glimpflicher und sprach eine Zeit lang unter vier Augen mit dem Vogt. – Bis zum anderen Morgen jedoch erhielt ich Quartier beim Schließer, worauf mir dann die nötigen Papiere nach Karlsruhe zum betreffenden Kommando eingehändigt wurden. – Ich hatte noch vor meinem Abmarsch die Beruhigung, wiederholt zu erfahren, dass mit meinem Gegner nicht gefährlich stehe, und er selbst bezeugt habe, dass er durch den Fall in’s eigene Messer sich verwundet habe, überhaupt den ganzen Handel für mich nicht ungünstig darstellte.
Wohl dachte ich schmerzlich an das Mädel, aber die Hoffnung, der Trost aller Verliebten, stärkte mich: Hoffnung, sagte ich zu mir selber, zeigt sich immerdar, treugesinnten Herzen gütig u.s.w. Das Einzige, was mir schwer fiel, war, dass ich sie nicht nicht mehr sehen und sprechen konnte, denn wir Rekruten hatten Ordre, der nächsten Tag schon einzurücken. Meinen Bruder hatte ich zu meinem Meister geschickt, dort meine Habseligkeiten in Empfang zu nehmen.
Der Abschied daheim war kurz, aber schwer. Meine Mutter ging es vor, als wolle sie mich nicht mehr sehen.
Am 12. August zogen wir in Karlsruhe ein, wo wir 14 Tage exerzieren, danach folglich abmarschieren mußten. – Vorher hatte ich der Philippine ein Schreiben zugehen lassen, worin ich ihr den ganzen Sachverhalt genau auseinandersetzte und sie versicherte, dass ich stets unerlosch’ner Lieb‘ und Treu ihrer gedenken werde und nur in Sorgen stehe, sie möchte mir diesen Schritt zum Gegenteil auslegen. – Übrigens, schrieb ich, sehe ich das Ganze als eine Schickung von Oben und als den Probierstein ihrer Gesinnung und Standhaftigkeit an, und indem ich alles Andere unserem Herrgott überlasse, erinnere ich sie an das Sprüchlein auf der hohen Ahorn u.s.w.
Unser Abmarsch ging zu schnell vor sich, dass noch Antwort von ihr hätte eintreffen können. Unser Korps, elfhundert Mann stark, unter Major Brückner, war als Ergänzungskorps nach Russland bestimmt. Der Kapitän meiner Kompagnie hieß Dalberg, ein guter Mann, den ich später eine Zeit lang bediente. Es hieß, wir seien nach Stralsund bestimmt, wir erreichten jedoch diese Festung nicht, denn schon hinter Berlin begegnete uns da und dort Kosackenchwärme, und bedenkliche Gerüchte verlauteten von Napoleons Missgeschick in Russland.
Eines Tages, als wir guten Muts auf der Heerstraße fortmarschierten, begegnete uns ein Soldat im grauen Mantel und fragte die Vordersten, ob er nicht Badener vor sich habe; und als man mit Ja antwortete, stellte er sich den Offizieren als Landsmann vor, der von Russland komme und die gerettete Fahne vom ersten Regiment, um dem Leib gewickelt, bei sich trage. – Sie können sich den Jubel der Leute denken; die Offiziere umarmten und küßten den braven Mann, fragten ihn über Alles, und gaben ihm Bedeckung bis nach Berlin. – Wir aber stießen weiterziehen auf immer bedrohlichere Anzeichen, und eines Morgens, Angesichts der Festung Stralsund, hieß es plötzlich „Kehrt“ und man sagte uns, dass es nach Großglogau gehe, wo wir mit verschiedenen Corps der retirirenden französischen Armee die Besatzung bilden sollten.
Es wurde so weitschichtig sein, wollte ich alle Einzelheiten dieses langwierigen Festungsdienstes aufzählen. Über zehn Stunden im Umkreis mußten wir Streifzüge tun, um Fourrage und Proviant herbeizuschaffen, oft auch wurden wir als Exekutionsmannschaft in die Dörfer und Edelmannshöfe gelegt, wenn es sich darum handelte, Kontributionen einzutreiben. Also wollte der französische General.
Als die Festung später, im Jahr dreizehn, belagert wurde, kamen wir zum Ersten Mal Pulver zu riechen. Bei einem der vielen Ausfälle, die wir machten, wurde ich stark blessiert. Ein Bajonnet, welches eine Kanonenkugel meinem Vordermann vom Gewehr wegriß, traf mich in die Brust, so dass ich lange Zeit im Spital kampieren musste.
Dreiviertel Jahr lagen wir in Glogau eingepfercht; hernach ging’s in’s Lager bei Lüben. – Freund, das war ein Leben, hei! Denken Sie sich den Anblick, in fünf unabsehbaren Reihen stunden wohl fünf Stunden weit die Zelte. Für die Offiziere aber wurden besondere hölzerne Baracken gezimmert, förmliche Hütten und mehrenteils proper ausstaffiert. Da streiften wir Soldaten oft fünf, sechs Stunden weit auf die Edelhöfe, um Blumentöpfe und anderen Zierrat für unsere Kapitänszelte zu requirieren.
Napoleon hielt auch einmal große Heerschau über’s ganze Lager, wohl an die einmalhunderttausend Mann; ein andermal wurde sein Geburtstag gefeiert, das war eine Wirtschaft, Herr, ein Schmausen, Poculieren und Vivatgeschrei; Deutsch und Französisch durcheinander; und weil ich’s Geigen nicht weniger als verlernt hatte, so spielte ich auf gut operländisch die fidelsten Länder und Walzer dazwischen, dass es manchem Landsmann ganz warm um’s Herz wurde, wenn er dabei die daheim an Die daheim dachte.
Zehn Wochen dauerte das Leben, lustig und in Floribus, dann ging der Teufel von Neuem los. – Jeden Tag Alarm, Gefecht, Vor- und Rückmarsch. Doch war das Alles nur das Vorspiel zur großen Schlacht bei Leipzig. Wir gehörten zum elfte Armeekorps, 39. Division, und standen unter General MacDonald und unserem Major Brückner. – Das waren heiße Tage, Freund, die wohl keiner vergessen wird, der sie mitgemacht hat; aber die Meisten sind unterdessen schon zur großen Armee abberufen worden, hinüber in’s Jenseits. Doch, der gemeine Soldat befindet sich bei solchen Affären gleichsam im Nebel, er steht in Reih und Glied, wie ein Halm im Kornfeld und hat keinen Überblick über’s Ganze. Hatte man zum Beispiel am Abend eine Stellung eingenommen, dem Feind gegenüber, so war am Morgen schon das ganze Theater wieder verändert; so ging es hin und her, vor- und rückwärts, und Keiner kam aus den Kleidern.
Zweimal mußten wir durch einen Fluss warten, bis an den Hals, im Wasser, und wer nicht verstand schräg gegen die Wellen zu marschieren, den spülten sie weg suf niemals Wiedersehen. – Beim Anfang der Schlacht standen wir bei Holzhausen, wohl fünf Stunden von Leipzig. Am ersten Tag (wir hatten tapfer gestürmt gegen die Schwedenschanzen) Abends lief ein Vivatgeschrei durch alle Reihen; also hatte es Napoleon befohlen, der sich schon Sieger glaubte. Unser Corps hatte auf einem Berg Posto gefasst, und wir unterhielten die ganze Nacht hindurch Freudenfeuer aus verbrochenen Lasseten und Bagagewägen; und wie das Feuer von Berg zu Bergen loderte und es ringsum krachte und blitzte, und Keiner wußte, was wohl die nächste Minute bringen werde, stand ich auf meinem Posten und machte Kalender.
Sonderbar, zum Kriegshandwerk hatte ich von Jugend auf nicht die mindeste Lust gehabt und hätte mir im Traume niemals einfallen lassen, jemals Soldat zu werden, und auch jetzt war ich nicht mit Leib und Seele dabei. – Dass wir Deutsche gegen Deutsche im Feindschaft stunden, machte mir und Keinem groß Bedenken; man wußte von früher her nicht anders, und dass sie aufeinander schlagen mußten, während der Ausländer den Meister spielte; doch wurmte mir, ich darf es wohl sagen, unsere Kameradschaft mit dem Franzos, von dem ich von Kindesbeinen an so viel Übles aus den vorigen Kriegen sagen hören müssen, nicht anders, als wäre er der eigentliche Reichsfeind, was er auch bei all‘ seiner Höflichkeit von jeher gewesen ist und bleiben wird, so lang es in Deutschland für ihn was zu holen gibt.
Mitten in dem gewaltigen Feldlager, Freund, zwischen Mord und Tod, desertierten meine Gedanken oft heimatzu, zu dem waldigen Hohberg und Roßbühl zur hohen Ahorn. – Wie wenig doch der Mensch voraussehen kann, dachte ich dann; wie standen wir junge Blutes damals so fröhlicher Hoffnung, und meinten so nah am Ziel zu sein,- und jetzt in so weiter, weiter Trennung, – vielleicht auf immer, denn der nächste Augenblick schon konnte mich unter die Toten werfen.
Näher und näher rückten wir gegen die Stadt Leipzig. Die ganze Armee kam in Bewegung; nicht anderst, wie ein großmächtiger Eisgang. Die Erde bebte unter dem Donner der großen Geschütze, die bei tausend gegeneinander spielten. Als wir uns durch ein österreichisches Carré durchschlagen mußten, erhielt ich einen Streifschuss am linken Fuß; bei Leipzig selbst, als wir am vierten Tag durch die Vorstädte stürmten, traf mich eine Kugel durch den Kragen in’s Halstuch, doch ohne weiteren Schaden.
Da aber begann ein fürchterliches Gedränge gegen die Stadttore, die wir gegen die andringenden Alliierten verteidigen sollten, um der geschlag’nen Armee den Rücken zu decken; doch aus allen Winkeln und Gassen starrten uns bald, wie ein eiserner Wald ,die Bajonnete der Verbündeten entgegen, welche in die Stadt eingedrungen waren. Es waren Preußen, vor denen wir die Waffen strecken mußten. Unter starker Bedeckung wurden wir vor die Stadt auf’s freie Feld eskortiert, wo wir einen Tag und eine Nacht, bei Schnee und Regen kampieren mußten, ohne Speis und Trank. Überall umher war der Landsturm aufgeboten worden, die versprengten, abgeschnittenen Schaaren zu fangen und zu bewachen. Auch wir wurden einer Abteilung Landwehrmänner übergeben, die Befehl hatten, uns landeinwärts zu transportieren.
In Kirchen und Schafställen, wie es sich gerade traf, wurden wir die Nacht über untergebracht. Unsere Nahrung bestand lediglich nur in geschrotetem Brod, was man uns jedes Mal Abends in Körben vor die Eingänge brachte, sowie eine einige Fässer mit Wasser.
Eines Tages, als wir durch den Wald marschierten, kommt ein Kamerad, der einen unserer Offiziere zum Vetter hatte, zu mir und anvertraute mir, dass er von seinem Vetter erfahren habe, geh‘ es schnurstracks Sibirien zu; weil er aber von dem dortigen Aufenthalt sich gar wenig Plaisier verspreche, so habe er vor, heut Nacht zu desertieren, und wenn ich von der Partie sein wolle, so sei ich höflichst invitiert. – Ich schwankte lange, was ich tun sollte, endlich resolvierte ich mich zum Bleiben, und mit den übrigen Kameraden das Schicksal zu teilen, komme was wolle. Also ging es weiter der russischen Grenze zu; es war kein Geheimnis mehr, dass man in Sibirien für uns Quartier bestellt habe.
Aus dieser Not befreite uns der Markgraf Wilhelm, unser tapferer Chef, der im Felde immer so väterlich für die seinigen sorgte. Es war an der Grenze, als dieser Herr zu uns kam mit der Freundensbotschaft, die Rückkehr in’s liebe Vaterland sei uns gestattet. Sie können sich den Jubel der Mannschaft vorstellen, und sich vom Volk, die sich schon verloren geglaubt hatte.
Unser Weg ging zurück über Berlin, wo man uns wieder militärische Ehren zuteilwerden ließ, weil auch unserer Großherzog Karl den Alliierten sich angeschlossen hatte. Mehrere Wochen wurden wir in Dörfer um Berlin einquartiert, und als wir wieder etwas zu Kräften gekommen waren, (denn unser Zustand war nach und nach ein erbärmlicher geworden) ging’s weiter dem Vaterlande zu.
Bei Durlach kam uns der Großherzog entgegen. Er weinte, als er das kleine, elend aussehende Häuflein sah. Von den elfhundert, die vor fünf Vierteljahren Jahren ausmarschiert waren, kamen nicht mehr als sechzehn Mann zurück. Er befahl, un, in gute Quartiere zu verlegen, aber sein Adjutant machte ihm Vorstellungen: Die Leute, meinte er, wären nicht in dem Zustand, bei Bürgern untergebracht zu werden; und er hatte Recht. Denn als wir in die Kaserne zu Karlsruhe kam, war es das Erste, unsere alten, übel zugerichteten Monturen auszuziehen und im Kasernenhof den Flammen zu übergeben. So endete unser Feldzug gegen Russland.
Die Verbündeten waren unterdessen über den Rhein gegangen. Nach kurzem Aufenthalte in Karlsruhe wurden auch wir nachgeschickt, und mit der Landwehr bei der bei dem Blockadekorps um Straßburg und Kehl verwendet.
Vor Straßburg kam ich in das letzte Mal in’s Feuer; es war beim Ausfall, den die Besatzung machte, am 9. Juli anno 15. Es ging da heiß her, war aber ein Bagatell gegen die Schlacht bei Leipzig, drum sagte auch unser General Laroche, der bei der Affaire einen Fuß verloren hatte: Es ärgert mich nur, dass ich bei dieser Hasenjagd den Fuß hab verlieren müssen!
Der anhaltende Felddienst, mehr aber die Strapazen des früheren Feldzuges hatten meine Gesundheit untergraben, so dass ich eine Geschwulst an Händen und Füßen festsetzte, und ich ins Spital verbracht werden mußte, welches dazumal im Kloster Schuttern eingerichtet war.
Mehrere Monate lag ich, und das Üble wollte weder vor- noch rückwärts. – Mein Sohn, sagte der Stabsmedicus Meier zu mir, du sollst allein schon von der herrlichen Aussicht, die du hier hast, gesund werden. Ich hatte nämlich von meinem Lager aus den Blick durchs Fenster über das schöne Breisgau voller Gärten und Fruchtfelder, und im Hintergrund die schwarzwälder Berge. – Seit Jahr und Tag hatte ich nichts mehr direkt von der Heimat in Erfahrung gebracht. Nur so viel konnte mir ein Rekrut sagen, dass meine gute Mutter unterdessen das Zeitliche gesegnet, mein Bruder aber sich verheiratet habe. – Von der Schildmalerfamilie wusste er nichts Näheres.
Mein Sinnen und Trachten ging nunmehr dahin, vom Militär frei zu werden. Wohl fürchtete ich oft, mein Lebtag ein Krüppel und untauglich zu aller Arbeit zu werden. – Eines Tages stellte ich an der an den Stabsmedicus die Bitte: mir doch behilflich sein zu wollen, dass ich in’s Bad käme, wo so Viele von uns geheilt worden waren. Der menschenfreundliche Mann sagte mir meine Verwendung zu; und richtig, in kurzer Zeit darauf erhalte ich die Erlaubnis, das Freibad in Baden Baden einige Zeit benutzen zu dürfen.
Anfänglich verursachte mir die Bäder die ärgsten Schmerzen, der Bademeister aber lachte dazu und meinte, dass dies ein gutes Zeichen von der Wirksamkeit des Bades sei. Nach längerer Zeit konnte ich wieder langsam am Stock herumgehen, und als ich einmal mit mehreren invaliden Kameraden auf der Promenade auf einem Bänklein sitze und mich sonne, kommt zufällig mein Stabdmedicus daher. – So, mein Sohn, sagte er, als ich aufgestanden und ihm einige Schritte entgegen gegangen war, so bist du wieder so gut auf den Füßen, und ich werde dafür sorgen, dass du noch länger das Bad gebrauchen kannst, und dann bei deinen Abschied kriegst; die schwarzwälder Luft wird dich vollends kurieren.
Und er hielt Wort. Ich durfte noch bis zum Herbst bleiben. Ein ehrenvoller Abschied wurde mir zu Teil, und meine Gesundheit hatte sich so weit wieder eingestellt, dass ich die Heimreise zu Fuß unternehmen konnte.
So war ich denn wiederum mein eigener Herr; aber um nichts besseres, ja noch Schlimmeres dran, als vor fünf Jahren, wo ich zum Ersten Mal aus der Fremde heimgekommen. – Was nun anfangen? – Zu Hause bei meinem Bruder hatte ich noch ein kleines Kapital stehen, eine Ersparnis aus früherer Zeit, dazu ein weniges angefallenes Vermögen.
Bis nach Offenburg benützte ich ein Fuhrwerk, von da ging es zu Fuß durch das Kinzigerthal über Waldkirch und Waldau der Heimat zu.
Es war ein freundlicher Herbstmorgen, als ich über das Höchst, Friedenweiler zu wanderte. Wie ich ins kleine Eisenenbacherthal herabkomm, begegnen mir ein einzelne Kinder mit Kränzlein. Was gilt’s, denk‘ ich, sie feiern heut‘ in Friedenweiler eine Hochzeit und du triffst dort Bekannte! frag also eines der Mädle: wo es hin gehe? Nach Friedenweiler in die Hochzeitskirche! – Wer dort Hochzeit mache? – Der Valentin! – Mit wem? frag ich verzagt. – Mit der Hochberghansen Tochter! – Donner und sWetter! Wie hatte mich das Wort getroffen, also wenn mir zum zweiten Mal ein scharfes Bajonnet in die Brust führ‘. Hochberghans, so hieß nämlich der Philippine ihr Vater.
Das Kind war vorüber geeilt; ich aber musste mich auf meinen Stock stützen; so miserabel war’s mir auf einmal, als wenn ich Gift und Opperment im Leibe hätt‘. – Zum Glück war ein laufendes Brünnlein in der Näh, an dem ich mir die Stirne und Hände kühlen konnte. – Indem läuten sie in Friedenweiler das erste Zeichen; und hinter mir herkommen truppenweis schon mehrere Hochzeitsgäst. Jeden Augenblick konnten die Brautleut selbst des Weges daher, an mir vorüber, kommen. Um Alles in der Welt wollte ich ein Zusammentreffen meiden, laufe also quer über die Bergfelder den nahen Waldungen zu.
Tausendmal verwünschte ich mein Schicksal und Alles, wäre es nichts besser gewesen, der Tod auf dem Schlachtfeld hätte mich getroffen, und ich läge jetzt, der Marter ab, in kühler Erde? – Hoffnung, Treue! ja ein Narr, wer daran glaubt, sagte ich zu mir selbst. – Hoch, eben ertönte Musik vom Tal her, richtig, es ist der Brautzug auf den Weg zur Kirche, und ich Unglücksmensch, muss just am heutigen Tage heimkehren. Verdammt, murmle ich, und knirsche vor Ingrimm mit den Zähnen
Die Musik kam näher und näher, – und mein Unmut verlor sich zuletzt in ein dumpfes Grübeln und Sinnen. Sie hat recht, sagte ich, es war das Vernünftigste, was sie tun konnte; er der Sohn eines vermöglichen Mannes, – ich so zu sagen ein Krüppel, ein Invalid, ein Landfahrer! und Geld ist der Kompass, nachdem ich sich die ganze Welt richtet. Aber – wo wollte ich denn eigentlich hin? Ohne Zweck und Ziel war ich auf den Feldern weiter gestolpert, und eine zeitlang in dem Holz fortgegangen. – Wenn ich den Weg durch den Klosterwald einschlug, so könnte ich auf einem Umweg nach Hause gelangen. – Also wende ich mich links, die Halde hinauf.
Ein gutes Stück war ich schon im Walde fortgewandert, als es in Friedenweiler zum Zweiten Mal läutete. Unwillkürlich horchte ich nach der Gegend hin, woher der Ton kommt und fernhin im Rauschen der Tannen verhallt. – Vielleicht, denke ich, hält sie mich für tot. Seit Jahr und Tag hatte ich ja kein Lebenszeichen mehr von mir gegeben. Mein unvermutetes Erscheinen müßte jetzt in diesem Augenblicke ein so so überraschenderen Eindruck machen. Eine halbe Stunde war es noch bis zur Trauung – wer weiß, wenn ich jetzt umkehre. – Ja – Nein – doch, denke ich endlich, einmal will ich sie noch sehen, noch einmal! dann fort so weit die Welt geht, und vergessen, was ich vergessen muss. – Also kehre ich um durch Stauden und Hecken und gerader Richtung auf das Kloster zu, so eilig, dass mir der Schweiß von der Stirne rinnt.
Wie ich aber an das Ende des Waldes komm‘ – läuten die Glocken zusammen. – Also zu spät – denke ich, und schreite langsam vor bis auf den Feldern der Kirche gegenüber. – Da stand ich denn unter dem verwitterten hölzernen Feldkreuz und höre eine Weile den Gesang der Orgel zu. Sonst war es still im ganzen Tal und der Himmel so blau und so sonnig, als gelte es allein nur dem Hochzeitstag.
Ich weiß nicht, als ich mein Schnupftuchtüchlein hervorzog und mir die Schweißtropfen von der Stirne wischte, ob nicht auch ein paar Tränen mitgingen. – Schäme dich, sagte ich zu mir selbst, ein Soldat, der dem Tod so oft ins Gesicht geschaut, soll sich jetzt von einem Mädchen über den Haufen werfen lassen. Verlasse also meinen Posten und schreitet den Kreuzweg herab, um, mir selbst und meiner Weichherzigkeit zu Trotz, in die Kirche zu gehen und die Kopulation mit anzusehen.
Es war in der Kirche sehr voll Menschen. Mit Mühe konnte ich noch ein Plätzlein im Gange finden, wo ich eine Aussicht auf den Altar hatte. – Jetzt schritten die Brautleute vor an der Hand der Zeugen. Schon knieten sie am Altar, reichten sich die Hände, und der Priester sprach den Segen. Ich hatte mich etwas vorgedrängt. Das Herz klopfte mir hörbar. – Philippine erschien mir fast als eine Heilige an den Stufen des Allerheiligsten. Jetzt erhoben sie sich um wieder zurück auf ihre Plätze zu schreiten. – Ein Blick nach dem Gesicht der Braut – unwillkürlich entfährt mir ein halblauter Schrei – es ist nicht Philippine – es ist Martha, ihre Schwester!
Aufmerksam hatten meine nächsten Nachbarn auf den Soldaten geschaut, der jedoch bald wieder gefasst erschien. Bei einer Wendung des Kopfes erkenne ich jetzt auch Philippine, die in ihrer jungfräulichen Schappelkrone neben der bräutlichen Schwester im Kirchenstuhl steht. – Wie froh machte mich dieser einzige Blick. Alle Hoffnung kehrte wieder, und ich weiß nicht, war es ein Bitt- oder Dankgebet, welches jetzt aus meinem Herzen zum Himmel aufstieg.
Nach dem Gottesdienst mischte ich mich unter die Zuschauer, welche an der Kirchentür Posto gefasst hatten, um den Zug mit den Spielleuten vorbeidefilieren zu sehen. Sittsam und anmutig schritt Philippine, das schöne Ehrenmägdlein an mir vorüber, ohne aufzuschauen. Die Menge verlief sich, und der verabschiedete Soldat stand zuletzt beinahe allein noch auf dem Platz.
Ich machte den Plan, im Bierhäuslein, gegenüber dem Wirtshaus, Quartier zu nehmen, um vor der Hand das Terrain auszukundschaften. Bei einem Glase Gerstensaft hatte ich die Gelegenheit, unerkannt die Frau Wirtin, die als echte Tochter Eva’s von den Verhältnissen der Brautleute genau unterrichtet sein mußte, auszuforschen.
Ich laß mich also mit ihr ins Gespräch ein: – Das war ein beharrlicher Liebhaber, meinte die Frau, wie es wenige gibt. Wieso? Frag ich, und tu, als wär ich landsfremd. – Ei, sagte sie, der ist ein zweiter Jakob, der sieben Jahr um die kleine Rachel gedient hat. Anfangs galt er der Jüngsten, der Schwester seiner Braut, und er soll, wie man sagen will, auch eine zeitlang bei bei ihr Hahn im Korb gewesen sein, als ihm ein Anderer in’s Gräu kam, wie Sie sagen, Einer von des Hohbergbauern, – ein rabiater, nichtsnutziger Bursch und verwegener Mensch, der, nicht faul, dem guten Valentin bei einer Hochzeit auf der Ahorn auf dem Weg steht, und ihm aus purer Eifersucht ein Messer in den Leib rennt. Mein Mann, der auch bei selbiger Hochzeit anwesend war und spät in der Nacht heimkommt, trifft den Valentin auf der Straße ganz blutig kommt heim, und erzählt mir die ganze Geschicht. Der Valentin aber, die beste Seel von der Welt, der wahrscheinlich die Sach dem Mädel zu lieb vermänteln will, sagt aus: er sei gestolpert und in sein eigenes Messer gefallen. – Nun, zum Glück war der Stich nicht bedeutend. Dem Anderen aber, dem Schlänckel, läßt das böse Gewissen keine Ruh, er laßt sich engagieren beim badischen Militär. – Es ging dazumal in Russland zu. – Das Mädel aber hat seitdem seinen Kopf gesetzt – entweder, erklärt sie, er kommt wieder heim, und da wird sich zeigen, – oder er bleibt fort, – und da weiß ich Eine, die ledig bleibt, und so und so. Dem guten Valentin aber, dem nun einmal partout Eine von der Hohberghansen sein muß, hat sie keine andere Wahl, als die Schwester zu heiraten, die wahrhaftig ihren Vorteil besser verstanden zu haben scheint, auch, wie es heißt, dem Valentin schon von früher her hold gewesen ist. – Doch, setzt sie bei, woher geht der Weg, wenn man fragen darf? es ist mir fast, als sollt‘ ich den Menschen kennen. Natürlich, daß ich keine Lust hatte, ihr die volle Wahrheit zu sagen.
Vom Militär, aus dem Feld, antwortete ich, und den Bursch, von dem ihr so sprecht, des Hohbergbauernsohn, kenne ich gut; der Mann hat sich gemacht beim Militär und hervorgetan so viel ich weiß, hat er eine gute Stelle und wird nächstens nächstens kommen, wahrscheinlich um sein Mädel abzuholen.
Ei,was Ihr nicht sagt! rief die Frau voll Verwunderung, und schlug die Händ zusammen, wie wird sich die Philippine freuen. – Ja, so ist’s halt, wenn’s Glück will, dem grünt ein Besenstiel; hab ich’s doch immer gesagt, die versteht Ihren Vorteil besser. – Ja des Hohberbauern Söhn‘, das will ich meinen, dir sind Beide nicht auf denKopf gefallen u.s.w.
Unter solchen Reden war die Frau hinausgegangen, wie ich glaubte, in Hausgeschäften. Ich aber überlegte, wie ich mich am Besten der Philippine vorstellen könnte: wenn ich eine Geige geliehen bekäme, dachte ich, so könnte ich gar wohl als Invalide drüben bei der Hochzeit auftreten und so die Sach‘ lustig einleiten; frage also, als die Frau wied’um hereinkommt, ob nicht ein Instrument in der Nähe zu haben sei, sage ihr aber nicht, was ich im Schilde führe.
Während wir aber noch über die Sach‘ hin und her reden, geht die Tür auf, und mit freudigem Schrecken seh ich – wen meint Ihr – hereinkommen? – Die Philippine mit einer ihrer Gespielinnen. – Die Frau Wirtin hat es nämlich nicht über sich gewinnen können, die Sache zu verschweigen, und war sogleich in die Küche gelaufen, um mein Kind in’s Wirtshaus hinüber zu schicken: Die Philippine soll einen Augenblick herüber kommen, es sei ein Soldat da, der mit ihr reden wolle!
Wie oft hatte ich mir einen einsamen Stunden das Wiedersehen ausgemalt, und jetzt stund ich vor dem herzigen Mädel mit militärischem Gruß, die Hand an der Mütze, halb Spaß, halb Ernst. – Herr Jesus, der Friedli, mi Friedli isch do! – Kennen Sie das Gedicht von Hebel? – Tausendmal, wenn ich’s gelesen habe, hat es mich auch an mein eigenes Leben erinnert. – Ja, wahrhaftig, Ihr bekümmertes Herz, wie es dort heißt, hatte mich begleitet durch schwere Schwerter und Kugeln mit Hoffnung und Schmerz, – das konnte ich jetzt an ihren freudigen Tränen und heißen Küssen abnehmen. Alles Ungemach voriger Zeit aber war aufgegangen in dem einzigen glückseligen Augenblick; denn einen freudige Stund, Freund, lass tausend bittere vergessen.
Kaum hatte ich mich aus ihren lieben Armen losgemacht, als Valentin daher gerannt kam, dem die Neuigkeit auch schon hinterbracht worden war. – Ist er endlich da? – rrief er schon von weitem, als er mich sah, ei, ei, Ihr habt lang auf euch warten lassen, Freund. Eure Hand her! wir sind Narren gewesen, und damit punktum; wenn’s euch so recht ist! Und wir umarmten uns brüderlich, denn alle Feindschaft war längst ausgetilgt aus unseren Herzen. – Aber jetzt allons hinüber, kommandierte er; das freut mich am allermeisten, dass Ihr euer Kommen g’rad auf meinen Hochzeitstag gerichtet habt.
Ich machte Umständ, in meinem abgeschabten grauen Soldatenmantel am Hochzeitstisch zu erscheinen, aber da half keine Ausred, ich mußte mit.
Drüben stellte mich der Bräutigam seiner Braut vor. – Wenn die Liebe nicht blind wär‘, sagte er scherzhaft, so hätt‘ ich von allem Anfang an sehen müssen, dass Martha, meine gute Martha, vom Himmel ausersehen war, mein Lebensglück zu machen. -Und wir Beide, Freund, hätten einen Narrenstreich weniger zu machen gehabt!
Also herzlich aufgenommen, kam es mir vor, als wär ich unter lauter lieben Verwandten und Angehörigen. Und als im Laufe des Tages noch mein Bruder als Gast mit seiner jungen Frau daher kam, war die Freude erst recht groß.
Da saß ich denn wieder neben meinem Mädchen, wie vor fünfthalb Jahren in der hohen Ahorn, und wir hatten einander so viel und noch mehr zu sagen als dazumal. – Selbiges Sprüchlein aber war jetzt zur schönsten Wahrheit geworden.
Unterdessen hatte die Musik begonnen. Allons frisch, rief uns Valentin zu, und winkte zum Tanz, den er extra für uns Zwei bestellt hatte.
Halt, sagte ich und lachte, Freund, so schnell wird’s wohl nicht geh’n, spür‘ den Tanz bei Leipzig noch immer ein wenig in den Gliedern, und zeigte auf meinen Stock; denn so sehr es sich auch von Tag zu Tag mit meiner Gesundheit gebessert hatte, so war doch immer noch ein Rest zurückgeblieben.
Doch, was soll‘ ich Ihnen viel erzählen? Von nun an war meinem Leben die Sonn‘ aufgegangen; und wer am 23. Mai des Jahres 1817 nach Friedenweiler gekommen wäre, der hätte ein zweites Hochzeitsfest mitfeiern können, wobei Philippine und ich die Hauptpersonen waren.
Die Uhr aber mit dem gold’nen Herz und Sprüchlein, welche Sie vorhin mit mir gesehen haben, überreichte mir die Braut am Hochzeitstag.
Nun aber hieß es sich um tun. Ich hatte ein Geschäft angefangen: ordinäre Musik-Spieluhren, wobei mir meine Musikkenntnisse trefflich zu statten kamen. Ich hielt mehrere Gesellen, darunter ein Schreiner und auch einige Uhrenmacher. – Die Zeiten waren dem Handel günstig; von Jahr zu Jahr steigerte sich der Absatz, und bald hatte ich mit meinem Weiblein ein recht wohlhäbiges vergnügtes Hauswesen eingerichtet. Sie triebt die Schildmalerei noch lange mit großem Erfolg, bis vermehrte Haushaltungsgeschäfte und Kinder sie endlich nötigten, die Kunst aufzugeben. Nach wenigen Jahren schon war ich im Stand, ein eigenes Anwesen zu kaufen, und später, als durch Thätigkeit und Gottes Hilf der Vermögensstand auf das Erfreulichste sich gemehrt hatte, kauften wir das Wirtshaus, worin ich heute das Vergnügen hatte, sie zu bewirten.
Der Herr, fing er nochmals an, Ihr Tod hat einen schweren gewaltigen Riss in mein Leben gethan. Schauen Sie, seitdem freut mich eigentlich nichts mehr recht von Grund aus. – Nächsten Monat wird’s ein Jahr sein, dass sie dahingeschieden ist. – Die älteste Tochter, an einen Uhrenhändler verheiratet, der sich in Amerika häuslich niedergelassen hat, ist vor zwei Jahren ihrem Manne nachgefolgt – zum großen Leidwesen der Mutter, die es sehr ungern gesehen hatte. – Weiber, meint sie, bleiben in der Fremde immer fremd, und seyen dort niemals recht daheim. – Meine Jüngste aber kennen Sie ja, ganz das Ebenbild der seligen Mutter!
Also schloss der Erzähler, und ich spendete ihm und der Verblichenen ein warmes Lob. – „Aber“, fügte ich bei, „über Eines hab‘ ich im Verlauf der Geschichte vergeblich nähere Auskunft erwartet, über das Abenteuer nämlich mit dem nächtlichen Gespenst; habt Ihr von der Geschichte niemals etwas Näheres in Erfahrung gebracht?“
Ei freilich, erwiderte er, das muss ich noch erzählen; die Sache ist wichtig. Ich weiß nicht, haben Sie schon von dem alten Salefi gehört, seines Zeichens ein Uhrenmacher und Tausendkünstler? – Jahre lang beschäftigte sich das Männlein mit der Erfindung des Perpetuum-Mobile, oder, wie man es hier zu Lande heißt, mit dem ewigen Lauf, und wohnte in einer Hütte am Hohberg. – Eines Tages treff‘ ich ihn im Wirtshaus, wo er neben mich zu sitzen kommt. Es war zur Zeit, als der Hohberghof, nachdem er lange Jahre leer gestanden, zum Dritten Mal zum Verkauf, zum Verkauf ausgeschrieben ward. – Was mich anbetrifft, sagte der Salefi, so möchte ich das Haus nicht geschenkt, wenn ich drin wohnen müßte.
Warum? Fragte ich, Ihr seid ja sonst ein Freund von der Einsamkeit und gerne ungestört. Allerdings, Freund! hab‘ auch meine Ursachen dazu; aber seht, der Hof ist ein Palast gegen die Baracke, in der ich wohne, und doch – habt ihr niemals etwas Ung’rades in dem Heidengebäu verspürt? – Ihr versteht mich schon. Hm, versetzte ich, es ist sonderbar, Ihr glaubt doch, so viel ich weiß, an der gleichen Sachen nicht! Ich? es gab früher keinen ungläubigeren Thomas, als ich war, Freund, ein abgesagter Feind von dergleichen Altweibermährlein, wofür ich alles Dieses gehalten hab‘. – Aber jetzt soll mir Einer kommen und beweisen wollen dies und das; – die Hand ließ ich mir d’rauf abhauen! Da wär ich doch begierig zu hören, sragte ich, und rückte etwas etwas näher. Euch, fing der Alte mit gedämpfter Stimme wiederum an, Euch kann ich’s wohl anvertrauen. Schaut, es war im Jahr zwölf, im Sommer, ich hab‘ dazumal schon, wie Ihr wisst, an dem ewigen Lauf herumstudiert, nur dass ich die Sach‘ noch nicht beim rechten Zipfel gepackt hab‘ und an der rechten Spur gewesen bin wie jetzt; in vier Wochen, mein Schatz, wird sich viel zeigen; schaut, man wird noch vom alten Salefi sagen; denn er wird reussieren, glänzend, allen Spöttlern und neidischen Menschen zum Trotz, die an seinem Untergang arbeiten, so gewiss, als das Glas da auf dem Tische steht. – Wenn ich schon ein armer Teufel bin und – Aber Salafi, unterbrach ich ihn, Ihr habt mir ja von dem Gespenst erzählen wollen. Allerdings, ja, doch was ich jetzt sagen will gehört auch dazu. Es war im Jahre zwölf, ich hab‘, wie gesagt, dazumal schon an dem ewigen Lauf, oder wie das Ding auf Lateinisch heißt, am perpetum moberum herumstudiert, war aber noch nicht auf dem Wahren; es ist auch überhaupt noch kein Gelehrter vom Himmel gefallen, und Rom auch nicht in einem Tag gebaut worden. Habt Ihr die Lebensbeschreibung von Kolumbus schon gelesen? was der Mann alles hat ausstehen müssen, bis er zum Ziel gekommen ist, und nichts als Schimpf und Spott davon getragen. – Wär‘ ich in England, Freund, statt in Deutschland auf dem Schwarzwald – Da wäret Ihr schon längst ein reicher, weltberühmter Mann, nicht wahr? fiel ich ein, aber die Geistergeschichte?
Nun ja, so hört: wie ich einmal so Nachts auf meinem Strohsack lieg‘, und über die Erfindung nachsimulie, was ich wohl für ein Material auftreiben könnte, das nicht schwindet, und das weder Hitz noch Kälte Einfluss hat, fällt mir auf einmal die Kunst der alten Heiden ein: das Holz im rechten Licht und unter Gestirn zu schlagen. Wie wär’s, denke ich, Wie wär’s, wenn du eine Prob‘ machtest, im Hohnerghof aus den Küchenbalken ein Stück heraussägelst? Ich wusste nämlich von Eurem Vater selig, was es mit selbigem Holz für eine Bewandtnis hat. Halt, denke ich, da steckt was dahinter, mach‘ mich also, weil mich der Gedanke nicht schlafen läßt, sogleich mit meinem Laternle und Werkzeug ’nüber in euer Haus, das dazumal leer stand, um einen Klotz heraus zu sägen.
– Wie ich in die alte Spelunke hinein komme, ist es mir gleich, als witt’re ich was Ungrad’s, und bin doch von Natur nichts weniger als furchtsam und abergläubisch; aber es muss ein verworf’ner Tag gewesen sein, denn kaum hab‘ ich den Herd bestiegen und mich frisch ans Werk gemacht, – so murrte es und schnarcht es unter mir, – hol‘ mich Gott, ein Rhinozeros hat einen leichteren Atmen; und wie ich hinschau, steigt ein abscheulicher Kerl, ein wahrer Goliath, wie aus dem Boden empor, ich lüg‘ nicht, mit einem Gesicht und Augen – ja, lacht nur; nicht wahr, das kommt Euch übertrieben vor?
Kurzum in diesem Ton erzählt mir der Alte weiter, wie die Laterne ausgelöscht sei, und er das Hasenpanier ergriffen habe. – Natürlich, dass ich ihm klaren Wein einschenkte, und ihn und mich tüchtig ausgelacht hab‘. Aber da hättet Ihr das Männlein sehen sollen: Carle, sagt er empfindlich, da müßt Ihr ein wenig früher aufsteh’n, wenn ihr den alten Salefi blauen Dunst vormachen wollt; treibt eure Narrenposen mit einem anderen; ich bin zu alt dazu; – hab‘ Euch für gescheidert gehalten, Adjes! – und damit trank er sein Gläslein aus und entfernte sich beleidigt. – Der gute Salefi! der ewige Lauf der Welt, der Tod, hat ihn ereilt, eh‘ er mit seiner Erfindung im Reinen war.
Unter solchen Gesprächen hatten wir unser Ziel, das Wirtshaus zu Ahorn, erreicht. Ich blieb jedoch nicht länger daselbst, als nötig war, um eine kleine Erfrischung einzunehmen, denn ich wollte denselben Tag noch Friedenweiler besuchen und auch wegen der besprochenen Hauschronik unterwegs Schritte thun. Deshalb verabschiedete ich mich bei Zeiten von meinem Freund und Begleiter und wanderte talabwärts in’s kleine Eisenbächele, wo das bezeichnete Haus und die Familie bald gefunden war.
Es gelang mir jedoch erst bei einem zweiten Besuch, die Chronik zu erhalten, welche wortgetreu, neben der Ansicht des oftgenannten, ehemaligen Klosters Friedenweiler, hier mitgeteilt wird.
Głogów
Im Krieg mit Frankreich fiel Głogów am 3. Dezember 1806 in die Hände französischer Truppen, die es auch nach dem Frieden von Tilsit besetzt hielten. In den Befreiungskriegen verteidigten etwa 9.000 französische Besatzer, geplagt von Kälte bis zu −26 Grad im Winter, Lebensmittelmangel und Desertionen, die Festung Głogów vierzehn Monate lang gegen preußische und russische Truppen. Am 10. April 1814 kapitulierten die 1.800 überlebenden Besatzer unter General Jean Grégoire Laplane vor den Belagerern (Wikipedia).
Ansicht von Glogau um 1850 Foto: Wikipedia Wolfgang Schwarze: „Romantische Reise durch den historischen Deutschen Osten“.
Laut des Erzählers wurde Niederschlesien auf Befehl des französischen Generals geplündert und die Festung wurde 1813 von Preußen belagert. 1813 kam der Erzähler dann in ein Lager nach Lüben (Lübben).
Lübben
Da Napoleon ein Regiment auf der so genannten Schweineweide in Lübben hatte, ist hier wohl nicht das Niederschlesische Lüben (Lubin) gemeint. Lübben ist eine Stadt im heutigen Brandenburg.
Napoleon war nachweislich ein paar Stunden im Lübben. Das Regiment waren aber nicht „hunderttausend Mann„, sondern eher nur 35 000 Mann.
Die Schlacht von Leipzig dauerte vom 16. bis 19. Oktober 1813 und war eine der wichtigsten Schlachten während der Befreiungskriege. Der Erzähler gehörte zu 11. Armekorps, 39. Division und stand unter General MacDonald und dem Major Brückner.
Nach der verlorenen Schlacht ergeben sich die Überlebenden den Preußen, die die Badischen Soldaten anscheinend nach Sibirien marschieren lassen wollten. Aus „dieser Noth“ befreite sie der Markgraf Wilhelm „unser tapfere Chef„
Nachdem das Großherzogtum Baden sich von Napoleon lossagte und am 20. November 1813 bei den Befreiungskriegen auf die Seite Preußens, Österreichs und Russlands wechselte, wurde nach preußischem Vorbild Landwehr und Landsturm aufgestellt (Wikipedia).
Der Sommerfeldzug von 1815 war die letzte militärische Aktion Napoleons und dauerte vom März bis Juli 1815. Mit der Niederlage Frankreichs in diesem Feldzug endete auch die Ära Napoleons. Dieser Feldzug war Teil der Koalitionskriege. Es endete mit dem Zweiter Pariser Frieden. (Wikipedia)
Russenkreuze erinnern an die Russen, die nach der Völkerschlacht von Leipzig die napoleonischen Truppen verfolgt hatten. Seit der Schlacht an der Beresina (Nov. 1812 – 29. Nov. 1812) jagten die vereinigten Truppen die Franzosen buchstäblich nach Hause.
Russenkreuz bei Schwärzenbach
Soldaten Seiner Majestät des Kaisers v. Rußland, welche in den Befreiungskriegen 1813-1815 unter dem Oberbefehl des Generals Barclay de Tolly durch diese Gegend zogen u.hier den Tod für das Vaterland fanden. Dank u. Ehre sei ihrem Andenken.
Bei allen Russenkreuzen sind Gedenksteine aus der Zeit der Befreiungskriege zu finden. Sie wurden für russische Soldaten errichtet, die beim Durchzug erkrankten und starben – meist an Ruhr, Typhus oder Pocken (Blattern). Dass sie im Gelände bestattet wurden, liegt daran, dass sie orthodoxe Christen waren und nicht in der katholisch geweihten Erde beigesetzt werden durften.
Der Erzähler heiratet am 23. Mai 1815 seine Philippine im Ahorn.
“Tanz auf der Ahorn” von Nikolaus Ganter (1809–1886) Aus “Der Maler Nikolaus Ganter” in den Schriften der Baar Band 55, 2012 von Gerrit Müller
Ahorn im März 2022
Der Verfasser bekommt im Ahorn die Chronik einer Schwarzwälder Schildmaler Familie.
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