Wanderblühten- Der arme Konrad – Prolog

Wanderblühten- Der arme Konrad – Prolog

14. April 2023 0 Von Hannah Miriam Jaag

Ich möchte hier erwähnen, dass ich das alte Buch mit der sehr eigenwilligen Schreibweise in Frakturschrift vorgelesen habe, um den gesprochenen Text von einem Programm namens f4transkript in Buchstaben umzuwandeln. Den umgewandelten Text habe ich danach bearbeitet, da viele der Wörter dem Programm nicht bekannt waren. Aus diesen Gründen ist der Text ein Gemisch aus alter und neuer Schreibweise.

Was es in den verschiedenen Kapiteln des Buches gibt, ist diese vorgelesene Tonspur mit dem Transkript in schwarz.
In blau sind unten noch Erklärungen und Fotos dabei.

“Keine Kohle, kein Feuer
Kann brennen also heiß,
Wie stille heimliche Liebe,
Die Niemand nicht weiß”
Volkslied

“Hoffnung hintergehet zwar,
Aber was wandelmüthig;
Hoffnung zeigt sich immerdar
Treu gesinnten Herzen gütig!”
v. Logau

Was habt ihr da gemacht, Meister Lucian? – Das ist ja ein allerliebste Bildchen! Läßt sich der Freund und Gevatter vernehmen. – Da habt Ihr einmal recht mit dem Griffel ausgedrückt, was in der deutschen Schriftsprache keinen Namen hat und was nur die Schwaben zu erkennen geben können, wenn sie sagen: da sieht’s heimelig aus! Ja, eine ganze Heimat, wo gut wohnen ist, habt Ihr hineingetragen, und es wird nicht weit gefehlt sein, wenn ich denke, es sei Eure eigene, Die Baar, die an den Schwarzwald stößt.-

Wie still und traulich ist es in dieser Haushaltung! Geht ein Friedenszauber von dem schwarz eingebundenen Buche aus, in welchen die Seele der jungen Mutter atmet? Er schwebt hinüber auf das Kind, das einen kräftigen Schlaf der Gesundheit in der mit dem heiligen Zeichen gesegneten Wiege schläft. Er verbreitert sich durch das ganze Gemach mit dem wohlgeordneten reinlichen Geräte, und hat sich auch des behaglichen Haustiers bemächtigt, das vielleicht vorher noch mit dem Kinde gespielt und dann sein Schüffelein rein gemacht hatte. Nur leise wagt der Pendel an der Uhr zu gehen; durch das offene Fenster hauchte frische Gottesluft herein und schmeichelt dem dort stehenden Blumenstock so viel ab, als nötig ist, um die trauliche Stube mit Wohlgeruch zu erfüllen. – Wißt ihr? es gibt ein Bild, das die Jungfrau mit dem Kinde, in dem Propheten lesend, darstellt; es ist bekannt unter dem Namen: Mater nati fata requirens. Nun, sieht das hier nicht aus wie eine Mutter, die in den Geschicken des Kindes forscht? Wollen wir ein bisschen nachhelfen und dem kleinen, runden, dicken, süßträumenden Menschen ein Lebensläufchen zurechtmachen? Aber nicht aus den “swarzen Buochen” wie Gottfried von Straßburg sagt! Nein, wir wollen’s frischweg aus dem Leben nehmen. Kommt, Meister Lucian, Ihr müßt ein wenig dazu behilflich sein.

Das kann schon werden, sagte er, indem er das Pfeifchen aus dem Munde nimmt, den Schnurrbart streicht und behaglich der blauen Wolke nachschaut, die sich so eben an seiner kleinen gypfernen Venus emporkräuselt.

Wohlan denn, frisch an’s Werk! In der Wiege haben wir ihn einmal, jetzt handelt es sich darum, ihn weiter zu fördern.

Nun, für die nächsten paar Jahre ist das gleich geschehen. “Wachse ‘n und trüeihe”, wie Hebel singt: Damit ist alles gesagt, und gilt auch für alle gleich, ob einer mit den Insignien eines Dragonerobersten unter seidener Decke, oder mit dem weißleinen Häublein in der Wiege von Schwarzwälder Tannenholz gebettet ist. “Wachset und trüeihet!” Es wird hernach schon Rechnung gehalten werden, ob es mit dem Gedeihen des Leibes und der Seele ernst gewesen ist.

Richtig. Also wollen wir ihn derweil den Schutzengeln überlassen, nach welchen seiner Mutter so eifrig in dem Buche schaut, und wollen ihn erst wieder heimsuchen, nachdem er seine erste Selbstständigkeit erlangt hat.

Da hält er sich an der Mutter ihrem Rock und steigt mit ihr in den Stube herum, tummelt sich mit seinen Geschwistern, und spitzt die Ohren, wenn die Mutter am Samstag Abend erzählt, was sie morgen kochen wolle; und wenn sie gar den längst versprochenen Schinken aus dem rußigen Kaminschlosse herunterlangt, dann hängen sich alle lachend und schreiend um sie her. Wenn sie “Knöpfle” einlegt, dann muss er ihr aus dem Gärtlein hinter dem Hause “Peterle” und Schnittlauch holen. Am Sonntag nach dem Essen, falls das Wetter schön ist, geht der Vater in den Busch“Oesch”, um die Felder zu beschauen; die Mutter bleibt zu Hause sitzen und betet in dem Gesangbuch oder auch im alten “Himmelsschlüssel”. Da hört man dann gewöhnlich im Dorfe keinen Laut. Nur beim oberen Bierhaus ist’s lebendig; dort liegt die blanken Groschen und Sechser auf dem Boden im Sand, und der kleine Konrad sieht mit seinen Kameraden zu, wie sie von den Gewinnenden mit zufriedenem Schmunzeln aufgehoben werden.

Auf die Art wird der kleine Mensch schon frühzeitig in Dinge eingeweiht, wovon die Mutter wahrscheinlich nichts in dem fliederbeschlagenen Buche gelesen hat.

Meinhalb strolchen sie auch im Feld herum, schneiden Pfeifen im Rohr und musizieren. Aber an Regensonntage da stehen sie unter dem Vordach an des Vogts Haus, und schachern um Sackmesser, Wachholdergeißelstöcke oder um Zwick.

Zwick! das ist mir eine unbekannte Gegend.
So heißt man das vordere Ende einer Geißelschnur.
Jetzt weiß ich, wo ich d’ran bin. Das ist die Treibschnur;
die hat bei uns auch eine große Rolle gespielt.
O, geht mir mit der Treibschnur! Das ist bei den Stadtbuben ein jämmerliches einfaches Schnürlein. Aber der Zwick wird sehr kunstgerecht in einer Maschine gedreht, und knallt, dass einem das Herz im Leibe lacht. Das ist andere Arbeit.
Nun, was hilft’s. Die Freude wird auch nicht ewig währen.
Wenn Hölth sagt:

Bald sitzest du, nicht immer froh,
Im engen Kämmerlein,
Und lernst vom dicken Cicero,
Verschimmeltes Latein,

So ist das ein gemeinsames Leid, das auch in seiner Weise jeden heimsucht, ob er in dem leinenen Häublein, oder mit dem Kommandostab in der Wiege lag, ob er mit dem Zwick, oder ob er als Stadtbube mit der Treibschnur knallt. Wenn man auf der Schulbank sitzen muss, und die Sonne scheint so lustig draußen, dass es einem wie Quecksilber durch die Adern ringt. –

Ja, das ist halt freilich eine harte Nuss. Wir wollen froh sein, dass wir sie durchgeknackt haben. Übrigens fehlt es auch in diesem Stande nicht an Lustbarkeiten.

Ja, im Winter tut’s das Schneeballen vor und nach der Schule, im Sommer gibt’s Eckballen, Marbel, Ball und andere Ergötzungen, und in der Schule selbst führen wir die Armbrust in Taschenformat mit dem feinen Bogen aus Fischbein, und beschossen uns, während die verlassene Dido ihrem Aeneas nachseufzte, mit erbarmungslosen Papierkugeln.

Gott segne Eure Studia! spricht Lucian, und läßt eine lange, dünne Rauchsäule in die Höhe steigen. Zu solchem reisigen Zeug darf es mein Konrad nicht bringen; auch muss er in der Schule hübsch aufpassen, schon deshalb, weil sich’ da nicht nur um Eure leichtfertigen Poeten handelt, sondern um löblichere Dinge. als da sind die Geschichten vom ägyptischen Joseph und vom König David und dergleichen mehr. Will er nebenher noch eine Ergötzlichkeit haben, so soll er auch dazu was Ordentliches lernen, zum Beispiel “Helgle” und Agathenzettel malen. Dadurch macht er sich dann auch bei den Mädchen, seinen Schulkamerädinnen, beliebt.
Halt – kann er denn die Mädchen leiden?
Das nicht gerade. Vielmehr zupft und rupft er sie, scheucht und jagt sie herum, und wo er ihnen einen Possen spielen kann, da ist’ s ihm ein “gemähtes Wiesle”. Aber dann und wann wird er doch ein wenig gnädig und beschenkt sie, sei es auch nur aus Eitelkeit, um seine Meisterwerke an sie abzusetzen.
An Lob und Schmeichelei und Bettelei lassen sie es ihrerseits nicht fehlen.

Noch einmal Halt – Ist keine ist keine darunter, die er, – wie soll ich mich ausdrücken? – so ganz besonders nicht leiden kann? Ihr wisst schon – es gibt Fälle, da hat man Beispiele.
Allemal ist so eine d’runter, das versteht sich.
Und wie heißt sie? Das müssen wir gleich in’s Reine bringen, denn der Name tut sehr viel zur Sache. Bei einem Konrad, meine ich immer, müsse es eine Anna sein, die er so sehr besonders leiden oder so eigentümlich besonders nicht leiden kann.
Wir wollen noch eine Marie hinzufügen, dann hat der Name den rechten landschaftlichen Klang.
Also, Marianne?
Des erreichen Vogts Marianneli. Die Jagt er immer am hitzigsten, die kneift der am ärgsten, wenn er sie erwischen kann.
Und doch hat sie ihm gewiss nie etwas zuleide getan.
Bewahre, sie könnte keine Fliege kränken. Er weiß auch gar nicht, warum er so einen absonderlichen Grimm auf sie hat. Ihr Vater ist freilich ein stolzer grober Melcher, aber dafür kann das kleine freundliche Mädel ja nichts, das immer so fleißig lernt und so gutherzig gegen alle Kameraden und Kammerädinnen ist.

Doch kann das im stillen mitwirken. Gebt Acht, der Bursche läßt sie’s entgelten, dass sie ein wenig vornehmer ist als er.
Freilich tut er das, und ich will gleich so ein Zeug anbringen. Da ist einmal große Kälte, es wird ein paar Tage keine Schule gehalten, und der Konrad benützte diese Zeit, um die zwei Tafeln, die in seiner Vaterstube hängen, zehn oder zwölfmal auf’s herrlichste abzumalen. Wie nun die Schule wieder angeht, legt er seinen Kram aus, eh’ der Lehrer kommt. Den Buben verhandelt er die Bilder, den Mädchen schenkt er sie. Jede Kammerädin bekommt eins, nur nicht die Mariann’, und doch hat der Bösewicht noch ein übriges Exemplar in der Hand. Das Marianneli, wie es solche sieht, sagt es mit seiner kleinen süßen Stimme: Aber Konrad, mir schenkst du doch auch eins?
Grad’ dir schenk’ ich keins, sagt er: Warum hat mich dein Vater vorige Woche durchgeprügelt, als wir in eurem Shopf Tabak rauchten?
Ich kann ja aber auch nichts dafür, sagt sie, und die Tränen fließen ihr in die Augen, dass sie allein leer ausgehen soll.
Kauf dir eins, sagt er. Ihr sind. Ihr seid ja reich genug. Und dabei freut’s ihn innerlich, zu sehen, wie ihr das zu Herzen geht. Nachher aber reut es ihn wieder sehr, wie wenn er einem Schmetterling die Flügel ausgerupft hätte, und während der Schule sieht er oft von seiner Bank in die ihrige hinüber, was sie mache.
Sie sieht ihn aber nicht an?
Nicht ein einziges Mal. Deshalb wartet er auch nach der Schule und unten an der Haustür auf sie, und sagt: da, Mariann, ich schenk es dir doch. – Sie aber schlägt ihm das Bildchen aus der Hand: Jetzt will ich es auch nicht mehr, sagt sie, ich kann mir ja eins kaufen. – Nachher aber ist sie aber gleich wieder gut.
Da muss er übrigens doch noch etwas extra tun, um sie für ein solch schweres Stück zu entschädigen.
Ja, nach feiner Art. Werden gleich sehen. Ein paar Tage darauf sind sie alle auf dem Platz vor der Zehntscheuer. Es wird hin und her geraten, was sie spielen sollen. Wir wollen Farben auszuteilen, sagt endlich der Konrad.

Das ist, schätze ich, wohl, “Engel und Teufel”?
Ja, es kommt auf eins heraus.

Die Kinder sitzen im Kreis, eines teilt die Farben oder Blumen aus, ein anderes stellt den Engel und ein drittes den Teufel vor. Ein Mädchen geht von einem Kind zum anderen und sagt ihm ins Ohr: du bist eine rote Rose, du eine weiße, du bist eine weiße Lilie, du eine braune Nelke und so weiter.
Den Buben aber gibt sie keine so schöne Namen; da heißt es: du bist ein Schlehenbusch, du eine Brennessel, du ein grüner Distel, und dergleichen Zartheiten mehr. Nun kommt der Engel mit der Kuhschelle: Klingkling. – Wer ist drauß’? fragt die Austeilerin. – Der Engel mit dem Schein. – Herein. – Was hätt Er gern? – Eine Farb’. – Was für eine? – Eine weiße Rose. – Die bekommt er auch richtig, und führt sie in den Himmel, wo nichts als Gesang und Freude ist. Darauf erscheint der Teufel –
Den macht unser Konrad?
Natürlich. Der hat sich Hörner von Pappdeckel verfertigt, einen Schwanz von Werg angebunden und das Gesicht mit Ruß geschwärzt. In der Hand trägt er einen Stecken, der stellt den Schürhaken vor. Bum, bum. – Wer ist drauß? – Der Teufel mit der Schürgabel. – Was hätt’ er gern? – Nun bekommt auch der Teufel seinen Anteil und führt die armen Seelen in die Hölle, wo er sie unter Heulen und Zähnklappern entsetzlich peinigt. Er läßt seinen ganzen Grimm an ihnen aus, der diesmal groß ist, weil er trotz allen Ratens nicht auf die rechte Farbe kommen kann.

Die Sache ist nämlich die: er möchte gar zu gern die Mariann’ in der Hölle haben, bringt aber ihren Blumenname nicht heraus. Endlich fällt es dem Engel ein, Rosmarin zu verlangen, und siehe da, der Teufel hat das Nachsehen, und muss es sich auch noch gefallen lassen, dass die Seele, und der vergebens schnappte, im Triumph an der Hölle vorbei in den Himmel geführt wird. Darüber wird er denn ganz erbost und wütend, kann es auch nicht unterlassen, mit der Schürgabel nach dem vorbei marschierenden Engel zu schlagen; da aber dieser gewandt ausweicht, so trifft der an sich nicht ernstlich gemeinte Schlag die Mariann’ in’s Gesicht und verursacht ihr heftiges Nasenbluten.
Zarte Aufmerksamkeit!

Soll ihm auch wohl bekommen. Auf das Geschrei der jüngsten Kinder, die natürlich kein Blut sehen können, ohne einen Zetermordio zu erheben, streckt der Vogt seinen Kopf zum Fenster raus. Was gibts? – Der Konrad hat die Mariann’ ins Gesicht geschlagen, dass sie blutet. – Habe ich dir nicht schon oft gesagt, du sollst nichts mit dem Rotzer haben?

Welche Demütigung für seine satanische Majestät!
Es kommt noch besser. Während er starr wie eine Salzsäure vom Vogt noch eine Zugabe von Ehrentiteln hinnimmt, faßt in eine Hand von hinten am Kragen und nimmt ihn mit dem Seilstumpen in Arbeit.

Ah, bitte, Meister Lucian, mit dem Seilstumpen!
Da beißt die Maus keinen Faden davon; denn es ist sein eigener Vater, der auf diese Weise vor dem gestrengen Vogt seine bürgerliche Freiheit wahrt. Alsdann führt er ihn am Arm nach Hause; an der Stiege, die in die Schlafkammer des Buben führt, zählt ihm noch etliche aus dem ff auf und stößt ihn nach der Treppe: So, jetzt pack dich ins Bett. – Wie ein Pfeil fährt der Teufel mit Schweif und Hörnern die Stiege hinan und läßt nichts mehr von sich hören. So, sagt der Vater zur erschrockenen Mutter, besser jetzt, als später!

Der Konrad aber kommt den ganzen folgenden Tag nicht herunter, was auch die Mutter sagen mag. Droben malt er die schönsten Blumen auf einen Bogen Papier, und wie er wieder in die Schule kommt, schenkt er sie dem Marianneli. Dem Vogt aber trägt er’s noch lange nach.

Wenn er das vorher wüßte, er würde die Wiege schwerlich verlassen wollen, in der hier so harmlos träumte. – Wenn ich so einen kleinen runden Kindskopf sehe, so pflegte ich immer zu denken: Du wirst mit der Zeit auch noch ein längeres Gesicht machen.

Und doch, wie klein sind die Unfälle, über die wir zurerst die Unterlippe hängen lassen! Wie bald sind jene Tränen vergessen, wie leicht ist die Speise des Lebens selbst da noch, wo wir sie zuerst als einen harten Bissen kennen lernen!

Ja, die Kinderjahre sind schön, und erscheinen schön und schöner, je weiter uns die Jahre von ihnen entfernen.

Das Leben kommt mir vor wie eine Stickerei. Die Gegenwart, die wir in ihrer ganzen, oft so unschönen Weitläufigkeit durchleben, ist die Kehrseite, wo die Fäden aufgetragen werden. Da läuft alles wirr und kraus durcheinander, ist wenig Sinn und Bedeutung zu finden. Wenn uns aber, wie Ihr sagt, die Jahre davon entfernen, so dreht sich allmählich vor unsren Auge das Stück, und die schöne Seite kommt zum Vorschein mit ihrer vollkommenen Gestalten, die wir in Unmuth und Unvollkommenheit gewoben haben. Da ist denn manches böse Fädelein verschwunden, das uns so dick wie ein Seilstumpen däuchte, und das uns keine Maus abbeißen zu können schien. Es ist eigentlich der Gegensatz des Lebens und der Kunst, die jenes nur wie durch fromme Erinnerung auf der Gestaltenseite schaut, denn jeder Mensch, der in die Vergangenheit und vornämlich auf seine Kinderjahre zurückblickt, wird unwillkürlich ein Künstler. – Aber nun webt mir für unseren Schützling einige freundliche Fäden ein.

Später, wenn’s schöner wird. Vorläufig tut es mir leid, dass ich nicht willfahren kann. Jetzt kommen erst die mißfarbigen, denn es nötigt mich etwas, einen dunklen Grund zu legen.

Ihr seid unerbittlich, wie das Schicksal. So thut denn, was Ihr nicht lassen könnt.

Einmal kann ich ihm die Speise der Jugend nicht sonderlich süß und schmackhaft machen, denn seine Eltern sind sehr arm. Wie? Da sagt Euer Bildchen die Wahrheit nicht.
Die hübsche Tracht der Frau weiß nichts von Armut, und das Zimmer sieht so blank gescheuert und wohlhabend aus.

Bei diesem Einwurf ist Lucian etwas betroffen geworden. Er zündet sein Pfeifchen wieder an, raucht einige nachdenkliche Züge und erwidert dann: Reinlichkeit ist zwar auch Reichtum, gilt aber doch nichts im Pfandbuch, und ein Sonntagskleid hat jedes ordentliche Mädchen schon von Haus aus. Wenn sogar etwas Silber am Mieder glänzt, so kann deswegen doch Schmalhans Küchenmeister sein. Und sagt selbst, ist es nicht besser für unseren Konrad, wenn er in Armut aufwächst?

Ja, das ist wahr, und zwar ohne alles weitere Raisonnement. Macht ihn also in Gottes Namen so arm wie eine Kirchenmaus.
Wird nicht viel fehlen. Der Vater arbeitet wacker auf dem Felde, und die Mutter läuft sich die Beine lahm, um Butter oder Eier in Hüfingen und Donaueschingen zu verkaufen; aber mit allem Fleiß und allen Entbehrungen kommen sie nicht aus den Schulden heraus. Das sind die grauen Fäden, und nun folgen die schwarzen. Es gibt Familien, die oft schnell und unerwartet durch eine Reihe von Todesfällen zerrissen werden. Der kleine Träumer, den wir auf seinem künftigen Lebensgange begleiten, wird nicht 13 Jahre alt, so verliert er Vater und Mutter hinter einander, und auch den ältesten Bruder dazu, der sein Beschützer sein sollte.

Warum denn auch den noch? Räumt doch nicht so grässlich auf! Wie und wo kommt der denn ums Leben?
Der? Als Soldat, im russischen Feldzuge.
Halt, halt, Meister Lucian, man muss den Teufel nicht an die Wand malen! Laßt uns vielmehr den Frieden festhalten, solange er mit Ehren geschehen kann. Oder – ja, nun merk’ ich’s. – Ihr seid ein rückwärts gekehrter Prophet, und während ihr mir weiß macht, dass ihr mit dem Sehrohr in die Nebelflecken der Zukunft dringet, habt Ihr das andere Auge weit offen und schaut Euch bequemlich in der vergangenen Wirklichkeit um, wo man leider Beispiele genug für allzu frühe Todesfälle holen kann.

Wie soll ich’s anders machen? Die Geschichte, heißt es, ist die Lehrerin der Völker. Soll ich euch erzählen, wie es dem Kinde da gehen wird, so läßt sich das am besten aus Dem abnehmen, was-

Was etwa einem Vater geschehen ist?
Nun, ich will nur so viel sagen, dass ich die Geschichte des Vaters mit mehr Sicherheit angeben kann, als die des Sohnes und dass ich dabei besser zu fahren hoffe, als Ihr, wenn Ihr das Nebelsehrohr von des zugedrückten Auge setzt und Träume aus dem Ärmel schüttelt; den ich kann die Geschichte gerade so erzählen, wie sie vorgefallen ist. Und zwar will ich das so kunstgerecht machen, als Ihr nur immer verlangen mögt.

Ei, das ist ja um so viel besser. Da wollen wir also den Apfel in der Wiege liegen lassen und die Geschichte des Stammes vornehmen. Je treuer je besser, und je kunstgerechter je schöner. Wohlan denn, sagt Euer Sprüchlein und teilt es mit, ich verspreche, Euch hinfüro so wenig als möglich zu unterbrechen.

Darauf legt der Freund Lucian die bereits wieder ausgegangene Pfeife weg, streicht sich den Schnurrbart im Bewusstsein eines wichtigen Unternehmens, und hebt seine Geschichte an, wie folgt.

Lucian Reich erzählt hier zuerst eine Unterhaltung mit “einem schriftgeübten Freund und Sohn der Musen” und nennt sich hierbei selbst “Meister Lucian“.

Mater nati fata requirens – die Mutter des Sohnes sucht das Schicksal

Wachse ‘ n und trüeihe
bzw. “Wachset und trüeihet!

Johann Peter Hebel
Das Habermuß
von Johann Peter Hebel

Zwick, so heißt das vordere Ende einer Geißelschnur oder Treibschnur. Das Wort Peitsche wurde damals wohl nicht in diesem Zusammenhang benutzt.

O, geht mir mit der Treibschnur! Das ist bei den Stadtbuben ein jämmerliches einfaches Schnürlein. Aber der Zwick wird sehr kunstgerecht in einer Maschine gedreht, und knallt, daß einem das Herz im Leibe lacht.

Rottweiler Schlinge mit Zwick

Bald schwitzest du, nicht immer froh,
Im engen Kämmerlein,
Und lernst vom dicken Cicero’,
Verschimmeltes Latein,

Wie glücklich, wenn das Knabenkleid
Noch um die Schultern fliegt!
Nie lästert er der bösen Zeit,
Stets munter und vergnügt.
Das hölzerne Husarenschwert
Belustiget ihn jetzt,
Der Kreisel und das Steckenpferd,
Auf dem er herrisch sitzt.
O Knabe, spiel und laufe nur,
Den lieben langen Tag,
Durch Garten und durch grüne Flur
Den Schmetterlingen nach.
Bald schwitzest du, nicht immer froh,
Im engen Kämmerlein,
Und lernst vom dicken Cicero
Verschimmeltes Latein!


“Die Knabenzeit”
von Ludwig Heinrich Christoph Hölty (1748-1776)

Darauf legt Freund Lucian die bereits wieder ausgegangene Pfeife weg, streicht sich den Schnurrbart im Bewußtsein eines wichtigen Unternehmens, und hebt seine Geschicht an, wie folgt.

Fortsetztung hier:

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