Schnee von gestern – Schnee von morgen?

Schnee von gestern – Schnee von morgen?

24. Januar 2023 0 Von Wolf Hockenjos

Er ist den meisten Skiläufern eine so selbstverständliche Sache, dass man nicht weiter über ihn redet, höchstens wenn er ausbleibt oder wenn er „pappt“. (A. Fendrich: Der Skiläufer. Stuttgart 1924)

Was, wenn unsere Kinder aufgrund unseres Verhaltens nicht nur ein Jahr ohne Schnee, sondern ein ganzes Jahrzehnt ohne Winter erleben? (A. Gore: Wege zum Gleichgewicht. S. Fischer, 1992)

Was waren das diesmal für trostlose TV-Übertragungen mit all den weißen Kunstschneebändern in grüner Landschaft, auf denen per Ski gesprungen, gerannt, geschossen und zu Tal gerast wurde. Nie wurde der Klimawandel wirkungsvoller in Szene gesetzt, dazu beigemischt Silvesterkrawalle, die Räumung von Lützerath und zu allem hin auch noch die Einschläge russischer Raketen in ukrainische Wohnblocks – wer da zum Jahreswechsel mal nicht Gefahr lief, depressiv zu werden! Das wärmste Jahr, der wärmste Dezember seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, jetzt sogar als Glücksfall gepriesen angesichts der knappen und sündhaft teuren Heizenergie! 

Sollen Kinder da noch Ski laufen lernen, so wurde in den Medien gefragt, macht Skisport  überhaupt noch Sinn? Riesenglück hatten immerhin die Neustädter, denn exakt zum Weltcupspringen auf ihrer Hochfirstschanze war das schmutzige Snowfarming-Weiß vom Vorjahr eben noch rechtzeitig von einem Hauch Naturschnee überpudert worden, sodass in den Übertragungen zumindest ein Anschein von Schwarzwaldwinter noch vermittelt werden konnte. Dabei hatte es hier doch schon im vorigen Jahrhundert Kritik gehagelt, lange bevor allenthalben Schneekanonen in Stellung gebracht worden waren, weil man damals schon den Schnee mangels eigener weißer Pracht per Lkw-Flotte vom St. Gotthartpass herbeigekarrt hatte. Demgegenüber hatten die pfiffigen Schonacher mit ihrem (zumeist spätwinterlichen) Weltcuptermin der nordischen Kombination schon bald nach der Jahrtausendwende dafür gesorgt, dass die Kritik am Energieverbrauch künstlicher Beschneiung verstummte angesichts der Windenergieanlagen auf den Höhen rund um ihr Langlaufstadion.

Schneenotstand (2017)

Schwarzwaldwinter ade, so wird freilich nicht erst seit Kurzem beim Thema Wintersport und Wintertourismus geunkt, wenn wieder einmal der Schnee ausgeblieben ist und wenn wehmütig einstiger „Jahrhundertwinter“ gedacht wird. Etwa so wie jenem anno 1907, als es dem Schneepflug nicht einmal mehr sechsspännig gelang, die Straßen von den Schneemassen frei zu räumen und als man zu den Nachbarn manchenorts sogar Tunnels graben musste. 


Schneenotstand (1907)

Oder gar so wie in Lucian Reichs Anekdote „Winter auf dem Walde“, in welcher es den Rettern erst am Karfreitag endlich gelungen ist, am Feldberg einen Bauernhof von oben her durch die Schneedecke auszugraben. „Karfreitag, und wir verzehren soeben das letzte Stück vom letzten Stier“, sollen die Geretteten von unten herauf gerufen haben – entsetzt darüber, unwissend das Fastgebot übertreten zu haben. Aus dem im Februar 1848 von einer Lawine („Schneeschalte“) verschütteten Königenhof im Wagnerstal bei Neukirch, in dem 17 Personen nebst vielem Vieh zu Tode gekommen waren, wird wohl niemand mehr herausgerufen haben.

Und doch hat es im Schwarzwald immer auch schon schneearme Winter gegeben. „Wer seinen Wohnsitz am Fuß des hohen Schwarzwaldes hat,“ schreiben in Deutschlands erstem Skiführer die beiden Skipioniere Henry Hoek und Heinrich Wallau (Skifahrten im südlichen Schwarzwald, München 1911), „ist natürlich in der glücklichen Lage, jeden günstigen Schneefall zu einer Fahrt auszunutzen. Wer weiter reisen muss, wird gut tun, sich über die Schneeverhältnisse genau zu erkundigen.“ Was keinen andern Schluss zulässt, als dass es mit der Verlässlichkeit der Winter selbst im Hochschwarzwald noch nie besonders gut bestellt war. 

Ein fotografischer Schnappschuss des Schwarzwaldmalers Hermann Dischler, entstanden auf dem Thurner im Winter 1903, zeigt eine eher dürftige, ziemlich ausgeaperte Schneedecke. Hier oben sollen die Jungbauern und -bäuerinnen, angesteckt vom in Freiburg unten so heftig grassierenden Schneeschuhlauf-Bazillus, um die Jahrhundertwende mit ihrem Vorhaben kläglich gescheitert sein, ihren eigenen Skiclub zu gründen. Vorausgesetzt, die Erzählung des Thurnerwirts, des Chefs des seit 1502 auf der Passhöhe nachgewiesenen Gasthauses, trifft zu, die er in den schrecklichen, den schneelosen Wintern der 1990er Jahre unter seinen Gästen ausgestreut hatte, soll der junge Verein sich nach sieben (!) schneemageren Wintern wieder aufgelöst haben. 

Dünne Schneedecke auf dem Thurner (Foto H. Dischler, 1903)

Und doch sollte es sie auch weiterhin geben, die „Jahrhundertwinter“: Am ehesten, versteht sich, wenn der erste Schneefall auf den Tag des Heiligen Andreas am 30. November fiel. Dann nämlich, so will es die Bauernregel, bleibt der Schnee hundert Tage liegen – wofür ich mich als langjähriger Vorsitzender des Fördervereins Club Thurnerspur e. V. verbürge, mit dessen Mitgliedsbeiträgen das 1972 auf dem Thurner gegründete Langlaufzentrum unterhalten wird. In besonders lebhafter Erinnerung ist mir der erste Winter geblieben, nicht etwa nur wegen des Sonntagsfahrverbots aufgrund der damaligen Ölkrise, sondern auch weil auf der noch immer durchgängig präparierten (Natur-)Schneeloipe bis in den Mai langgelaufen werden konnte. In unserem nach finnischem Vorbild knapp unterm Kulminationspunkt ausgelegten Loipenbuch hatte sich ein euphorisch gestimmter Läufer sogar in Reimform verewigt:

Der Mai ist gekommen, 
es grünt in Wald und Flur,
noch ist uns nicht genommen
die schöne Thurnerspur.

Im nämlichen Winter hatte ich freilich im italienischen Fassatal bei weitaus ungünstigeren Bedingungen am populären Volksskilauf Marcialonga teilgenommen. Die 70 Kilometer lange Wettkampfstrecke von Moena nach Cavalese war damals schon zu weiten Teilen ein weißes Band aus künstlich herbeigeschafftem Schnee – kaum anders als bei der jüngsten Tour de Ski  (Silvester 2022 bis zum 8. Januar), deren Veranstalter bis hinauf zur Alpe Cerni auch diesmal wieder mit Schneemangel zu kämpfen hatten. Der Unterschied: Damals hatte lediglich die Alpensüdseite nichts abbekommen von der weißen Pracht, diesmal war es beidseits des Alpenhauptkammes geschehen, wie wir TV-Zuschauer uns mit Grausen auch ob der verregneten Kunstschneebänder in Obersdorf, bei der Vierschanzentournee oder beim Ruhpoldinger Biathlon erinnern.

Wahre Rekordschneemengen gab es im Schwarzwald zuletzt im Spätwinter 1988: Erst gegen Ende Februar fing es zu schneien an, und in der ersten Märzwoche begannen die Markierungsstangen des Fernskiwanderwegs von Schonach zum Belchen unter die Schneedecke abzutauchen. Und noch gegen Monatsende konnte sogar der Rucksacklauf –   durchweg noch per Ski –  über die 100 Kilometer absolviert werden.

Jahrhundertwinter März 1988

Doch dann folgten die 1990er Jahre, die dem Skilauf gnadenlos zusetzten, nicht nur weil der Schnee ausblieb, sondern auch wegen der Orkane, die man sich ohne Zutun des Treibhausklimas in der Wetterküche des Nordatlantiks nicht mehr erklären konnte. Oft genug waren nach den Stürmen die Waldpassagen verbarrikadiert, wenn endlich ein nachfolgender Kaltluftvorstoß wieder mal eine dünne Schneedecke hinterlassen hatte, die eher einem Leichentuch glich. 

Auch im Förderverein auf dem Thurner sollte der Klimawandel nun zum Dauerthema werden. Zu dessen Mitgliederversammlung 1990 lud man den namhaften Freiburger Meteorologen Hans Rudloff ein, der zum Thema „Winter ade – wie ändert sich unser Klima“ referierte. Weil er dabei den Klimawandel zu Teilen auch noch als Medienprodukt eingestuft und die Badische Zeitung ausführlich darüber berichtet hatte, wurde er nachfolgend von Leserbriefen so bedrängt, dass er Abbitte leisten musste. Doch immerhin eine der Rudloff´schen Thesen sollte sich bewahrheiten: Im Abstand von 21 Jahren, so hatte er in seinem Vortrag angemerkt, seien alten Wetteraufzeichnungen zufolge besonders strenge und schneereiche Winter zu erwarten. Und siehe da: in der Saison 2008/09 verzeichnete das Langlaufzentrum mit 135 Betriebstagen (v. 22. November bis 4. April) seinen Rekordwinter. 

Seit mittlerweile fünfzig Wintern hat der Clubvorsitzende seinen (inzwischen 6700) Mitgliedern zur Jahresversammlung jeweils einen Rückblick auf die zurückliegende Langlaufsaison verfasst: eine Dokumentation eines fünf Jahrzehnte währenden Auf und Abs, erstaunlicherweise ohne so ganz eindeutige Negativtendenz. Auf die optimistischen Siebziger und Achtziger, die dem Skilanglauf im Schwarzwald einen wahren Boom beschert hatten, folgten in den Neunzigern die winterlichen Tiefpunkte, in denen der Vereinvorstand sich sogar mit dem Gedanken trug, aus Fairnessgründen die Mitgliedsbeiträge einzufrieren und in einen Dornröschenschlaf zu versinken. Doch das neue Jahrtausend brachte mehrheitlich wieder Winter, die zum Skilanglauf einluden und den Club förmlich aufblühen ließen.

So war denn auch der Katzenjammer um den Jahreswechsel 2022/23 rasch wieder verflogen, als Mitte Januar plötzlich ein Schwall arktischer Kaltluft gegen Süddeutschland vorstieß. Er ließ mit einem Mal all die Berichte über den beklagenswerten Notstand auf Pisten und Loipen heillos deplaziert erscheinen, die nach dem Kälteeinbruch von den Redaktionen nicht mehr rechtzeitig gestoppt worden waren. Jetzt also heißt es endlich wieder Ski und Rodel gut, wenn freilich auch noch auf bescheidener Schneedecke – derweil häufen sich die öffentlichen Appelle, trotz des eiskalten Nordwinds nur ja die Heizung, bitteschön, nicht gar zu weit aufzudrehen. Ob sich wohl auch der Klimawandel ein bisschen davon ausbremsen lässt?

Hüfingen im Schnee. Foto: Karl Schweizer