Schillertannne 2.0

Schillertannne 2.0

24. Februar 2024 0 Von Wolf Hockenjos

  Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.
(Friedrich Schiller: Wilhelm Tell IV, 2)

Ob neues Leben wohl auch aus Baumruinen zu erblühen vermag? Friedrich Schiller wird ein besonderes Faible für den Forstberuf nachgesagt. Die Bemühungen um Nachhaltigkeit, das Planen über Baumgenerationen hinweg, hatten ihm offenbar Respekt abgenötigt. Schon sein Vater, in späten Jahren Vorstand der Hofgärtnerei auf der Solitude, hat mit Bäumen zu tun gehabt, und des Dichters Ältester war, gewiss nicht ohne väterliches Zutun, in den Kgl. württembergischen Forstdienst eingetreten. Zu Schillers 100. Todestag errichtete man vielerorts Gedenksteine, in der Bergstadt St. Georgen hingegen wurde ihm 1905 ein Naturdenkmal gewidmet: die „Schillertanne“; die dürfte schon zu des Dichters Lebzeiten ein stattlicher Baum gewesen sein. Sie steht, namentlich verzeichnet in der Wander- und Freizeitkarte, an einem als Wander- und Radweg ausgewiesenen Forstweg im St. Georgener Stadtwalddistrikt Röhlinwald. Ihr Alter wird auf ca. 350 Jahre geschätzt bei einem Stammumfang in Brusthöhe von 4,70 Meter, womit sie zu den stärksten Tannenriesen des Schwarzwalds gehört und nicht nur für Bildungsbürger ein beliebtes Wanderziel darstellt. Name, mutmaßliches Alter und Maße sind auf einer (längst nicht mehr aktuellen) Hinweistafel am Stammfuß vermerkt, eine Sitzbank lud zum Verweilen ein – zum Gedenken an den „Dichterfürsten aus dem Schwabenland“, mehr noch zur Bewunderung des geschützten Naturdenkmals. Im Jahr 1961 hatte ein Sturm der Weißtanne den Hauptwipfel abgerissen; doch an der Bruchstelle war – nicht untypisch für die Baumart – aus verbliebenem Grün alsbald wieder ein neuer Wipfel herangewachsen: Zuvor hatte man eine Baumhöhe von 44 m gemessen, nun, ein halbes Jahrhundert nach dem Bruch, waren es doch wieder ca. 35 m geworden. Trotz Waldsterben und Klimastress machte die Tanne mit ihrer neu gebildeten Krone noch 2023 einen durchaus vitalen Eindruck auf die Besucher.

Dennoch hätte die Schillertanne den 200. Todestag des Dichters beinahe nur noch um fünf Jahre überlebt: Im Spätsommer 2010 hat die untere Naturschutzbehörde die im Naturdenkmalbuch eingetragene Tanne auf Drängen des Forstrevierleiters aus Verkehrssicherheitsgründen zur Fällung freigegeben1. Das amtliche „Todesurteil“ für den Baum hatte den Stadtbaumeister so sehr irritiert, dass er den Stadtgärtner beauftragte, sich die Tanne und deren Gesundheitszustand doch noch einmal genauer anzuschauen. Weil aber Gärtner sich zwar mit Tannenreisig, weniger mit betagten Tannenbäumen auszukennen pflegen, beschloss man im Rathaus, zusätzlich noch den Rat eines Baumsachverständigen einzuholen. Dessen Gutachten fiel eindeutig aus: Am Stamm bestätigte er zwar in ca. 11 m Höhe einen halbseits sichtbaren Tannenkrebs sowie an dessen Holzgeschwür auch schon einen Fruchtkörper des Weißfäule verursachenden Feuerschwamms sowie mehrere Spechthöhlen. Doch eine akute Gefährdung der Passanten auf dem Forstweg schloss der Experte rundweg aus. Vielmehr weise der Baum das typische Erscheinungsbild alter Weißtannen auf. Selbst ein Stammbruch in Höhe der Krebsstelle, wie er nicht gänzlich auszuschließen sei, müsse nicht zwangsläufig eine Gefahr für die Wegbenutzer bedeuten, denn der Baum stehe drei Meter vom Fahrbahnrand entfernt, so dass die Krone im Falle eines Bruches, der Schwerkraft folgend, eher nicht auf den Weg stürzen werde. Weil sich unterhalb des Krebsstelle bereits ein kräftiger Ast kandelaberartig empor zu richten begonnen hatte, könne die Tanne auch ohne ihre (bereits zweite) Krone möglicherweise noch über Jahrhunderte weiterexistieren, ein maximales Alter von 6 bis 700 Jahren sei schließlich für Weißtannen verbürgt. Allenfalls die Sitzbank solle man aus dem potenziellen Gefahrenbereich versetzen, damit aber sei der Verkehrssicherungspflicht einstweilen Genüge getan.

Wie es sich in der Stadt herumgesprochen hatte, soll – ausgerechnet! – der Rat eines Höhlenbrüterexperten den Förster dazu veranlasst haben, die Fällung des geschützten Naturdenkmals zu beantragen; was der Ornithologe freilich entschieden zurückweist. Vielmehr habe er anlässlich eines Revierbegangs mit dem Förster auf dessen haftungsrechtliche Bedenken hin auf einige Dürräste in der Krone aufmerksam gemacht, die man im Zweifel ja würde beseitigen können. Keinesfalls habe er zur Fällung geraten, sondern auf die Bruthöhle des Buntspechts hingewiesen. Diese habe der Förster in seiner Empfehlung gegenüber der Naturschutzbehörde freilich unerwähnt gelassen – genießen Bruthöhlenbäume doch (gem. § 43 Abs. 2 Satz 2 NSchG) den besonderen Schutz des Gesetzes.

Zwischenzeitlich hatte auch die örtliche Presse Wind von der angeordneten Fällung bekommen und über die Entscheidung der Naturschutzbehörde berichtet. Zwar löste der Bericht in der Bürgerschaft keinen Sturm der Entrüstung aus, gewiss wäre auch kein St. Georgener auf die Idee verfallen, sich nach den Vorbildern von Stuttgart 21 an den Tannenstamm zu ketten, gar die Tannenkrone zu besetzen. Doch Unruhe war aufgekommen, und manch einer hat auch seinem Unverständnis Luft gemacht. Durch die Proteste, vor allem aber durch das Gutachten des Baumsachverständigen sah man sich immerhin dazu veranlasst, die Entscheidung auszusetzen. Von Seiten der Naturschutzbehörde wurde jedoch eine gerätetechnische Untersuchung der Standfestigkeit des Stammes verlangt sowie die Beseitigung von Dürrastmaterial mit Hilfe einer Hebebühne. Viel hatte dennoch nicht gefehlt, und die Schillertanne wäre ums Haar beseitigt worden! 

Was sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht bis in alle Amtsstuben herumgesprochen hatte: Am 6. August 2010 sind einige geringfügige, für die Verkehrssicherungspflicht jedoch desto bedeutsamere Änderungen des Bundeswaldgesetzes in Kraft getreten. So wurde die durch die Bundesländer umzusetzende Rahmenregelung, wonach (im § 14 Abs. 1 BWaldG) das Betreten des Waldes „auf eigene Gefahr“ geschieht, ergänzt um einen klärenden Satz: „Dies gilt insbesondere für waldtypische Gefahren.“ Schon zuvor hatte die forstliche Fachpresse (16/2010 AFZ-DerWald) über ein Urteil des Landgerichts Saarbrücken (vom 3. 3. 2010, Az. 12 0 271/06) zur Verkehrssicherungspflicht der Waldbesitzer auf Waldwegen berichtet. In ihm wurde die Klage einer Waldbesucherin abgewiesen, die durch einen herabfallenden Eichenast schwer verletzt worden war. Sollte etwa keine „waldtypische Gefahr“ sein, was schlimmstenfalls von der Schillertanne drohte? Mag man an öffentlichen Straßen und Schienen noch jegliches Verständnis aufbringen für haftungsrechtliche Risiken und allfällige Präventivmaßnahmen, auch für Übertreibungen aller Art: Längs von Waldwegen indessen, zumal weitab von Siedlungen im Bestandesinneren, sollten andere Maßstäbe gelten: Nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers sollen Förster und Waldeigentümer hier „die Kirche im Dorf lassen“ und also auch mehr Toleranz walten lassen angesichts altehrwürdiger Baumdenkmäler, Spechtbäumen und Baumruinen, den waldtypischen Gefahrenquellen. 

Ließ sich die Tanne nun vielleicht doch noch retten, oder hatte sich der Krebs inzwischen weiter durch den Stamm gefressen und so die Gefahrenlage „atypisch“ verschärft? Knapp darunter hatte sich bereits ein mächtiger Ast kandelaberartig empor gerichtet mit erneuter  Aussicht auf eine Ersatzkrone. So könnte die Tanne trotz eines Stammbruchs den St. Georgenern weiterhin erhalten bleiben – wer weiß, womöglich bis zum 250. oder gar 300. Todestag Friedrich Schillers? Wo sie hier doch Erfahrung haben im Umgang mit „Gedächtnistannen“: Spätestens seit 1719, als der hiesige Vikar und Magister der Philosophie Friedrich Wilhelm Breuninger sein dickleibiges Buch über die „wahre“ Donauquelle veröffentlicht hatte. In ihm hatte er im Auftrag des württembergischen Herzogs den Nachweis zu erbringen bemüht, dass die Donau nicht etwa in Donaueschingen, sondern am nahen Hirzbauernhof entspringt. Sein Beweisstück: eine gewaltige Wettertanne, die man auf dem dortigen Weidfeld schon deshalb nie gefällt habe, weil sie seit Urzeiten dem Andenken an die Donauquelle gewidmet gewesen sei.

Doch am 11. Mai 2022 erschien im Lokalteil der Tageszeitung ein ausführlicher und bebilderter Bericht unter der Überschrift Gibt es bald eine Schillertanne 2.0? Darunter: Gemeinderat: Das Naturdenkmal im Stadtwald könnte wegen Tannenkrebs zur Gefahr für Passanten werden. Die Stadtverwaltung wolle die Gefahr gerne aus dem Weg schaffen und den Baum fällen lassen. Bei einem Naturdenkmal sei dies allerdings gar nicht so einfach. Weshalb Gemeinderäte, Bürgermeister und Verwaltungsmitarbeiter zusammen mit Forstrevier- und Forstamtsleiter sich bei einer Waldbegehung vor Ort ein Bild von der aktuellen Situation verschafft und über das weitere Vorgehen beraten hätten. 

Das Ergebnis der Beratung, in die auch das Landratsamt als untere Naturschutzbehörde miteinbezogen war, liegt seit Februar 2024 vor: Zu besichtigen ist eine stark verstümmelte Tanne, die in ca. 15 m Höhe als Biotopbaum in Wellenlinie rot gekennzeichnet ist, wobei auch die Spechtlöcher in roter und grüner Farbe umrandet wurden. Ein Haufen Astwerk mit und ohne Nadelgrün ist noch am Stammfuß gelagert und lässt ahnen, wie viel der Tannekrone entnommen worden ist – alles in Allem ein überaus gewöhnungsbedürftiger Anblick! Immerhin ist der Kandelaberast weitestgehend verschont geblieben, und so bleibt eine Restchance, dass die Schillertanne den baumchirurgischen Eingriff doch noch überleben wird. 

Baumchirurgische Verstümmlung

Und sollte der Hauptstamm mit seinen Bruthöhlen und mitsamt dem Nebenwipfel doch nächstens das Zeitliche segnen, so wissen die Förster dem Bericht zufolge heute bereits Rat: Ein Stück weiter unten, mitten im Bestand und abseits von Wegen steht noch eine zweite Tanne, die nach Alter und Stärke, wie auch nach derzeitigem Gesundheitszustand das Zeug zu einem Naturdenkmal hätte, sofern die Naturschutzbehörde mitzieht – die „Schillertanne 2.0“.  So oder so: mit Unmutsäußerungen der Bergstädter ist wohl eh nicht mehr zu rechnen, wo doch auch das Andenken an den Dichter Friedrich Schiller weit in den Hintergrund getreten ist in unserer krisengebeutelten Gegenwartsgesellschaft.

Schillertanne 2022
Schillertanne 2024
Kronenloses Naturdenkmal 2024

1 Hockenjos, W.: Schillertanne – ein Lehrstück. Naturdenkmal am seidenen Faden der Verkehrssicherungspflicht. AFZ-DerWald 4/2011