Ins Bockshorn gejagt?

Ins Bockshorn gejagt?

8. Oktober 2023 0 Von Wolf Hockenjos

In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Der Schwarzwald, dem Organ des Schwarzwaldvereins, wird ausgiebig das 50jährige Jubiläum des Jugendzeltlagers an der Bockhornhütte auf der Platte gefeiert, dem Höhengebiet zwischen Kandel und St. Märgen. Vor einem halben Jahrhundert hat der Verein hier erstmals die am Rande des Staatswalds gelegene Hütte für seine Jugend in Beschlag genommen, denn daneben sprudelte der legendäre Bockhornbrunnen und auch die angrenzende Waldwiese bot sich zum Zelten an – wie sich über ein halbes Jahrhundert hinweg zeigen sollte ein beliebtes Sommerangebot des sonst eher von älteren Mitgliedern repräsentierten Schwarzwaldvereins. Doch auch schon zuvor waren Hütte und Wiese für diverse Jugendlager genutzt worden, denn der Leiter des St. Märgener Forstamtes war seinerzeit Fritz Hockenjos, mein Vater, vormals selbst jugendbewegt und von 1970 bis 1979  Präsident des Schwarzwaldvereins. Von den Besuchen an der Bockhornhütte ist mir, seinem Zweitältesten, neben den Kandelsagen, die er an abendlichen Lagerfeuern mitunter zum Besten gab, vor allem das selbst im Hochsommer eiskalte Wasser des Brunnens in Erinnerung geblieben: Wer es mit den Armen am längsten im Brunnentrog aushielt, der hatte gesiegt. 

Der Sage nach hatte beim Bockhornbrunnen natürlich der bockgehörnte und bockfüßige Teufel die Finger mit im Spiel: das so üppig sprudelnde Wasser konnte eigentlich nur aus dem sagenumwobenen unterirdischen Kandelsee stammen. Der hatte bekanntlich einst schon die Bergleute im Suggental ins Unglück gestürzt. Vom Bockhornbrunnen aus war der dortige Silberbergbau durch ein – den steilen Südhang des Kandels querendes – Wuhr mit Wasser versorgt worden. Weil es den Bergleuten aber zu wohl geworden war (sodass sie in Schuhen aus Brotlaiben tanzten), ertranken sie zur Strafe allesamt in der Flut – bis auf einen Säugling, auf dessen hölzerner Wiege eine hin und her springende Katze für Gleichgewicht gesorgt hatte.


Ein anderer Stein, höher und mächtiger wie der eben genannte, galt durch Jahrhunderte als Scheidemarke zwischen den beiden Klöstern. Er erscheint schon Anfang des 12. Jahrhunderts im Rotulus San Petrinus mit dem Namen Buggenhorn. In einer von Abt Placitus im Jahre 1662 gefertigten Grenzbeschreibung des Klosters St. Peter wird über das Buggenhorn ausgeführt: „Ist gar wohl bekannt und ein hoher aufrechter Stein in einer Ebene, mitten im Wald, da sich des Stifts Waldkirch, item des Bauern auf der Platte Wald und St. Petrische Herrschaft scheiden. Dieser Stein ist vor wenigen Jahren von einem großen Baum, den der Wind umgeworfen, getroffen und tief in den Boden hinein geschlagen worden, dass gar wenig mehr davon heraussen blieb, und soll dies Jahr im Beisein der Interessenten wieder aufgerichtet werden.”
Der letzte Teil dieser Nachricht soll aus dem Jahre 1723 stammen. Der Plan, den zertrümmerten Stein wieder aufzurichten, wurde jedoch nicht weiter verfolgt und so blieb er bis vor wenigen Jahren verschollen. Auf seltsame Weise kam wenigstens ein groller Teil eines Steines, der diesem entsprechen dürfte, als Treppenstufe am Plattenwirtshaus zum Vorschein. Wie schon immer vermutet war der Buggenhorn ursprünglich ein Menhir. Der gefundene Oberteil deutet jedenfalls nach Form und Ausschen auf ein solches frühgeschichtliches Kulturdenkmal. Das Buggenhorn hat im Laufe der Zeit den Namen Bockhorn erhalten.
Vielleicht waren damals noch Erinnerungen wach an einen vorchristlichen Kult, der hier wie auch anderwärts gern mit dem Teufel in Verbindung gebracht wurde. Die aufgefundene Spitze des Bockhorns befindet sich im Elztäler Heimatmuseum in Waldkirch.

Kein Wunder also, dass mich an den Berichten über das Jubiläum des Jugendzeltlagers im Heft am allermeisten die Erwähnung irritiert hat, das Wasser fürs Kochen und Waschen müsse inzwischen herbeitransportiert werden. Haben womöglich die jüngsten Dürresommer auch den Bockhornbrunnen versiegen lassen? Die Feierlichkeiten zum Fünfzigjährigen scheint dieser Umstand dennoch nicht allzu sehr getrübt zu haben: Nicht nur der für den Wahlkreis zuständige Landtagsabgeordnete der Grünen besuchte das Zeltlager, auch nicht nur der amtierende Schwarzwaldvereinspräsident; sogar Ministerpräsident Winfried Kretschmann war da, wie SWR Aktuell am Abend des 23. August 2023 berichten konnte. „Da fällt man wieder in die Zeit und nimmt die wirklichen Dinge des Lebens wahr, die Natur, in der man lebt, und nicht nur das Virtuelle, wann immer man aufs Handy glotzt“, sprach der Landesvater beim Spätzleessen in die Kamera, er fühle sich hier an seine eigene Jugend erinnert.

Der Windpark auf der Platte
(vom Kandelgipfel aus gesehen)

Was ihm aber noch mehr behagt haben dürfte: Unweit des Lagers drehen sich, sofern nicht altweibersommerliche Flaute (gar Dunkelflaute) herrscht, die Rotoren von drei Windenergieanlagen älteren Typs; drei von insgesamt neun, die seit dem Jahrtausendwechsel sukzessive auf der Platte errichtet worden sind; die beiden modernsten und höchsten stehen im Staatswald ein ganzes Stück weit westlich oberhalb von Hütte und Brunnen. Offenbar haben die Windräder, die nächstens per Repowering noch kräftig aufgestockt werden sollen, den Naturgenuss der zeltenden Jugendlichen bislang nicht geschmälert. Im Augustheft Der Schwarzwald, das bereits kurz vor dem hohen Besuch erschienen ist, findet das Frustthema Windenergie jedenfalls keinerlei Erwähnung mehr, so sehr sich der Verein seit den 1990er Jahren immer wieder besorgt gezeigt hat: Die Schwarzwälder Landschaft, ihre Vielfalt, Eigenart und Schönheit (Bundesnaturschutzgesesetz § 1) könnten durch Windräder ja doch allzu sehr entstellt werden. Erstmals 1994 hatte der Schwarzwaldverein das Thema in seiner Verbandszeitschrift aufgegriffen und auf drohende Konflikte hingewiesen. Drei Jahre später folgte ein Positionspapier, in dem er Windenergieanlagen zwar nicht rundweg ablehnte, doch sollten sie, bitteschön, bevorzugt auf vorbelasteten Standorten konzentriert werden. Womit man sich durchaus noch auf politisch sicherem Boden bewegte, denn 1995 hatten das CDU-geführte Umwelt- und das Wirtschaftsministerium in einer „gemeinsamen Richtlinie für die gesamtökologische und baurechtliche Behandlung der Windenergieanlagen“ noch exakt ins nämliche Horn gestoßen. 

Am 9. November 2002 verfasste die Delegiertenversammlung des Schwarzwaldvereins eine Resolution Schwarzwald und Energie, in welcher die verschiedenen regenerativen Energieformen beleuchtet und bewertet wurden. Fazit: „Windkraftanlagen dürfen im Schwarzwald nur nachrangig und nach sorgfältiger Abwägung in der Regionalplanung gebaut werden. Wertvolle Landschaften sind großräumig von Windkraftanlagen freizuhalten. Die Landschaft erheblich beeinträchtigende, das Landschaftsbild verändernde, den Naturhaushalt und die Erholungsfunktion störende Energieanlagen werden abgelehnt.“

Am 22. Oktober 2011, neun Jahre nach jener Delegiertenversammlung, tagte der Schwarzwaldverein erneut zum Thema Erneuerbare Energie,  und wieder ging es vorwiegend um das Landschaftsbild. Beim weiteren Ausbau der Windkraft, so die Forderung im Ergebnispapier, solle „die ästhetische Dimension des Naturschutzes und das Gebot der Erhaltung landschaftlicher Schönheit gleichrangig neben den Zielen des Biotop- und Artenschutzes“ stehen. Eine Forderung, der sich der anwesende Vorsitzende des Schwäbischen Albvereins vorbehaltlos anschloss, nicht ohne anzufügen, dass  auch der Schwäbische Heimatbund sich damit identifizieren werde. 

Von jener Besorgnis über die drohende Industrialisierung der Landschaft durch Windenergieanlagen ist unterdessen nicht mehr viel zu spüren. Empörte Reaktionen waren sogar ausgeblieben, als die Landesregierung ihre Absicht verkündete, allein im Staatswald eintausend Windräder zu errichten. Wo Wind- und Solarparks inzwischen doch (gem. § 2 EEG, dem Gesetz für den Ausbau der erneuerbaren Energien) „im überragenden öffentlichen Interesse“ liegen und „der öffentlichen Sicherheit dienen.“

Im Februar 2023 nun beschloss der Vorstand des Schwarzwaldvereins ein deutlich geschmeidigeres Positionspapier, in welchem er zwar weiterhin fordert, dass neben dem Biotop- und Artenschutz auch das Schutzgut landschaftlicher Vielfalt, Eigenart und Schönheit in den Abwägungsprozess einzubeziehen sei. Wo eine ausgeprägte Biodiversität mit einem hoch bewerteten Landschaftsbild zusammentreffe, sollten keine Windkraftanlagen geplant oder vorhandene Planungen zurückgestellt werden. Doch nachdrücklich wird „im Interesse der Akzeptanz“ dafür geworben, dass Pachteinnahmen für WKA-Standorte auch „den Anwohnern in einem zu definierenden Nahbereich und nicht nur den jeweiligen Grundeigentümern zugute kommen“. Anstelle anonymer Investoren seien „Bürgerwindräder“ mit örtlichen Beteiligungsmöglichkeiten zu bevorzugen, damit möglichst hohe Anteile der Wertschöpfung in der Region verbleiben.

Sollte der Besuch des grünen Abgeordneten bei der Schwarzwaldvereinsjugend, erst recht derjenige des Ministerpräsidenten, etwa ein Dankeschön der Politik andeuten für ein neues energiepolitisches Wohlverhalten dieses anerkannten Naturschutzverbands, der sich in der Vergangenheit doch so oft quergelegt hatte? Ob sich da der einstige Hauptnaturschutzwart und Präsident des Vereins, Fritz Hockenjos, nicht im Grab umdreht, der Vorsitzende jener ersten Bürgerinitiative der Bundesrepublik, der Arbeitsgemeinschaft Heimatschutz Schwarzwald, die in den 1950er Jahren die energiepolitischen Pläne der Landesregierung zur Ableitung der Wutach erfolgreich durchkreuzt hatte? Und ob angesichts fehlender Speichermöglichkeiten des Windstroms jene Pläne nun nicht plötzlich wieder aus den Schubladen hervorgeholt werden dürfen?

Was einstweilen bleibt, ist der Blick auf den versiegten Bockhornbrunnen: Könnte es sein, dass auch diesmal der Teufel wieder seine Finger mit im Spiel hatte? Dass er die für die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zuständigen Experten genarrt, sie ins Bockshorn gejagt hat, als sie die Unbedenklichkeit der Windradstandorte im Staatswald-Distrikt Hinterer Hochwald (im Westen oberhalb von Bockhornhütte und -brunnen) bescheinigten? Könnte nicht durch die gewaltigen Betonsockel unter den Türmen die unterirdische Wasserzufuhr aus dem Kandelsee abgeklemmt worden sein?

Beim Werkeln im Hinteren Hochwald ins Bockshorn gejagt?