Alles Kultur?

Alles Kultur?

19. Dezember 2023 0 Von Wolf Hockenjos

Unter der Überschrift „Alles andere als Urwald“ erschien in der Zeitschrift Der Schwarzwald 3/2022, dem Organ des Schwarzwaldvereins, ein Beitrag von Peter Grassmann1, einem der Kuratoren der Ausstellung KULT(UR)WALD im Villinger Franziskaner Museum. Sie war der Besiedelung des Schwarzwalds gewidmet und räumte mit der laienhaften Vorstellung auf, wonach das „siedlungsunfreundliche“ Waldgebirge bis zu den Klostergründungen ein undurchdringlicher Urwald gewesen sei, allenfalls „ein Kult(ur)wald eben“. (Vgl. „Kein Urwald – nirgends?“)    

Nun haben auch noch zwei Forstwissenschaftler nachgelegt: Unter der Überschrift „Kulturwald in Mitteleuropa – Schwarzwald und Choriner Wald“ wird von Helmut Volk (Freiburg) und Peter Spathelf (Greifswald) in der Allgemeinen Forstzeitschrift (AFZ/Der Wald v. 6. 12. 2023) die Ansicht vertreten, die Urwaldzeit sei da wie dort viel früher zu Ende gewesen als bislang angenommen. Weshalb auch nicht der Naturwald Grundlage für die heutige Waldnutzung sein könne, auch nicht für die Bemühungen um Klimaschutz, Wasserschutz, Naturschutz und Erholung, sondern der Kulturwald. Selbst im Schwarzwald habe seit der Jungsteinzeit „ein lichter Agro-Forst mit einzelnen Baumgruppen“ dominiert. 

Wie finster und unwegsam war der Schwarzwald?

Für den Choriner Wald in Brandenburg mag das zutreffen. Muss aber auch das Bild des düsteren, wilden und unwegsamen Waldgebirges, das sich wie ein Riegel zwischen die Zentren der Zivilisation im Osten und Westen schob, zurechtgerückt werden? Da stellen sich einem denn doch etliche Fragen: War es wirklich ein komplettes Trugbild, das der Märchenerzähler Wilhelm Hauff 1828 im Kalten Herz verbreitete (Dein ist all Land, wo Tannen stehen…) und das man, ausweislich der pollenanalytischen Befunde, bis unlängst ja auch von der Wissenschaft noch präsentiert bekommen hat? Ganz zu schweigen von den Schilderungen der Römer, man denke nur an die Klage des Kaisers Julian (332 – 363 n. Chr.) über den Hercynischen Wald: „In diesem Walde habe ich Naturszenen gesehen, die unglaublich sind; ich verbürge es euch durch mein Wort, dass im Reich der Römer nichts Ähnliches erblickt wird.“ Und was könnte die Mönche des Klosters St. Gallen anno 763 n. Chr. noch veranlasst haben, ausgerechnet für einen „lichten Agro-Forst“ in ihrer Urkunde den Namen „saltus  Swarzwald“ zu verwenden? Wo sind schließlich „die schauerlichen Tannenhaine“ geblieben, „von denen dieses Gebirge seinen Namen hat, die sich zu allen Seiten erheben“, die ein Ferdinand Ochsenheimer 1795 noch in seinen „Streifereien durch einige Gegenden Deutschlands“ beschreibt? Mag man sich so einen „Kulturwald“ ausmalen? 

Glich die Siedlungsgeschichte im Schwarzwald über Jahrtausende hinweg nicht eher einem Kampf, einem erbitterten Ringen, um den Wald daran zu hindern, sein Terrain zurückzuerobern, sobald die Landwirtschaft wieder einmal durch Klimaungunst lahmte oder die Feldflur durch Abwanderung und kriegerische Auseinandersetzungen ein paar Jahre lang brach liegen blieb? Und beschreiben die Begriffe „Forst“ und „Aufforsten“ nicht eine ganz und gar neuzeitliche Praxis aus der Ära der sog. Altersklassenwirtschaft? Dass der Schwarzwald auch immer wieder dicht bewaldet war und dass es sich dabei vorwiegend um einen Mischwald aus schattentoleranten Nadel- und unterschiedlichen Laubbaumarten gehandelt hat, mithin um die für den Schwarzwald so charakteristische Bergmischwaldgesellschaft, beweisen doch unzählige Pollenprofile. Selbst die Peutingersche Tafel (Tabula Peutingeriana), die auf einer Straßenkarte aus spätrömischer Zeit basiert, zeigt den Schwarzwald als durchgehend mit Nadel- und Laubbäumen bestockte Kulisse. 

Silva marciana auf der Tabula Peutingeriana (https://tp-online.ku.de)

Zwar kann Bergmischwald auch im Urzustand nicht mit einem undurchdringlichen Dschungel gleichgesetzt werden. Wirklich siedlungsfeindlich und unwegsam war der Schwarzwald wohl immer nur je nach Topographie, also vor allem in den felsdurchsetzten Steilhängen des rhenanischen Teils*. Zu keinem Zeitpunkt musste er großräumig umgangen werden, vielmehr wurde er schon früh auf uralten Handelsrouten durchquert. Für Nischen mit Urwaldcharakter blieb dennoch Platz. Wie sonst sollten „Urwaldreliktarten“ überdauert haben, zu denen man ja nicht nur ein paar seltene Vogel-, Pilz- und Insektenarten, sondern im Grunde auch den Schwarzwälder „Charakterbaum“, die Weißtanne, zählen muss. Bergmischwälder sind jedenfalls bis in die Neuzeit hinein niemals durch Aufforstung entstanden; nach Rodungen und Kahlschlägen haben sie sich stets dank natürlicher Sukzession von allein wieder eingefunden: Was an diesem Mosaik-Zyklus-Prozess des Waldökosystems kann da als „Kulturwald“, gar als „Agri-Forst“ interpretiert werden?

Alles Kultur im Schwarzwald?

Wie sich zumal die Weißtanne im Schwarzwald, ihrem heutigen Hauptverbreitungsgebiet in Deutschland, gegen alle Rodungswellen behaupten konnte, lässt sich mit der These vom durchweg kulturbedingten, womöglich „lichten Agro-Forst“ nicht in Einklang bringen. Nicht einmal die ordnungsgemäße Forstwirtschaft der jüngsten zweihundert Jahre hat nennenswert zu ihrem Überleben beigetragen – man denke nur an ihre Arealverluste seit Beginn der Altersklassenwirtschaft. Der Beitrag von H. Volk und P. Spathelf fällt in eine Zeit, in der nicht nur aufgrund des Klimawandels, sondern auch des Artenschwunds die Auseinandersetzungen zwischen Naturschutz und Forstwirtschaft an Schärfe enorm zugenommen haben. Wobei es nicht nur um die Forderungen nach weiteren Flächenstilllegungen geht, nachdem die 2007 von der Bundesregierung beschlossene Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt ihr bis 2020 angestrebtes Ziel von fünf Prozent unbewirtschafteter Waldwildnis weit verfehlt hat. Der Forstseite muss sich auch gegen den Vorwurf wehren, dass sie aus Gründen der Gewinnmaximierung noch immer  Nadelholzforste bevorzuge und den Wald nach Sturm, Trockenheit und Käferfraß nach wie vor lieber als Kunstforst bewirtschafte als nach dem Vorbild der Naturwalds – als möglichst resilienter Dauerwald. Ob da die These weiterhilft, es sei ja ohnehin alles Kulturwald?


1 Graßmann, P. / Ade D. / Rademacher, L (Hrsg.): KULTURWALD Die Besiedlung des Schwarzwalds. Verl. der Stadt Villingen-Schwenningen
* Das rhenanische System umfasst den Rhein und alle Flüsse, die in den Rhein münden.