Kein Urwald – nirgends?

Kein Urwald – nirgends?

25. August 2022 1 Von Wolf Hockenjos

In der deutschen Landschaft fehlt die Wildnis. (Aldo Leopold: A Sound County Almanac. 1949)

Unter der Überschrift „Alles andere als Urwald“ erschien in der Zeitschrift Der Schwarzwald 3/2022, dem Organ des Schwarzwaldvereins, ein Beitrag von Peter Grassmann (1), einem der Kuratoren der sehenswerten Ausstellung KULT(UR)WALD im Villinger Franziskaner Museum. Sie ist der Besiedelung des Schwarzwalds gewidmet und räumt mit der laienhaften Vorstellung auf, wonach das „siedlungsunfreundliche“ Waldgebirge bis zu den Klostergründungen ein undurchdringlicher Urwald gewesen sei, allenfalls „ein Kult(ur)wald eben“, wie Grassmanns Beitrag schließt. Was man sich wohl konkret unter einem solchen vorzustellen hat?

Wie finster und unwegsam war der Schwarzwald?

So ganz wird dieses Rätsel auch in dem hübsch gestalteten und reich bebilderten Ausstellungskatalog nicht aufgelöst. Schon in prähistorischer Zeit, so verrät bereits in seinem Grußwort der Chef des Landesamts für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart Dr. G. Wieland, sei der Schwarzwald kein undurchdringlicher und menschenleerer „Urwald“ mehr gewesen. „Dass der Jäger des Mesolithikums durch den hohen Schwarzwald streifen konnte,“ so wird als Gewährsmann der Freiburger Geologe Max Pfannenstiel aus dem Jahr 1964 zitiert, „war nur möglich, wenn kein undurchdringlicher Urwald bestand, sondern ein lichterer Forst ein Eindringen bis zu den höchsten Kämmen und Gipfeln zuließ.“ Ab dem Ende der Jungsteinzeit (ab dem 4. Jahrtausend v. Chr.), erfährt der Leser, habe nämlich nicht nur die Rotbuche zur Weißtanne aufgeschlossen, es habe auch eine „lokale Rückkehr von Haselsträuchern und Birken“ gegeben. Zugleich hätten Pollen von Gräsern und Kräutern zugenommen, die in der Naturlandschaft dieser Zeit eigentlich fehlen, sogar Getreidekörner und Holzkohlestücke hätten eindeutig auf die frühe Anwesenheit von Menschen hingewiesen. 

Das Bild des düsteren, wilden Schwarzwalds, der sich wie ein Riegel zwischen die Zentren der Zivilisation im Osten und Westen schob, der noch im Mittelalter als silva nigra bezeichnet worden war, müsse zurechtgerückt werden: Nichts als ein Trugbild demnach, das selbst der Märchenerzähler Wilhelm Hauff im Kalten Herz noch verbreitet habe (Dein ist all Land, wo Tannen stehen…). In Wahrheit sei der Schwarzwald „schon lange ein von Menschenhand geschaffener Wald.“ Den „Urwald“ habe der Mensch sich, seit er sesshaft zu werden begann, zu eigen gemacht, für seine Zwecke genutzt und stetig geändert, mithin „ganz nach Bedarf gerodet und wieder aufgeforstet“. Aber war es tatsächlich so? 

Kohlplätze und im Boden erhaltene Kohlereste liefern der Wissenschaft Nachweise über den Wald und die jeweils vorherrschenden Baumarten in den zurückliegenden Jahrhunderten

Bei allem Nutzen, den der Wald den Siedlern versprach: Glich deren Geschichte über Jahrtausende hinweg nicht immer auch einem Kampf, einem erbittertem Ringen, um den Wald daran zu hindern, sein Terrain zurückzuerobern, sobald die Landwirtschaft wieder einmal durch Klimaungunst lahmte oder die Feldflur durch Abwanderung und kriegerische Auseinandersetzungen ein paar Jahre lang brach liegen blieb?


Und ist nicht das „Aufforsten“, von dem im Katalog die Rede ist, eine ganz und gar neuzeitliche Praxis, auch wenn schon die Römer den Waldhüterberuf (saltuarius) eingeführt haben – spätestens seit der Entwaldung des  Mittelmeerraumes? Dass der Schwarzwald (silva marciana) derweil noch immer (oder schon wieder?) dicht bewaldet war und dass es sich dabei um einen Mischwald aus Nadel- und unterschiedlichen Laubbaumarten gehandelt hatte, um die für den Schwarzwald so charakteristische Bergmischwaldgesellschaft also, beweisen nicht nur die Pollenprofile. Auch die Peutingersche Tafel (Tabula Peutingeriana), die auf einer Straßenkarte aus spätrömischer Zeit basiert, zeigt den Schwarzwald als durchgehend mit Nadel- und Laubbaumarten bestockte Girlande. 

Silva marciana (Schwarzwald) auf der Tabula Peutingeriana (Peutingersche Tafel).
Der Kleckes in der Mitte unten ist der Bodensee.
(https://tp-online.ku.de/)

Weil jedoch Bergmischwald auch im Urzustand nicht mit einem „undurchdringlichen Dschungel“ gleichzusetzen ist (wie noch 2021 eine im Katalog zitierte Quelle meint), kann er wohl nur in Verbindung mit der Topographie, mit den felsdurchsetzten Steilhalden des rhenanischen Schwarzwalds als undurchdringlich eingeschätzt worden sein. Weshalb er auch, wie im Katalog beschrieben, „zu keinem Zeitpunkt großräumig umgangen“, sondern auf uralten Handelsrouten durchs Kinzigtal und über den Thurnerpass durchquert worden ist. Als ob es da unterwegs nicht auch Herbergen, Hufschmiede und auch schon Höfe zum Pferdewechseln gegeben haben dürfte. 

Wälder der Bergmischwaldgesellschaft, die nun einmal überwiegend aus Schatten ertragenden Buchen und Weißtannen bestehen, sind jedenfalls bis in die allerjüngste Neuzeit, niemals durch Aufforstung entstanden, sondern nach Rodungen oder Kahlschlag stets durch natürliche Sukzessionsvorgänge: Wie nach jeder Alterungs- und Zusammenbruchsphase des Urwalds folgt auch nach Rodungen (nach dem sog. „Mosaik-Zyklus-Modell“) das Pioniergehölz (wie Hasel, Birke, Eberesche und Aspe), unter welchem sich dann auch wieder Tannen und Buchen einfinden, soweit die nicht ohnehin unterm Altholzschirm als Naturverjüngung überlebt hatten. Was an diesem natürlichen Prozess des Waldökosystems kann da als „Kulturwald“ (von lateinisch colere = bebauen), gar als „Forst“ interpretiert werden?

Im Wald des Hansenhof

Echter europäischer Urwald der Bergmischwaldstufe findet sich in nennenswerter Flächengröße nur noch in den Karpaten, doch selbst dort ist er zumeist nicht gänzlich unbeeinflusst vom Menschen geblieben – und sei es auch nur durch gelegentliche Beweidung. Im Schwarzwald mögen es immerhin noch ein paar wenige Nischen sein, die sich aufgrund ihrer Steilheit und Abgelegenheit nicht allzu weit vom Urwald entfernt haben. So etwa im glazial geformten Kessel des Zweribachs, im ältesten Bannwald Badens, wo es in den felsigsten Partien nachweislich bei einem einmaligen Kahlschlag ums Jahr 1582 durch alpenländische Spezialisten geblieben ist, angeordnet vom Abt von St. Peter zur Versorgung des Simonswälder Eisenwerks.

Wildnis im Bannwald Zweribach

Vom Karpatenurwald ist der Wald hier inzwischen kaum mehr zu unterscheiden. Um  den Waldfreunden zumindest doch einen „Urwald aus zweiter Hand“ bieten zu können, war hier 1952 auf Betreiben des Schwarzwaldvereins der erste Bannwald Badens entstanden, das erste Totalreservat, in dem sich die Waldvegetation ungestört nach der ihr innewohnenden Eigengesetzlichkeit entwickeln kann.“ Die Bannwälder sollten „all den Freunden der Natur offen stehen, die Freude an der ungezähmten Waldwildnis und Interesse für den mitteleuropäischen Urwald haben.“

Schon 1912 waren die Württemberger auf Initiative des Forstprofessors Christoph Wagner auf dieselbe Idee verfallen, zumal man sich von ihr auch wissenschaftlichen Gewinn versprach und Beantwortung von Fragen zur künftigen praktischen Waldbehandlung. „Urwald von morgen“ lautet der Titel eines zum Europäischen Naturschutzjahr 1970 erschienenen Buchs der Landesforstverwaltung, in welchem insgesamt 40 Bannwaldgebiete vorgestellt werden, noch ehe diese im neuen Landeswaldgesetz von 1976 dann auch eine Rechtsgrundlage erhalten hatten.

Im Bannwald, dem „Urwald von morgen“


Die Ausstellung im Villinger Franziskaner Museum (die noch bis zum 16. Oktober 2022 besucht werden kann) fällt in eine Zeit, in der nicht nur infolge des Klimawandels, sondern auch des Artenschwunds die Auseinandersetzungen zwischen Naturschutz und Forstwirtschaft an Schärfe zugenommen haben. Dabei geht es nicht zuletzt um die Forderung nach weiteren Flächenstilllegungen, nachdem die schon 2007 von der Bundesregierung beschlossene Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt ihr bis 2020 angestrebtes Ziel von fünf Prozent unbewirtschafteter Waldwildnis weit verfehlt hat. Umso heftiger wird der Forstwirtschaft unterdessen vorgeworfen, dass sie aus Gründen der Gewinnmaximierung noch immer vorwiegend reine Nadelholzforste bevorzuge und nach der Holzernte bzw. nach Sturm, Trockenheit und Käferfraß nach wie vor Nadelholzkulturen pflanze anstatt den Wald nach dem Vorbild der Naturwälder naturnah/naturgemäß als Dauerwald zu bewirtschaften, um so den Anforderungen der Zukunft besser gerecht werden zu können.

Insoweit darf der Villinger KULT(UR)WALD-Ausstellung wohl auch eine zusätzliche waldpädagogische Aufgabe aufgebürdet werden. Wie wäre es mit der Botschaft: der Schwarzwald der Zukunft möge sich, wenn schon nicht zum URWALD, so doch bitte auch nicht zum einseitig von der Holznutzung diktierten KULTURWALD hin entwickeln.

 1 Graßmann, P. / Ade D. / Rademacher, L (Hrsg.): KULTURWALD Die Besiedlung des Schwarzwalds. Verl. der Stadt Villingen-Schwenningen

2  Hockenjos, W.: Wo Wildnis entsteht. Der Bannwald Zweribach im Schwarzwald.  Lauinger Verl. Karlsruhe, 2015