Verwurzelung
Womit die Tannen Wasser und Nährstoffe in ihre Kronen pumpen
Kohlenmunkpeter hatte jetzt den höchsten Punkt des Tannenbühls erreicht und stand vor einer Tanne von ungeheurem Umfang, um die ein holländischer Schiffsherr viele hundert Gulden gegeben hätte. Hier, dachte er, wird wohl der Schatzhauser wohnen. (Wilhelm Hauff: Das kalte Herz. 1827)
Wie es im Waldboden unter der Laub- und Nadelstreu ausschaut, wissen nur die Wurzelzwerge im Märchen, wogegen normalen Waldgängern der Tiefblick verwehrt bleibt. Es sei denn, der Sturm hat wieder mal zugeschlagen und Bäume entwurzelt. Doch wer macht sich dann schon die Mühe, die Wurzelsysteme der einzelnen Waldbaumarten eingehender zu untersuchen und miteinander zu vergleichen, etwa um daraus Rückschlüsse zu ziehen auf deren Widerstandsfähigkeit (Resilienz) im Trockenstress des Klimawandels und deren Sturmfestigkeit, damit auf die Zukunftstauglichkeit des jeweiligen Waldes? Dass es unter den Bäumen Flach- und Tiefwurzler, auch Teller-, Pfahl- und Herzwurzler gibt, dürfte noch aus der Schule bekannt sein, doch wie sich die Wurzeln der verschiedenen Baumarten, auf unterschiedlichen Böden, in unterschiedlichem Baumalter und in unterschiedlicher oberirdischer Waldgesellschaft zu entwickeln pflegen, auch wie es sich mit dem Zusammenspiel von Feinwurzeln und Mykorrhizapilzen verhält, das alles bleibt – selbst unter Wissenschaftlern – vielfach im Dunkeln. Mit der Folge, dass es nach Sturmkatastrophen oft zu recht breit gestreuten Ergebnissen kommt bei der Beurteilung der Sturmanfälligkeit der jeweiligen Baumart. War´s Wurf oder war´s Bruch, war´s Fichte oder Tanne? – im Nachhinein lässt sich oft nicht mehr klären, wie sich die Sturmholzmassen in den Statistiken zusammengesetzt haben.
Allgemein gilt die Flachwurzlerin Fichte als sturmgefährdeter als die tiefer wurzelnde Weißtanne. Umso verblüffter waren die Fachleute, als eine Auswertung der Sturmkatastrophe von 1967, durchgeführt in den Folgejahren im Rahmen einer Dissertation1, hinsichtlich der Sturmanfälligkeit von Tannen und Fichten für Süddeutschland keinerlei Unterschiede aufgezeigt hatte. Wie war es zu diesem Patt zwischen den beiden wichtigsten Nadelbaumarten gekommen, das sich so gar nicht in Einklang bringen lässt mit dem waldbaulichen Erfahrungswissen?
Auch nach den Winterorkanen Vivian und Wiebke von 1990 untersuchte man wieder die Sturmgefährdung der wichtigsten Baumarten Baden-Württembergs2; diesmal kam heraus, dass nicht zuletzt – welche Überraschung! – die Größe des Wurzelballens den Unterschied ausmacht. In Mischwäldern erwies sich freilich die Fichte eindeutig als die gefährdetste Baumart, gefolgt von der Tanne, während Kiefern und die (noch winterlich laublosen) Buchen und Eichen deutlich besser abgeschnitten hatten. Dass den Spitzenböen des Jahrhundertorkans Lothar am 26. 12. 1999 schließlich überhaupt keine Baumart mehr standgehalten hat, war die bittere Erkenntnis zum Ende des Jahrtausends.
Das Thema Sturmwurfrisiko hat die Förster nicht erst seit gestern umgetrieben. Einen erstaunlich detaillierten Einblick in Beschaffenheit und Entwicklung der Tannenwurzel hatte bereits 1950 eine (nur selten zitierte) Studie des Freiburger Waldbauprofessors von 1939 – 1952, Eduard Zentgraf, vermittelt, basierend auf Vorarbeiten (Ausgrabungen, Vermessung und Abbildungen) von zumeist im Weltkrieg gefallenen Forstleuten und erschienen unter dem Titel „Die Wurzeltracht der Edeltanne“3. Zentgraf konnte dabei auf eine stattliche Sammlung von (gezeichneten und fotografierten) Wurzelbildern zurückgreifen – vom einjährigen Tannensämling bis zum 215jährigen Stamm.
Die Wurzelentwicklung der Weiß- (oder Edel-)Tanne, das zeigten die Abbildungen, beginnt mit der Ausbildung einer Pfahlwurzel, die schon bei Sämlingen die Länge des oberirdischen Sprosses erreicht oder gar übertrifft und die lotrechte Fortsetzung des Stämmchens nach unten bis in 1,30 m Tiefe bildet, ehe sie womöglich auf ein unüberwindliches Hindernis im Boden stößt, wo es dann durchaus auch zu einem Wurzelknick kommen kann. Derweil setzt aber auch eine vehemente Horizontal- und Herzwurzelbildung ein, vielfach mit lotrechten Senkerwurzeln. In naturnahen Bergmischwäldern pflegen Weißtannen sich noch bis zum Alter 70 und darüber hinaus als sog. „Vorwüchse“ im „Schattenschlaf“ zu befinden bei stark gedrosseltem Höhen- und Dickenwachstum.
Während das oberirdische Wachstum mangels Lichtgenuss nahezu stagniert, setzt sich das Wurzelwachstum unterdessen weiter fort, sodass dann, wenn sich im Bestandesdach endlich ein Lichtschacht öffnet, die Vorwüchse los wachsen als seien sie biologisch junge Bäume. Bis ins hohe Tannenalter verbessert sich das Wurzelvermögen weiter, nicht anders als das Volumenwachstum des Stammes. Im Allgemeinen könne gesagt werden, schreibt Zentgraf, „dass das Wurzelausbreitungsvermögen der Tanne größer ist, als bei irgend einer anderen Holzart.“
So erklärt sich denn auch die überraschende Entdeckung schweizerischer Forstwissenschaftler bei der Stammanalyse einer 250jährigen Tanne aus dem Neuenburger Jura: der kapitale Baum hatte nämlich in der zweiten Hälfte seines Lebens zehnmal (!) soviel Holzwachstum erbracht wie in seinen ersten 125 Jahren. Glücklicherweise war im welschschweizerischen Jura ausgangs des 19. Jahrhunderts eine brauchbare Methode erfunden worden, wie man die Holzvorräte auch ungleichaltriger Bergmischwälder verlässlich messen und kontrollieren kann, die sog. „Kontrollmethode“ – für die Weißtanne ein wahrer Glücksfall. Denn das bis dahin übliche Verfahren, das die Forstgesetze des 19. Jahrhunderts auch in der Schweiz vorgeschrieben haben, konnte nur bei Anwendung der in Deutschlands Buchenwäldern entwickelten „Altersklassenwirtschaft“ befriedigen, bei mess- und kontrollierbaren, möglichst gleichaltrigen Reinbeständen. Was der Weißtanne gar nicht gut bekommen sollte. Riesige Arealverluste waren die Folge, denn der verordnete Waldbau nahm keinerlei Rücksicht auf die besonderen Anforderungen und Eigenheiten von ungleichaltrigen Tannenmischwäldern, vor allem nicht auf deren stufige Vertikalstruktur; denn die wird maßgeblich bestimmt durch die Schattenerträgnis von Tannen wie Buchen und durch einen säkularen „Fruchtwechsel“ zwischen laub- und nadelbaumreichen Phasen. Und noch etwas zeichnet Tannen und Buchen gleichermaßen aus: Beider Wurzeln besitzen die geheimnisvolle Fähigkeit, durch Verwachsungen Bypässe von Baum zu Baum zu legen.
Tannen, die in gleichwüchsigen Reinbeständen erwachsen sind, scheinen sich hinsichtlich ihrer Verwurzelung und ihrer Sturmstabilität immer weniger von Fichtenbeständen abzuheben. Was möglicherweise der Grund dafür ist, dass die Auswertungen nach Sturmschäden oft so widersprüchliche Ergebnisse zu Tage fördern. Zumal die überlangen walzenförmigen Tannenschäfte mit ihren kurzen Reinbestandskronen immer bruchanfälliger werden. Durch das forstgesetzliche Verbot der so weitaus tannengemäßeren, einzelstammweisen „Plenternutzung“ – oft verspottet als „Wirtschaft des Herrn Schlendrian“ – und als Folge der Altersklassenwirtschaft ist der Anteil naturnaher ungleichaltriger Mischwälder auf klägliche Reste zusammengeschmolzen. Und auch der Tannenanteil fiel selbst in Baden-Württemberg, ihrem Hauptverbreitungsgebiet in Deutschland, auf nur mehr 8 Prozent. Erst nach den 1990er Orkanen kam es zum Umdenken, ja zu einer Waldbauwende – hin zur „naturnahen Waldwirtschaft“. Im öffentlichen Wald von Staat und Kommunen war nun also auch die Plenternutzung wieder gestattet, wurde in Bergmischwäldern unter Verzicht auf Räumungsflächen und -figuren der Dauerwaldbetrieb vorgeschrieben.
Dank ihrer einzigartigen Verwurzelung ist es kaum verwunderlich, dass die Weiß- oder Edeltanne die höchsten und mächtigsten Baumgewächse Europas stellt, mit bis 60 m Höhe, mit Stammumfängen in Brusthöhe von bis zu 6 Metern und mit bis über 50 Festmetern Holzvolumen je Baum.4 „Deutschlands größte Tanne“ der Hölzlekönig maß einst alles in allem sagenhafte 64 Festmeter!
Die Wurzelpumpen nicht nur solch kapitaler Tannen erweisen sich als phänomenal leistungsstark – was ihnen auch im Stress des Klimawandels zugute kommen sollte. In den zurückliegenden Jahren mit ihren Wärmerekorden und ihrer Trockenheit haben zwar auch die Tannen Schwächen gezeigt, wurden sie plötzlich von Borkenkäferarten befallen, die zuvor kaum jemals als nennenswerte Schädlinge aufgefallen waren. Dennoch wird die Weißtanne noch immer als die heimische Ersatzbaumart für den bisherigen „Brotbaum“ der Waldwirte, die Fichte, gehandelt. Als „Schwarzwälder Charakterbaum“ und Markenzeichen auch im Bewusstsein der Bevölkerung noch tief verwurzelt, bleibt zu hoffen, dass die Tanne überleben wird – und das bitteschön nicht nur auf dem Tannenbühl in Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz.
1 Wangler, F. (1974): Die Sturmgefährdung der Wälder in Süddeutschland. Eine waldbauliche Auswertung der Sturmkatastrophe von 1967
2 Aldinger, E., Seemann, D., Konnet, V. (1996): Wurzeluntersuchungen auf Sturmwurfflächen 1990 in Baden-Württemberg. Mitt. Ver. Forstl. Standortskunde u. Forstpflanzenzüchtung 38
3 Zentgraf, E. (1950): Die Wurzeltracht der Edeltanne. AFJZ 121,2 S. 70 – 73
4 Hockenjos, W.: Tannenbäume. Eine Zukunft für Abies alba. DRW-Verl. Stuttgart 2008
Ja, der Wolf Hockenjos ist fachlich und medienmäßig gut verwurzelt und schreibt klar und deutlich.
Da darf er auch mal mit einem Märchen,dem Kohlenmunkpeter, beginnen. Hauptsache er endet nicht mit den derzeitigen Waldmärchen von Deutschlands berühmtestem Medienförster ,dem Wohllebennpeter .:wink::wink: