Hausrunde

Hausrunde

25. November 2023 1 Von Wolf Hockenjos

Um in ein siebenstöckiges Hochhaus überzusiedeln, in einen Klotz in Stadtrandlage, dazu brauchte es mehr als nur die Überzeugungskraft einer willensstarken Ehefrau – zumal bei einem eingefleischten Waldmenschen, der kurz vor seiner Pensionierung steht. Um ihn dafür zu gewinnen, mussten fraglos noch ein paar weitere Lockmittel eingesetzt werden. Dabei hätte eigentlich bereits ein erster Blick aus der  südseitigen Fensterfront im 6. Stock genügt haben müssen, liegt einem da doch – wow! – die halbe Baar zu Füßen: Gegen Osten begrenzt durch die Schwäbische Alb, gegen Südosten durch Warten- und Fürstenberg sowie durch die von einem TV-Umsetzer und einem Windrad gekrönten Länge (die Badische Alb), weiter südwärts dann über dem Stadtzentrum durch den Eichbergrücken, schließlich durch die Schwelle des Auenbergs mit seiner unverwechselbaren Baumreihe und mit Baden-Württembergs ältestem Windrad – und darüber bei klarer Sicht: die gezackten Eisriesen des Berner Oberlands! Wie hässlich darf da ein siebenstöckiger weißgrauer Plattenbau sein (Donaueschingens „städtebaulicher Akzent“ aus den späten 1970er Jahre), um den Charme einer Wohnung mit Alpensicht aufzuwiegen? Und das auch noch bei all den Vorzügen der gebüschreichen Stadtrandlage, wo man im Frühling vom Vogelkonzert geweckt wird und  wo vor dem Fenster, fast zum Greifen nah, noch Rot- und Schwarzmilane herumgaukeln, die Charaktervögel der Baar. 

Wohnlage mit Alpensicht überm Auenberg

Als ob damals im Untergeschoss nicht auch noch eine öffentliche Sauna und ein Schwimmbecken den Ruheständler gelockt hätten. Und knapp nebenan erstreckt sich der Buchbergwald, der zum Joggen einlädt. Derweil für den Radler hier ein nichtöffentliches Teersträßchen einmündet, ein ideales Ausfalltor ins Radwegenetz abseits des Verkehrstrubels. Was also sprach da letztlich noch gegen das Wagnis, das bisherige Försterbiotop gegen ein Hochhaus-Soziotop einzutauschen; selbst wenn auf Klingelleiste und Briefkästen die Namen fremdländischen Ursprungs zu überwiegen schienen?

Inzwischen genießen sie ihren „Adlerhorst“ da oben schon gut und gern zwei Jahrzehnte lang. Der Ruhestand als lauschige Blockhaus-Idylle am Waldesrand mit Dackel und geschulterter Büchse, wovon er vielleicht irgendwann mal geträumt haben mag, ist längst kein Thema mehr – man hat sich eingelebt, genießt die Vorzüge, auch wenn der Saunabetrieb längst eingestellt und das Schwimmbecken aus Sparsamkeits- und Umweltgründen seit Jahren trockengelegt ist. Das Miteinander der Hausbewohner, Mieter wie Eigentümer, hat sich als denkbar unkompliziert erwiesen: Man grüßt sich im Treppenhaus, auch wenn einem die Namen längst nicht alle präsent sind, und zuweilen ergibt sich sogar ein zwangloser gutnachbarschaftlicher Smalltalk. Oder man beklagt sich gemeinsam, wenn der Fahrstuhl oder die Heizung mal wieder streikt. Ansonsten genießt man die Lärmdämmung der Wände oder schimpft allenfalls auf Laubbläser und Rasenmäher im Viertel oder auf den Straßenlärm bei geöffneter Balkontür. Die alljährlichen Eigentümerversammlungen, einberufen von der Hausverwaltung, verlaufen alles in allem vergleichsweise friedlich, zumal die Ehefrau ja auch so gewinnend wie resolut das Ehrenamt einer Beirätin versieht. 


Bestens vernetzt sieht sich indes auch der radelnde Ruheständler angesichts all der Varianten für seine Runden über die Baar hinweg; in den Sommermonaten lockt allemal der Abstecher an den Riedsee, wo er seit Jahren ein und dieselbe Einstiegsnische bevorzugt, begrüßt von seinen gefiederten Freunden, den Haubentauchern und Schwänen, sowie von einer von Jahr zu Jahr üppigeren  Seerosenpracht. Sein Drahtesel ist unterdessen vom schlichten Rennrad zu einem höchst feudalen Mountainbike mit E-Motor mutiert – dessen Anschaffung  freilich nicht ohne den fürsorglichen Nachdruck seiner besseren Hälfte erfolgt war, denn gegen eine Unterstützung aus der Steckdose hatte er sich stets entschieden verwahrt. Doch mittlerweile muss auch er Alter und Gesundheit Tribut zollen und an Anstiegen seine Pulsfrequenz zügeln. Zumal wenn der Ausritt etwa durchs Gnadental hinauf auf die Länge führt oder gar in den Schwarzwald – ganz zu schweigen von den altgewohnten winterlichen Skilanglauf-Eskapaden.

Auf der Hausrunde durch den Buchberg

Was natürlich ebenso für seine Jogging-Hausrunde durch den stadtnahen Buchbergwald gilt, bei welcher er sich inzwischen zu moderaterer Gangart genötigt sieht. Doch noch immer durcheilt er jetzt flotten Schrittes den ihm so vertrauten Wald, wann immer gerade kein Radwetter herrscht. Dankbar benutzt er dabei, nicht anders als vor ihm schon so viele Generationen von Waldbesuchern, die schmalen Fußpfade, die von seinen forstlichen Berufskollegen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Wohle der Stadtmenschen angelegt worden sind, während man breitere Waldwege da und dort sogar der Ästhetik wegen mit Linden bepflanzt hatte. Anders als noch beim Joggen pflegt ihm nun keine Veränderung mehr zu entgehen, sei es beim jahreszeitlichen Wandel der Bodenflora, seien es die jüngsten waldwirtschaftlichen Eingriffe. Mit geradezu kindlicher Freude und Genugtuung verfolgt er unterwegs die alljährlichen Wachstumsschübe in der Tännchen-Kita, wo er sich doch ein Berufsleben lang für das Wohl der Weißtanne eingesetzt hatte.

Tännchen-Kita unter einer Buchberg-Buche

Die Erinnerung an denkwürdige Fuchsjagden wird im Fürstenbergischen hochgehalten: Ein Gedenkstein erinnert im Donaueschinger Stadtwalddistrikt Buchberg an des Fürsten Karl Egon letzte Fuchsjagd (am 29. Februar 1892). Seinen – sage und schreibe –  eintausendsten (!) Fuchs hat Wilhelm II. 1908 am Schellenberg westlich der Residenz erlegt, wie einer in einen Granitblock eingelassenen (inzwischen entwendeten) Bronzetafel zu entnehmen war. Die „Kaiserjagden“ auf Füchse gehörten zu den Höhepunkten des Donaueschinger Jagdjahrs. An ihnen nahm nicht selten als prominentester Jagdgast und enger Freund der Fürstlichen Familie auch Kaiser Wilhelm II. teil; insgesamt vierzehnmal war der kaiserliche Jagdgast zu Besuch. Die Höchststrecken je Jagdtag betrugen bis zu vierzig Füchse!

Kürzlich hat ihm seine besorgte Frau – sicherheitshalber – ein Smartphone aufgedrängt; das nutzt er seitdem fleißig auch auf seiner Hausrunde, freilich nur, um allfällige Waldmotive im jahreszeitlichen Wandel festzuhalten. Noch nie ist einem im Sportdress das Fotografieren ja so leicht gemacht worden, und das bei Tiefenschärfe und Brillanz von vorne bis hinten raus, unverwackelt selbst noch im Dämmerlicht des Waldes. Nicht zu glauben, dass er sich damals als Forstamtschef sogar noch strikt geweigert hatte, ein Diensthandy in der Tasche mitzuführen! Wer im Wald was von ihm wollte, solle sich doch bitteschön bei der Sekretärin erkundigen, wann er am Schreibtisch wieder anzutreffen ist.

Der Schlussspurt nach absolvierter Joggingrunde hatte vormals noch das Treppenhaus hinauf bis in den 6. Stock zu erfolgen. Doch auch dabei geht es unterdessen ruhiger zu, auch wenn er sich noch immer dazu zwingt, freiwillig auf den Fahrstuhl zu verzichten, ob nach absolvierter Buchbergrunde oder beim allmorgendlichen Gang zum Briefkasten, um die Zeitung zu holen. Spätestens ab dem 4. Stock beginnt er, heftiger durchzuatmen und Sauerstoffschuld zu verspüren – für ihn jedoch ein unverzichtbarer Trainingsimpuls. Der Umzug damals ins Hochhaus: was für ein Glücksfall!