(Draht-)Eseleien

(Draht-)Eseleien

9. Januar 2023 0 Von Wolf Hockenjos

Ach, das gute alte Fahrrad. Es war die letzte große technische Erneuerung, bei der die Ursache-Wirkung-Relation noch in Ketten lag, statt sich in einer Kettenreaktion zu entfesseln. (Probst, M.: Der Drahtesel – die letzte humane Technik. In: Die Philosophie des Radfahrens. mairisch verl. 2010) 

Radfahren kann bekanntlich zur Leidenschaft ausarten. Mich hat sie schon seit den ersten Fahrversuchen im Griff, damals in einer Karlsruher Schrebergartensiedlung, angeschoben vom noch rüstigen Großvater mütterlicherseits. Weil meine Beine noch nicht bis auf die Pedale herunter reichten, hatte er mir, an Stelle des Sattels, oben um die Rahmenstange herum zur Polsterung eine Decke gewickelt. Wie und wo er das schwarz lackierte Vorkriegsmodell mit Gesundheitslenker und Rücktrittsbremse aufgetrieben hatte, war sein Geheimnis; ein Fahrrad zu organisieren, war in der noch arg ramponierten badischen Nachkriegsmetropole gewiss kein leichtes Unterfangen gewesen. Unauslöschlich ist mir in Erinnerung geblieben, wie er anfangs, nach einem fast unmerklichen Schubs, neben dem um Balance ringenden Enkel noch ein Stück weit her rannte. Auch die ersten Radausflüge finden sich im Langzeitgedächtnis abgespeichert: aus der Stadt hinaus gondelnd bis an die Altrheinarme und wieder zurück in die Gottesauerstraße, wo wir in den großen Ferien Stadtluft schnuppern durften. Der Picknickkorb auf dem Gepäckträger des Großvaters enthielt, so meine ich mich zu erinnern, immer auch die köstlichen selbst nachgezogenen, von der Oma eingelegten Essiggurken aus dem Schrebergärtchen – die Tomaten hingegen verschmähe ich bis zum heutigen Tag.

Ob einem die Lust am Radeln sogar mit den Genen vererbt wird? Im Frankreichfeldzug hatte der Vater einen Radfahrerzug befehligt, und noch im russischen Winter schoben sie ihre Fahrräder durch knietiefen Schnee. Als ob da eine Skiausrüstung nicht sehr viel hilfreicher gewesen wäre, doch die Oberste Heeresleitung hatte ja rechtzeitig vor Wintereinbruch noch Moskau einnehmen wollen. Ein braves Durlacher Gritzner-Modell hatte Krieg und Gefangenschaft überlebt und wurde vom Vater selbst in der Wirtschaftswunderzeit noch über die Maßen gelobt und gepriesen, auch noch, als es längst mit platten Reifen im St. Märgener Forstamtskeller verstaubte.

Per Rad durch den russischen Winter

Auch für die Söhne sollten sich die früh erlernten Fahrkünste als überaus nützlich, ja, als unverzichtbar erweisen, spätestens ab dem Besuch des Freiburger Keplergymnasiums und mit dem Wechsel in unser „Zwing-Uri“, ins verhasste Schülerheim auf dem Lorettoberg: Nicht nur bei den täglichen Schulfahrten quer durch die zu Teilen noch in Trümmern liegende Stadt nach Herdern hinaus, sondern vor allem übers Wochenende. Denn die Familie wohnte oben in St. Märgen, und der Kraftpostbus nachhause, montags dann wieder runter in die Niederungen der Stadt kam allenfalls bei Schneelage in Betracht. Samstags, kaum war die letzte Unterrichtsstunde überstanden, schwangen sich die drei Brüder auf ihre Räder, um nachhause zu strampeln: Knapp 30 Kilometer und 700 Höhenmeter galt es zu bewältigen, und dies anfangs noch gänzlich ohne, später immerhin mit Unterstützung einer Dreigang-Nabenschaltung. Nein, wir sattelten damals beileibe noch keine Sporträder, sondern schwergewichtige „Böcke“, „Tourenschüttler“, „Göppel“, „Drahtesel“, wie wir sie eher abschätzig nannten. Heimwärts fuhren wir nur ausnahmsweise im Team, denn jeder der Drei bevorzugte eine andere (vermeintlich vorteilhaftere) Routenvariante, sei es über Eschbach und St. Peter, sei es über Himmelreich und Wagensteig mit Schlussanstieg den Ohmenberg hinauf. Wobei auch die Abkürzung der Serpentinen, das Rad schiebend auf dem steilen Kirchweg, durchaus nicht zwingend darüber entschied, wer als Erster, Zweiter oder Letzter das St. Märgener Forsthaus erreichte, wo das Mittagessen wartete. „Wer sein Rad liebt, der schiebt“, so pflegte man seinerzeit zu scherzen, wenn einem beim Strampeln „per Knochengas und Kniezündung“ doch einmal die Leistungsgrenzen aufgezeigt wurden.

Ganz anders montags in aller Herrgottsfrühe: Da pflegten sich die Brüder nach Kamikaze-Art, einer den Windschatten des andern suchend, ins Dreisamtal hinab zu stürzen. Sieger war, wer mit den wenigsten Bremsvorgängen in Wagensteig oder Eschbach unten ankam. Risiko hin oder her: wir fühlten uns da bisweilen wie zu allem entschlossene Desperados, wo doch schon in der zweiten Schulstunde der Lateinunterricht drohte mit der latenten Gefahr, beim Vokabelabhören drangenommen zu werden. Noch gefürchteter die Mathestunde, in der man womöglich wieder mal wie der Ochs vorm Berg vorne an der Tafel stand! Derart demotiviert, konnten auch (rettende?) Stürze nicht ausbleiben – und das in jener grauen Vorzeit, als noch nicht einmal Profis brauchbare Helme trugen. Zum Glück ging es meist mit Schrammen ab, doch einmal kostete es mich den Schneidezahn, als ich, in windschlüpfriger Sitzposition flach über den Lenker gebeugt, unweit St. Peter ein Schlagloch übersah. 

Unsere Räder ließen sich erst ab der Oberstufe peu à peu nachrüsten, mal mit einem leichterem Rahmen und schmaleren Felgen, mal mit Lenkstangen, die mehr und mehr „Rennlenkern“ glichen, schließlich sogar mit einer veritablen Dreigangschaltung; das dafür benötigte Taschengeld verdienten wir uns in den Ferien mit leichteren Waldarbeiten, mit Pflanzensetzen oder Kulturreinigen, später auch im Akkord mit dem Bau von Pirschpfaden quer durch steile Staatswaldhänge. 

Nach geglücktem Abi und absolviertem Wehrdienst beschloss ich, in Freiburg Forstwissenschaft zu studieren – ein Entschluss, den ich bestimmt nicht aus übertriebener Sympathie für den Karlsruher Forstmann und Erfinder, den Freiherrn Karl von Drais, gefasst hatte. Immerhin versprach ich mir vom Forstberuf die Chance, den Skilanglauf weiter betreiben zu können, nachdem sich in der Schulzeit erste Wettkampferfolge eingestellt hatten – nicht zuletzt dank Radlerlunge, eines Ausdauer-trainierten Herz-Kreislaufsystems und gestählter Oberschenkelmuskulatur nach all den samstäglichen Familienheimfahrten steil bergan.

Die Vorliebe fürs Radfahren sollte dann auch das Berufsleben überdauern; nicht etwa nur nach Dienstschluss und am Wochenende, sondern gelegentlich sogar in Ausübung von Amt und Ehrenämtern. Im Urlaub war es dann der Mont Ventoux, der einen herausforderte, der mythische Berg aller echten Rennrad-Fans. Doch die schneearmen 1990erJahre hatten, aus den USA herüberschwappend, zu einem Boom der stollenbereiften Mountainbikes geführt, auf die nun vorzugsweise auch die frustrierten Wintersportler umstiegen, um damit durch Wald und Flur zu brettern. Mit bis zu 24 Gängen (drei Kettenblätter vorne, acht Ritzel hinten) waren jetzt ja selbst giftigste Steigungen zu bewältigen. Weil auch Fußpfade lockten und die Konflikte mit fußläufigen Erholungssuchenden sich häuften, wurde im novellierten Landeswaldgesetz eigens eine 2-Meter-Regel festgeschrieben: Danach war Radfahren im Wald nur mehr auf über 2 Meter breiten Waldwegen erlaubt, es sei denn auf speziell ausgewiesenen und markierten, vom Waldeigentümer zu genehmigenden „Singletrails“. Die Regelung sollte sich freilich, da kaum kontrollierbar, als ziemlich unwirksam erweisen, zumal die Radfahr- und Tourismusverbände in Stuttgart mit Petitionen dagegen Sturm liefen. Selbst die Lobby der Wanderer, der Schwarzwaldverein, begann sich mit den Bergradlern zu arrangieren. Lediglich für motorisierte Zweiradfahrer blieb der Wald einstweilen noch tabu.

Auf Waldwegen nach der 2-Meter-Regel und mit 24 Gängen

Nach anfänglichem Zaudern hatte sich auch der Villinger Forstamtsleiter ein Mountainbike zugelegt, mit dem sich praktischerweise sogar manches Dienstgeschäft erledigen ließ, so etwa der Holzverkauf an einen nicht minder radenthusiastischen Kunden – dies, wohlgemerkt, stets unter Einhaltung der forstgesetzlichen 2-Meter-Regelung! Was eigentlich ja auch keine Einschränkung bedeuten sollte, wo das Forstwegenetz Baden-Württembergs doch – sage und schreibe – 87.000 Kilometer umfasst, soviel wie zweimal um den Äquator herum. Anlässlich der Pensionierung im Jahr 2005 wurde mir vom Personalratsvorsitzenden als Abschiedsgeschenk das opulente holzgeschnitzte Halbrelief eines künstlerisch begabten Mitarbeiters überreicht: physiognomisch unverkennbar, in Forstuniform mit Fernglas vor der Brust und lässig auf dem Sattel eines Mountainbikes hockend – der Chef. 

Im Dienst per MTB

Den Ruhestand verbringe ich seitdem auf der Baar, radtouristisch betrachtet ein kaum zu überbietendes Eldorado: versehen mit dem topographischen Vorzug flacher, seniorengerechter Einrollstrecken und sodann, je nach Wetter, Lust und Laune, mit schier unerschöpflichen Möglichkeiten zu anspruchsvolleren Touren, wahlweise in den angrenzenden Schwarzwald, auf die Alb oder in den Hegau, selbst der Bodensee lockt in erreichbarer Entfernung, ob auf Asphalt per Rennrad oder per MTB. Klar, dass dabei im Lauf der Jahre auch der eine oder andere Sturz noch zu verkraften war, der „Abstieg über die Lenkstange“, wie es im Radlerjargon verharmlosend heißt. Doch auch ein solches Missgeschick konnte das Radvergnügen nicht nachhaltig trüben.

Als erholsames Kontrastprogramm bietet sich dem Baarbewohner der weithin verkehrsfreie und flach verlaufende Donauradweg an, auf dem sich in der Radsaison erfreulicherweise mehr und mehr Radtouristen drängeln – und wo man inzwischen Zeuge einer erstaunlichen Entwicklung wird: Immer häufiger begegnen einem hier, zumeist dick eingemummt gegen den Fahrtwind, vorwiegend Seniorenradler, die dank Elektroantrieb in bemerkenswert flottem Tempo donauabwärts rollen, als hätten sie es brandeilig, nach Sigmaringen, Wien, Budapest oder ans Schwarze Meer zu gelangen. An manchen Sommertagen scheinen derzeit schon bis zu 70 Prozent der Donau-Radler mit E-Motor im klobigen und surrenden Tretlager unterwegs zu sein – ein wahrhaft verblüffender Trend, der längst auch beim alljährlichen Check im örtlichen Radgeschäft nicht mehr zu übersehen ist: Wo einst Touren- und Rennräder, Mountain-, City- und Trekkingbikes in der Auslage standen, überwiegen längst die um soviel profitableren Pedelecs (generalisierend E-Bikes genannt). Versprechen sich deren Käufer einen ganz neuen Lustgewinn, oder worin sonst besteht der Anreiz zur Motorisierung?

Die motorisierten Donauradler

Man hätte es vorausahnen können: „Entschleunigung“, „die Entdeckung der Langsamkeit“, Genussradeln im Bummeltempo, bergaufwärts gar mit Absteigen und Schieben: vorbei, vorbei! Die Branche setzt auf lustvolles Beschleunigen mit Hilfe der neuen Batterie-getriebenen Deluxe-Klasse, auf die neue Bequemlichkeit, auf unangestrengtes Fahrvergnügen! Und die Wohlstandsgesellschaft fährt voll darauf ab. Es lebe der Öko-Trend der E-Motorisierung, und wo sich schon bei den vierrädrigen Verkehrsmitteln nicht genug tut, so nun doch wenigstens beim Zweirad! Das Bekenntnis zur Energiewende will zur Schau getragen werden – weshalb nicht auch mit der Batterie am Rahmen? Wo doch all die Solardächer, die agrarindustriellen Biogasbetriebe und Windkraftanlagen, wie sie neuerdings auch auf der Baar den Horizont verstellen, genutzt sein wollen. Egal, was über Nacht tatsächlich aus der Steckdose in die Millionen Akkus fließt, mag der Strom-Mix (nicht nur bei „Dunkelflaute“) aus noch so diffusen Quellen stammen: Hauptsache, das Fahrrad gewinnt neue Freunde, und der Berufstätige holt morgens nicht mehr den SUV aus der Garage, sondern sein E-Bike!

Der verkehrs-, umwelt- und energiepolitische Zweck der Treibhausgasverminderung heilige jedes Mittel, hören wir von allen Seiten. Laufe ich nächstens also Gefahr, zum heillosen Nostalgiker und elitären Nörgler zu werden, wenn ich Verzicht übe und mich weiterhin auf mein „gutes altes Fahrrad“ schwinge? Und sind es womöglich Neidattacken, die in mir hoch kochen wollen, ist es der pure Verdruss, wenn ich, schnaufend und schwitzend in den Steigungen, von der motorisierten Konkurrenz scheinbar mühelos abgehängt werde, nicht selten mitleidig belächelt von hoch betagten E-Bike-Paaren? 

Wo mittlerweile doch selbst die Mountainbike-Szene nachzurüsten pflegt. Rudelweise strampeln sie –  beneidenswert locker und unangestrengt – über die Schwarzwaldhöhen, mitunter sogar geführte Touristengruppen mit Kameras auf den Helmen. „Doping aus der Steckdose“, so hat DER SPIEGEL schon vor Jahren (20/2015) seinen Bericht über die forcierten Bemühungen der E-Bike-Produzenten überschrieben, den Markt endlich „raus aus der Geriatrieecke“ zu steuern. Derweil preist der Tourismusverband des Hochschwarzwalds seinen neu geschaffenen „Gipfeltrail“ an; für allfällige Rettungseinsätze sind auf den Markierungen jeweils Standortskoordinaten und Rufnummer der Bergwacht vermerkt.

Regelwidrig durch den Wald

Im Wald sei das Fahren mit Elektromotor wie mit allen sonstigen Motorfahrzeugen unzulässig, es sei denn, der Waldbesitzer erteile dazu die Genehmigung. So hatte noch anno 2009 der Stuttgarter Forstminister den besorgten Präsidenten des Schwarzwaldvereins beschwichtigt. Damals hatte sich die Besorgnis der Wanderfreunde ob der neuen Konkurrenz freilich als verfrüht herausgestellt, hatte sie doch einem Vehikel gegolten, das, zumindest als Outdoor-Vergnügen, alsbald zum Flop geraten sollte: dem von einem E-Motor angetriebenen Einachsroller namens Segway. Dem (technisch genialen, computergesteuerten) Gefährt hatte man manchenorts sogar schon eine Revolutionierung des Straßenverkehrs zugetraut, erst recht einen neuen Schub für den Tourismus: „Kirschtorte meets Segway. Wir starten die Tour am Klettergarten Action Forest & schweben um den Titisee herum“, so las es sich seinerzeit im Angebot des Online-Reisebüros Schwarzwald-Reisen. Doch es blieb beim Nischenprodukt, zu besichtigen allenfalls bei der Flughafenpolizei und anderen Spezialanwendern, die per Segway durch Gänge und über Plätze  zu schweben pflegen. Inzwischen aber boomt der Elektromotor anderswo – und keiner wird mehr in Stuttgart die Frage nach seiner Zulässigkeit beim Befahren von Waldwegen stellen wollen.

Wie eigentlich erkläre ich mir selbst meine langjährigen Irritationen ob all der Neuentwicklungen, meine in Gesellschaftskritik verpackten miesepetrigen Einwürfe gegen die elektrifizierte neue Fahrlust? Dass auch ich dereinst umsteigen würde, hatte mir lang genug schon meine ob meiner gesundheitlichen Verfassung zunehmend besorgte Frau prophezeit: Spätestens, wenn ich noch ein paar Jahre älter und noch ein bisschen hinfälliger geworden sein würde. Und nun also ist es  tatsächlich passiert: Jetzt brause auch ich auf einem akkubetriebenen Gerät, schwer wie ein Leichtmotorrad, durch die Baar. Oder hätte ich am Ende nicht doch besser noch ein Weilchen zuwarten sollen: bis zur ultimativen Lösung auf dem Fahrradmarkt – dem vollautonomen, selbstfahrenden Drahtesel?