Der überwachte Wald
Ob zur Beobachtung von Wild oder Eindringlingen: Eine moderne Wildkamera hat vielseitige Einsatzmöglichkeiten. Die Foto- und Videoqualität der Geräte wird ständig verbessert. Geräte für Full-HD-Aufnahmen gehören heute zum guten Standard und sind günstig zu haben. Besonders clevere Geräte verfügen über eine SIM-Karte. Löst der Bewegungsmelder das Gerät aus, wird das Foto nicht nur gespeichert, sondern direkt an Ihr E-Mail-Postfach geschickt. (Internet Werbetext)
Wer sich als Weidmann oder Weidfrau auf der Höhe der Zeit wähnt, kommt längst nicht mehr ohne Wildkamera aus. Denn deren Einsatz erspart Zeit, erhöht die jagdliche Effizienz und verspricht vielerlei neue Einblicke ins eigene Revier. Die waldgrün camouflierte Kamera, gut getarnt angebracht an der Kirrung in Schussweite zur Kanzel, überwacht rund um die Uhr nicht nur das Wild. Sie verzeichnet auch „Beifänge“, ob vier- oder zweibeinige „Eindringlinge“. Was bisweilen auch schon zu Datenschutz-Komplikationen und zu juristischen Auseinandersetzungen geführt hat – nicht nur im Falle des in flagranti eingefangenen Schäferstündchens eines österreichischen Kommunalpolitikers. Pech gehabt, doch mit elektronischer Überwachung ist nun einmal nicht mehr nur auf Bahnsteigen oder vor dem Banktresen zu rechnen, sondern auch im Wald. Die Verlockung, sich beim edlen Waidwerk der Kameraunterstützung zu bedienen, scheint schier unwiderstehlich zu sein; ihr Einsatz muss ja nicht immer gleich in voyeuristische Peepshows ausarten. „Behalten Sie mit der SnapShot Ihr Revier im Auge“, so wird im Netz dafür geworben, „Beste Qualität und Top Service. Hochwertiges Jagd- und Outdoorzubehör jetzt günstig online bestellen. Versand in 3 Tagen.“ Wer als Kulturflüchter oder harmloser Pilzsammler, gar als jagdfeindlicher Aktivist in die Fotofalle tappt, wird es zumeist gar nicht registrieren: Der Schwarzbildblitz ist fürs menschliche wie für das tierische Auge unsichtbar.
Mag sein, der Kamera-Boom ist nicht zuletzt durch die gefürchtete Afrikanische Schweinepest ausgelöst worden, vom verzweifelten Bemühen der Jägerschaft, den expandierenden Schwarzwildbestand samt dessen Flurschäden zu reduzieren und das Vordringen der Seuche doch noch zu stoppen. Oder liegt es eher an der ungebremsten Ausbreitungsdynamik des Beutekonkurrenten der Jäger und des Erzfeinds aller Nutztierhalter, des Wolfs? Klar, was technisch machbar und (bei einem Stückpreis ab nicht einmal 100 Euro) allemal bezahlbar ist, wird auch verwendet: Allein in Rheinland-Pfalz wird die Zahl der in Wald und Flur im Einsatz befindlichen Wildkameras derzeit auf ca. 30.000 geschätzt, Dunkelziffer exklusive! Bis zum Jagdjahr 2018 mussten sie nach Bundesdatenschutzgesetz noch dem jeweiligen Datenschutzzentrum gemeldet werden, weil der deutsche Wald nach Waldgesetz ja „zum Zwecke der Erholung“ betreten werden darf, mithin ein „öffentlich zugänglicher Raum“ ist. Inzwischen ist die Meldepflicht jedoch entfallen, klärt der Landesjagdverband seine Mitglieder auf, vorausgesetzt jedenfalls „die Kamera ist zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für konkrete Zwecke erforderlich und es bestehen keine Anhaltspunkte, dass schutzwürdige Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheit der abgelichteten Personen überwiegen.“
Abgeleitet wird „das berechtigte Interesse“ der Jagdausübungsberechtigten nicht nur aus ihrer Hegeverpflichtung (nach § 3 Abs. 1 des Jagd- und Wildtiermanagementgesetzes), sondern auch aus ihrer Mitwirkung an Wildtiermonitorings im Rahmen von wissenschaftlichen Projekten. Weil gekennzeichnete jagdbetriebliche Einrichtungen wie Kirrungen und Hochsitze nicht betreten werden dürfen, empfiehlt der Verband die Anbringung von Hinweisschildern: tunlichst so, dass die Kamera unentdeckt bleibt und nicht gestohlen wird. Und wer sie einsetzt wird überdies ermahnt, Personenaufnahmen unverzüglich zu löschen, da es sich dabei um personenbezogene Daten handle, „die unter dem besonderen Schutz der Datenschutzgrundverordnung stehen“, außerdem könnten Persönlichkeitsrechte betroffen sein. Schließlich sei auch zu beachten, dass in manchen Revieren, „insbesondere in staatlichen Forsten, der Einsatz den Wildkameras per jagdbetrieblicher Anweisung grundsätzlich untersagt“ und zu klären sei. Der Staatsforst als Spielverderber: Was mag es heute noch für Gründe geben, die Kameraverwendung zu untersagen?
Dass auch die Wissenschaft sich dieses Hilfsmittels bedient bei ihren wildbiologischen Forschungs- und Monitoring-Aufgaben, versteht sich von selbst. So zum Nachweis von Wildtierkorridoren, zur Erfolgskontrolle bei Straßendurchlässen oder Grünbrücken. Nach Auskunft der für das Wildtiermonitoring zuständigen Freiburger Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt (FVA) werden derzeit beinahe wöchentlich fotografische Nachweise der hochschwarzwälder Wolfsfamilie samt Nachwuchs geliefert. Wo das FVA-Team selbst Wildkameras benutzt, ist es gehalten, Warnschilder anzubringen mit Hinweisen auf Kontakte, Rechtsgrundlage und den Umgang mit den Daten.
Bereits seit dem Jahr 2004 wird mit erheblichem personellen und finanziellen Aufwand auch ein Luchs-Monitoring betrieben, seitdem in Baden-Württemberg immer wieder einzelne männliche Luchse aus der benachbarten Schweiz gesichtet wurden; nächstens startet im Schwarzwald sogar ein Bestandesstützungsprojekt mit Auswilderung junger weiblicher Tiere. Das Team, erweitert um ein Netz von Wildtierbeauftragten, müht sich schon bisher um engsten Kontakt zu den pinselohrigen Einwanderern, und immer wieder gelingt es ihm, sie mit Halsbandsendern auszustatten und danach auf ihren Wanderungen kreuz und quer durchs Land zu begleiten. Solange jedenfalls, bis die Batterie des Senders erschöpft ist oder das Halsband sich an der Sollbruchstelle gelöst hat. Dann ist es an der Zeit, die große Katze wieder einzufangen und erneut zu besendern. Auch hierbei ist die Wildkamera wieder unverzichtbar: In der Regel wird die mit digitalem Fallenmelder verbundene Lebendfalle an einem frisch entdeckten Luchsriss aufgestellt. Schnappt sie zu und ist der Luchs gefangen, meldet sich vollautomatisch das Smartphone samt Bildsequenz, sodass eilends die Telefonkette des Fangteams in Gang gesetzt werden kann. Der Gefangene wird schnellstmöglich mit dem Blasrohr betäubt, mit Senderhalsband versehen (bzw. dieses mit neuer Batterie ausgestattet) und sodann, nach einem Gesundheits-Check, wieder in die freie Wildbahn entlassen. Dann nimmt das Team erneut die Verfolgung auf, per Kreuzpeilung und VHF-Technik sowie per GPS im Halsband, wie auch in analoger Form vor Ort durch das Aufsuchen von Rissen und das Analysieren des Beutespektrums, des Bewegungsmusters und des bezogenen Lebensraums.
Mit dem Einsatz der Wildkameras lassen sich, wie es ausschaut, dem Wald und seinen Bewohnern die letzten Geheimnisse entlocken, zumal Einblicke in das Treiben nachtaktiver Wildtierarten. Womit sich der jägerische Informationsgewinn fraglos enorm steigern lässt. Doch wie wirkt sich die rasch zunehmende Kameradichte auf den Waldbesucher aus? Sieht auch er sich mehr und mehr beobachtet, gar überwacht – wo ihm der Wald doch bislang auch als vergleichsweise heilsamer und diskreter Fluchtort diente, als tröstende Gegenwelt angesichts der hektischen Turbulenz des urbanen Alltags mitsamt all seiner digitalen Überflutung? Sinkt der (gefühlte?) Erlebniswert, wenn der mit Kameras bestückte Seelentröster seine Geheimnisse preiszugeben genötigt wird? Gibt es ihn überhaupt noch, den geheimnisvollen Wald, den Märchenwald unserer Kindheit?
Und unter Jäger*innen nachgefragt: Ist beim Einsatz all der elektronischen Hilfsmittel, von der automatischen Wildkamera mit Nachtsicht bis zur Handyübertragung, von der GPS-Ortung bis zur Tierfundkataster-App und zum Drohneneinsatz nicht irgendwann ein Sättigungspunkt erreicht, ab dem das Jagen an Reiz verliert? Ab dem die Überreste des archaischen Jagdtriebs mitsamt dem jägerischen Naturerlebnis vollends erdrückt werden vom immer exzessiveren Gebrauch digitaler Technik auf der Pirsch wie auf der Kanzel?