Der Gott im Baum
Der Balzer Herrgott – auch Winkelherrgott genannt – ist eine in eine Weidbuche eingewachsene steinerne Christusfigur im mittleren Schwarzwald zwischen Wildgutach und Neukirch-Fallengrund (Baden-Württemberg). Er ist Ziel vieler Wanderer und Spaziergänger und gilt einigen als Wallfahrtsort. Entstehung und Herkunft sind bis heute nicht vollständig geklärt. (Wikipedia)
Über etliche Jahre hinweg hatte ich ihn nicht mehr besucht. Doch dann rief mich eine Journalistin des SWR an, ob ich nicht für Dreharbeiten zur Verfügung stünde, wo ich doch verschiedentlich schon über den Balzer Herrgott geschrieben hätte. An Allerheiligen wolle der Sender einen Bericht über ihn bringen. Mit meiner Zusage habe ich kurz gezögert, schließlich überwog jedoch die Neugier, wie sich die Buche mit dem eingewachsenen sandsteinernen Corpus mittlerweile präsentieren würde. Seit mit baumchirurgischen Maßnahmen versucht worden war, den natürlichen Prozess der Überwallung aufzuhalten, um das beliebte Wanderziel nicht vollends einwachsen zu lassen, war ich zu ihm auf Distanz gegangen.
Früher hatte auch ich ihn, zwar nicht als Wallfahrer, immer wieder einmal aufgesucht. Erstmals war es in den frühen 1950er Jahren, als der Vater, seinerzeit Forstamtschef in St. Märgen, mit seinen Söhnen durch das Steinbach- und das Wildgutachtal hinüber wanderte, um das Naturwunder zu bestaunen. Dessen Vorgeschichte hatte er da bereits nachgespürt, wobei er auf die unterschiedlichsten Erzählungen der Einheimischen, der „Wälder“, gestoßen war. Was daran war „dichtende Volksüberlieferung“, was würde historisch belegbar sein? Vom Hofkreuz war da die Rede, das einst am Gütlein des Winkel-Balzers (Balthasars) gestanden habe, welches ausgangs des 19. Jahrhunderts vom Staat aufgekauft, abgerissen und aufgeforstet worden sei. Oder stand das Kreuz zuvor am Königenhof drüben im Wagnerstal, der in jener schaurigen Februarnacht des Jahres 1844 unter die „Schneeschalte“ geraten war, ein Lawinenunglück, das 17 Todesopfer gefordert hatte? Doch wie sollte es dorthin gelangt sein, in dieses abgelegene, jetzt gottverlassene Loch? Etwa durch französisches Militär in den Erbfolgekriegen oder durch Hugenotten, wie gerätselt wurde? Und wer sollte aus welchem Grund das schwere Kreuz mit dem spätgotischen Corpus ins Hexenloch hinab und dann das Brenners- oder das Mörderloch hinauf zum Winkel geschleppt haben? Egal, irgendwann müsse das Kruzifix umgestoßen, der Gekreuzigte dabei stark beschädigt worden sein, ehe Hirtenbuben es reumütig wieder aufgerichtet und an den Stamm einer Weidbuche gelehnt hätten. Die begann jedenfalls alsbald, wie es für die Wundreaktion von Buchen typisch ist, den scheuernden Torso zu überwallen und zu umschließen. In den 1930er Jahren habe der Furtwanger Forstkollege die gusseisernen Arme des Kreuzes, die noch aus dem Stamm herausragten, abgesägt. Was mochte ihn dazu veranlasst haben?
Derlei Geschichten hatten es dem Vater angetan; er sammelte und veröffentlichte sie 1960 in seinem Büchlein Wäldergeschichten2, das zunächst im Selbstverlag des Schwarzwaldvereins, sodann in zahlreichen weiteren Auflagen erschienen ist. Sein beigefügtes Schwarzweißfoto zeigt noch Teile des Torsos bis zu den abgeschlagenen Beinen. Schon im Jahr 1955 hatte ihn der Vorgang der Umschließung des Gekreuzigten in protestantischer Ergriffenheit zu einem dreistrophigen Gedicht angeregt: Wo sich Darstellungen des Heilands am lebenden Stamm eines Baumes an Stelle des hölzernen Kreuzes doch in der Sakralkunst immer wieder finden lassen, von Augustinus bis in die Barockzeit, ja, Christus selbst bisweilen zum „Baum des Lebens“ erklärt wurde.
Der Gott im Baum
Wir Menschen haben unsern Stolz
und wollen diesen Herrgott nicht.
Wir schlagen ihn ins Angesicht
und hängen ihn ans Marterholz.
Dort hängt er gut und stört uns kaum
bei den Geschäften dieser Welt.
Er ist im Winkel abgestellt
bei Fuchs und Has und Busch und Baum.
Doch sieh: Der Baum umfangen hält
das vielverachtet Bild aus Stein
und nimmt ihn ganz in sich hinein,
den Schmerzensmann und Herrn der Welt.
FH (1955)
Die dritte Strophe fand sich alsbald auf einem Holztäfelchen wieder, das jemand am Stammfuß der Buche angebracht hatte.
Bäume hatten es dann auch mir angetan, weshalb ich beruflich in die Fußstapfen des Vaters trat. Als junger Forstassessor hatte ich von meinem obersten Dienstherrn, dem Stuttgarter Forstminister, den reichlich privilegierten Auftrag erhalten, die bemerkenswertesten Baumgestalten des Landes aufzusuchen und zu dokumentieren; dies auf den Spuren der Baumbücher der vorigen Jahrhundertwende (Ludwig Klein: Bemerkenswerte Bäume im Großherzogtum Baden, 1908 und Otto Feucht: Schwäbisches Baumbuch, 1911). Im Jahr 1978 erschien die Auftragsarbeit als Bildtextband Begegnung mit Bäumen3, in welchem die Buche mit dem eingeschlossenen Herrgott natürlich nicht fehlen durfte – wie auch nicht das väterliche Gedicht dazu. „Die Buche wächst weiter“, so schloss ich meinen Begleittext, „schon überwallt sie den Brustkorb des Gekreuzigten; Druck und Spannungskräfte des Holzes, Frost und Wetter vervollständigen das Zerstörungswerk.“
Die 1980er Jahre standen ganz im Zeichen des sauren Regens, des von Schwefeldioxid- Immissionen ausgelösten „Waldsterbens“. Um den Gemütszustand auch der Forstleute stand es nicht zum Besten in jenem Jahrzehnt, und so schien mir der Balzer Herrgott mit einem Mal als bildhaftes Gleichnis zu taugen für die gefährdete Waldwelt. In meinem ganz dem neuartigen Phänomen gewidmeten 1984 erschienenen Buch Tännlefriedhof4 schrieb ich neben einem aktuellen ganzseitigen Porträt des seitlich geneigten Christushauptes den wenig optimistischen Text: Der Balzer Herrgott droht indessen vollends einzuwachsen. Der ihn umklammernde Baum ist im Begriff, ihn unseren Blicken zu entziehen. Verbirgt der Gekreuzigte sein Antlitz im Schmerz über das ihm und seiner Schöpfung Angetane? Keine Bildhaftigkeit, keine Symbolkraft?
Doch wozu brauchen wir Symbole? Der Schwarzwälder Herrgottswinkel, die Schwarzwälder Freizeitlandschaft braucht ihre Anziehungspunkte. Es tobt daher ein munterer Ideenwettbewerb: Der Balzer Herrgott muss als Ausflugsziel erhalten bleiben! Her mit dem Baumchirurgen, her mit dem Herrgottsschnitzer, der den Gott im Baum sauber wieder herauspräpariert!
Die Buche samt Corpus war inzwischen geschütztes Naturdenkmal geworden, über dessen Weiterbehandlung nun Behörden mit zu entscheiden haben. Auch die Eigentümerin, die Staatsforstverwaltung, meldete sich 1986 zu Wort, nachdem der Freiburger Forstpräsident samt Justitiar sich vor Ort einen Eindruck vom Geschehen verschafft und das Anliegen der Gemeinde Gütenbach für berechtigt erkannt hatte. Beauftragt mit der Freilegung von Haupt und Brust wurde der einheimische Holzschnitzer Rombach, sodann trugen zwei eigens von der Insel Mainau herbei beorderte Baumspezialisten auf das nunmehr herzförmig freigelegte Buchenholz eine grünliche Paste gegen Pilze und Feuchtigkeit auf, um so eine künstliche Rinde zu schaffen. 1995 musste der Vorgang wiederholt werden. Weitere Sanierungsmaßnahmen, abgestimmt zwischen Gemeinde, Denkmalschutzbehörde und Forstamt, kamen 2014 zum einstweiligen Abschluss; dies nach abermaligen Einsätzen von Baumsachverständigen, die aus der Baumkrone scheuernde und morsche Äste entfernten, um den Allgemeinzustand der Buche zu verbessern und auch der Verkehrssicherungspflicht zu genügen. Um zu verhindern, dass hinter dem Christushaupt Regenwasser in das Holz eindringt, wurde am Stamm ein Dächlein aus Blech angebracht und schließlich auch noch die Konsole eines Zunderschwammes angeklebt, eines ansonsten vorwiegend Totholz besiedelnden Pilzes.
Der an der Buche vorbeiführende Holzabfuhr- und Wanderweg wurde vom Forstamt ein Stück weit zurückverlegt und im Halbkreis um Stamm und Wurzelbereich wurden ein paar Steinbrocken abgelegt, sowohl als Schutz gegen schwergewichtige Holztransporter wie auch gegen die Bodenverdichtung durch etwaige motorisierte Besucher. Allzu Zudringliche sollen neuerdings durch einen hölzernen Staketenzaun vom Betasten oder gar Verunstalten und Verkritzeln von Baum und Heiland abgehalten werden; an ihm baumeln inzwischen „Zeugnisse schlichter Volksfrömmigkeit“, allerlei Devotionalien (vom Rosenkranz bis zum Stofftierchen). Auf den Felsbrocken rundum erinnern Steinmännchen an den touristischen Stellenwert des Orts. Und natürlich dürfen zur Rast und stillen Einkehr auch die Sitzbänke nicht fehlen.
Nebenan erläutert eine hölzerne Schautafel die mutmaßliche Entstehungsgeschichte des Balzer Herrgotts, wobei Auerhähne bemüht werden für die Herleitung des Namens. Ob das scheue Auerwild jemals auf Weidbuchen und auf freiem Feld gebalzt hat und nicht auf den seit Jahrhunderten den Hahnenjägern wohlbekannten Balzplätzen im Wald. Vier Abbildungen des Gekreuzigten, beginnend im Jahr 1930, zeigen die jeweilige Überwallungs- und Freilegungsphase bis in die Gegenwart. Noch Wünsche offen?
Was tut der zum Interview geladene Mensch des Digitalzeitalters, ehe er vor die Kamera tritt? Rasch wirft er noch einen Blick ins weltweite Netz und googelt „Balzer Herrgott“. Da schau her – nicht zu glauben, was WIKIPEDIA alles weiß! Sogar die Herkunft des hellen Sandsteins scheint geklärt zu sein: Er stamme nämlich aus einem Steinbruch bei Pfaffenweiler am westlichen Schwarzwaldrand. Und welche Fülle von Fotos und von Wandervorschlägen (gar von GPX-Wegpunkten und Koordinaten für die GPS-Radtour per E-Mountainbike), welche Anhäufung von Zeitungsberichten und Expertenwissen! Der Gott im Baum als touristischer Hotspot – jetzt scheint er endgültig in der Gegenwart angekommen zu sein. Ob ich meinen Auftritt vor der Kamera nicht doch besser hätte absagen sollen?
1 Der Text ist in Badische Heimat 4/2019 erschienen.
2 Hockenjos, F.: Wäldergeschichten. Hrsg. U. Verl. Schwarzwaldverein e. V. Freiburg, 1960.
3 Hockenjos, W.: Begegnung mit Bäumen. DRW-Verl. Stuttgart, 1978.
4 Hockenjos, W.: Tännlefriedhof. Bilder einer Verwandlung. Gerhard Schillinger Verl. Hinterzarten, 1984.