Damals in Sankt Petersburg

Damals in Sankt Petersburg

28. Oktober 2024 2 Von Wolf Hockenjos

Beitrag vom 24.05.2022

Noch nie hat auf meinem Nachttisch ein ähnlich gewichtiger Wälzer gelegen, und noch selten hat mir ein Buch mit seiner verblüffenden Aktualität so das Einschlafen verschleppt wie Putins Netz1, verfasst von der Londoner Journalistin Catherine Belton, die von 2007 bis 2012 für die Financial Times aus Moskau berichtet hatte, und heute für die Nachrichtenagentur Reuters arbeitet. Ihre über 600 Seiten starke Recherche, versehen mit einer überwältigenden Fülle von Anmerkungen und Quellen, ist von britischen Zeitungen zum Buch des Jahres gekürt worden. „Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“, lautet der Untertitel, und nachgezeichnet werden die Karriere und das politische Umfeld Wladimir Putins, vom Dresdener Offizier des Auslandgeheimdienstes, der in den Tagen der Wende mit gezückter Pistole die Herausgabe der Akten verhindert hatte, über seinen politischen Start als stellvertretender Bürgermeister von St. Petersburg bis hin zum korrupten, Kriege entfesselnden und Gegner kaltblütig umbringenden Autokraten mit Oligarchenvilla am Schwarzen Meer. Wie hatte man ihn jemals unterschätzen können mit seiner KGB-Vergangenheit und seinen frühen Verbindungen zur russischen Mafia? Wie konnte es 2003 nach seiner Rede im Berliner Reichstagsgebäude noch Standing Ovations der Abgeordneten geben, obwohl er doch damals bereits Blut an den Händen hatte, spätestens seit den Tschetschenien-Kriegen? Und wie konnte man den Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze noch bis zum Abend des 23. Februar 2022 als bloßes Manöver einschätzen?

St. Petersburger Machtdemonstration: das neue Gazprom-Zentrum

Frieden schaffen ohne Waffen, Schwerter zu Pflugscharen, Wandel durch Handel: Wie sehr hatte man doch auch selbst seit dem Kniefall Willy Brandts mit der Entspannungspolitik sympathisiert! Aufgewühlt von der nächtlichen Lektüre, tauchen mit einem Mal auch die vergleichsweise spärlichen eigenen Erlebnisse und Verbindungen mit Russland aus dem Nebel des Langzeitgedächtnisses hervor, beginnend in den frühen Nachkriegsjahren beim oft fassungslosen Lauschen, wenn die Kriegsheimkehrer oder Vertriebenen ihre Fluchtgeschichten vor der Roten Armee auspackten. Oder bei den eher spärlichen Erzählungen des Vaters über den barbarischen russischen Winter, über Vormarsch und Rückzug, wie ich sie später auch in seinem Kriegstagebuch nachlesen konnte. Über seinem Schreibtisch hatte noch lange das von einem russischen Granatsplitter zerfetzte lederne Futteral seiner Leica gehangen, mit deren Fotos er seine Eintragungen illustriert hatte. 

Noch unter Verteidigungsminister Franz Joseph Strauß leistete ich – bei aller mir selbst attestierten Friedfertigkeit – brav meinen Militärdienst ab, wofür ich mich in Diskussionen mit linken Altersgenossen  nicht selten heftig zu rechtfertigen hatte: Als ob der Dienst in der Gebirgsdivision mitsamt der Ausbildung als ROA an der Münchener Heeresoffiziersschule und in Hammelburg nicht ausschließlich dem militärischen Patt, der Kriegsverhinderung zwischen den Atommachtblöcken gedient hätte. Hatten russische Panzer nicht 1956 Ungarn überrollt und 1968 dann auch dem Prager Frühling ein jähes Ende bereitet? 

Ausgangs der 1970er Jahre, noch immer mitten im Kalten Krieg, hatte das Münchener Sporthaus Köpf erstmals für Skilangläufer eine Reise nach Murmansk ausgeschrieben. Weil dabei auch Zwischenstopps in Moskau und Leningrad angeboten wurden, hatte ich mich spontan angemeldet. Der verschneite Rote Platz, die Kremlmauern mit den dort Aufgebahrten, die Basiliuskathedrale und das Kaufhaus Gum hatten in mir dank Väterchen Frost einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterlassen; mehr aber noch waren es die zarten blaugrünen Pastellfarben der verschneiten Paläste rund um die Leningrader Eremitage, deren Besuch zum Pflichtprogramm auch der Skilangläufer gehörte; weiter die Fahrt in der transsibirischen Eisenbahn in den hohen Norden, nicht ohne Teeausschank aus dampfendem Samowar – alles findet sich unauslöschlich gespeichert! Erst recht das in Murmansk mit seinem Eismeerhafen und der dort vor Anker liegenden Kriegsflotte fröhlich zu feiernde „Fest des Nordens“ mit dem Einzug der Nationen auf dem fahnengeschmückten Leninprospekt. Pech, dass mich beim Marathonrennen dann  das Missgeschick ereilte mit dem angebrochenen (da noch aus finnischer Birke gefertigten) Langlaufski, weswegen ich im Heißhunger eine Zuschauerin am Rand der Strecke um ein Stück russischen Schwarzbrots anbetteln musste – vertauschte Rollen eingedenk all der Fotos von um Brot bettelnden russischen Kriegsgefangenen. Schließlich die Rentier-Schlittenrennen mit den auf die keuchenden und dampfenden Tiere einprügelnden Samen skandinavischer wie russischer Herkunft, die danach wodkabetäubt wie tot im Hotel herumlagen. In bleibende Erinnerung eingegraben sind aber auch die spontanen Hausbesuche unseres ebenso weltläufigen wie wunderfitzigen Schwarzwälder Gastwirts, der sich nicht scheute, die überraschten Murmansker unter der Türe nach ihrem Befinden im Sowjetreich zu befragen. Umso lästiger fiel schließlich die penible Befragung durch DDR-Zoll- bzw. Stasibeamte aus nach der Landung in Berlin-Schönefeld; deretwegen hatte ich mich als Beamter vor der Reise bei meiner obersten Dienststelle ordnungsgemäß abzumelden gehabt, um dabei auch zu versichern,  keinerlei Dienstgeheimnisse auszuplaudern.

Doch damit schien nach Glasnost, Perestroika und dem Fall der Mauer endgültig Schluss zu sein. Allenfalls der Kernkraftunfall von Tschernobyl im Frühjahr 1986 hatte nochmals Zweifel an der Zuverlässigkeit der Russen aufkommen lassen. Weshalb mir nun dennoch wieder der Besuch in einer demokratischen und noch ganz und gar friedlichen Ukraine in den Sinn kommt: eine Exkursion anno 2007 (jenem Jahr, als Putin anlässlich der Münchener Sicherheitskonferenz erstmals heftige Drohungen gegen den Westen ausstieß) in die ukrainischen Karpatenurwälder, geführt und gedolmetscht von einem Lemberger Kollegen. Wie angenehm rollte es sich doch seit der Wende im Bus über die osteuropäischen Ländergrenzen hinweg, bis unlängst noch eiserner Vorhang. Nicht einmal mehr Bakschisch schienen sich die Zöllner diesmal beim Grenzübertritt noch zu erhoffen. Dafür wiesen uns die Einheimischen stolz auf ein Denkmal hin: auf den exakt hier im hintersten Transkarpatien, wo fünf Länder (Ukraine, Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien) aneinander stoßen, befindlichen geographischen Mittelpunkt Europas, wie ihn 1887 k. u. k. Landvermesser errechnet und eingemessen hatten. Die fast 15.000 ha noch nahezu jungfräulichen Waldes, die sich hier trotz des allein im 20. Jahrhundert sechsfachen Nationenwechsels (von Österreich-Ungarn zur Tschechoslowakei, zu Ungarn, zur Karpato-Ukraine, zur UdSSR und seit 1992 zur Ukraine) erhalten ließen, waren im neuen Gründungsjahr des Landes zum UNESCO-Biosphärenreservat erklärt und 1997 obendrein mit dem Europa-Diplom des Europarats ausgezeichnet worden – nur zur Aufnahme in die EU hat es halt leider bis heute noch immer nicht gereicht.

Die Muße des Ruhestands brachte es mit sich, dass ich mich endlich auch intensiver mit den Kriegserlebnissen des Vaters befassen konnte. „Was der Krieg aus einem macht. Einsichten aus dem Kriegstagebuch des Vaters“, so überschrieb ich einen 2018 veröffentlichten Text2, den ich mit einem überschwänglichen Ausruf beginnen ließ: Seit siebzig Jahren kein Krieg mehr hierzulande – was für ein Privileg! Wie ein Fremdköper steht oben auf meinem Bücherschrank der Karton mit dem fünfbändigen Kriegstage buch des Vaters, ausgekleidet in den Tarnfarben einer Wehrmachtzeltplane, jeder Band außen mit Ausschnitten aus der Generalstabskarte des jeweiligen Frontgeschehens bedruckt

Schloss Strelna bei Leningrad mit zerbombtem Lenin-Denkmal

 

Wie verwandelt sich der Mensch im Verlauf von fünf Kriegsjahren? Die Antwort auf diese Frage suchte ich im Kriegstagebuch des Vaters. Am aufwühlendsten erwiesen sich zweifellos seine Aufschriebe und Fotos vom November 1942 bis August 1943, als sich seine Einheit an der Einschließungsfront von Leningrad befand. Die insgesamt vierjährige Blockade der Stadt hatte zur Folge gehabt, dass mehr als 700.000 Menschen verhungern mussten. Die Perspektive des Oberleutnants Fritz Hockenjos wird im Text ergänzt durch die Berichte im Buch des dem Vater exakt gegenüber eingesetzten russischen Leutnants, des späteren Autors Daniil Granin Mein Leutnant3. Am 27. Januar 2014 hatte er im Bundestag eine vielbeachtete Rede zum Gedenken an die Opfer der Blockade gehalten und das Vorwort des Buchs hatte noch Helmut Schmidt geschrieben. Bereits 1985 war er nach Berlin zu einer Lesung aus seinem „Blockade-Buch“4 eingeladen worden, in dem er auch nicht an Kritik an der sowjetischen Kriegsführung gespart hatte. Weil bei diesem Anlass meine in Berlin lebende Schwester Ruthild aus dem väterlichen Kriegstagebuch vorgelesen hat, entspann sich ein Briefwechsel zwischen den beiden gegnerischen Kriegsteilnehmern, dem eigentlich auch noch ein Besuch in der so leidgeprüften (seit 1991 wieder St. Petersburg heißenden) Stadt hatte folgen sollen, wozu es jedoch leider nicht mehr gekommen ist.

Umso mehr reizte es mich nach all den schaurigen Augenzeugenberichten aus dem „Vernichtungskrieg“ bzw. aus dem „Großen Vaterländischen Krieg“ nochmals in das „Venedig des Nordens“ zu reisen, das längst auch wieder zu einem touristischen Hotspot geworden war. Im Sommer 2019 war es soweit: per Bus und Fähre ging es über Helsinki in die Fünfeinhalbmillionenstadt, in welcher die (vornehmlich chinesischen) Touristenschlangen vor der Eremitage und vor den glanzvoll renovierten Zarenschlössern nicht mehr abreißen wollten – vom zerbombten Lenindenkmal keine Spur mehr. Ob sich eines Tages auch das neue, 450 Meter in den Himmel ragende und einer Rakete nachempfundene Gazprom-Geschäftszentrum dem Touristenansturm öffnen würde, war nicht auszumachen. Der Öl- und Erdgasexport, der nach Putins Beendigung der chaotischen Jelzin-Jahre nicht nur die Stadt wieder hat erblühen lassen, sondern auch eine Truppe skrupelloser KGB-Leute und Oligarchen einschließlich des russischen Präsidenten gemästet hat, wird kriegsbedingt inzwischen wohl doch einen Dämpfer erhalten – je nach Wirksamkeit der verhängten Embargos. Und auch von Busreisen in die „weißen Nächte von St. Petersburg“ ist vorerst abzusehen. In Putins Netz haben sich alle miteinander verfangen.

Das Zarenschloss Strelna im Sommer 2019

1 Belton, C .: Putins Netz. HarperCollins 2020; deutsche Erstausgabe 2022
 2 Hockenjos, W.: Was der Krieg aus einem macht. In: Vom Nationalsozialismus zur Besatzungsherrschaft. Hrsg. H. Haumann und U. Schellinger.  verlag regionalkultur, 2018.
3 Daniil Granin: Mein Leutnant. Berlin 2015.
4 Ales Adamowitsch. Daniil Granin: Das Blockadebuch. 2 Bde. Berlin 1984