Alb-Runde mit Seitenblick

Alb-Runde mit Seitenblick

16. Mai 2022 1 Von Wolf Hockenjos

Da verabreden sich zwei Brüder, Mediziner der eine, Forstmann der andere, beide längst im verdienten Ruhestand, zur alljährlichen „Altherrentour“, wie sie (anfangs noch mit dem Alter kokettierend) diese Unternehmung zu bezeichnen sich angewöhnt haben. Und die Spielregel will es seit Jahrzehnten so, dass dabei im Wechsel jeweils einer den andern mit einem noch unbekannten Wanderziel zu überraschen hat. Inzwischen sind sie beide zu ergrauten „älteren Herren“ geworden, und die Touren, die einst noch vorwiegend ins Alpine geführt hatten, sind zunehmend moderater und seniorengemäßer geworden. Diesmal war der Verfasser wieder dran mit der Auswahl des Ziels: Weshalb sollte er dem Bruder nicht auch mal die Schwäbische Alb zumuten, die für den Freiburger bislang weithin terra incognita geblieben war? Als Schüler hatten die Beiden zwar gemeinsam auch mal den Albtrauf abgewandert, doch seither hatten schwäbische Ziele bei den Badenern ihre Zugkraft stark eingebüßt; dafür pflegen sie sich scherzhaft noch heute über „die typischen Albwanderer mit ihren Bundhosen und rot karierten Hemden“ auszutauschen. Als ob derlei Wanderkluft nicht auch auf der Alb längst aus der Mode gekommen wäre. 

Als Highlight der Tour war diesmal das Heidentor bei Egesheim ausgesucht worden, die frühkeltische Kultstätte zuoberst auf dem dicht bewaldeten Kamm des Bergrückens Oberburg: ein Ziel, das sich, wie sich zeigen sollte, wochentags (dem Privileg der Ruheständler) trotz Wikipedia-Eintrag und einer Fülle von Hinweisen und Abbildungen im weltweiten Netz gottlob noch immer ganz ohne Mitwandererscharen, ohne Lärm und Mountainbiker aufsuchen lässt. Raubgräber hatten, so liest es sich im Netz, im Steilhang unter dem spektakulären Felsbogen reichlich Gegenstände aus der Hallstatt- und der Latène-Zeit (ab 600 v. Chr.) gefunden, die auf einen weiblichen Fruchtbarkeitskult hindeuten, Funde wie Fibelbruchstücke, Ringe und Glasperlen, aber auch Scherben von Geschirr – für Archäologen Zeugnisse von Opfergaben. Möglicherweise seien auch phallische Nadelfelsen miteinbezogen gewesen, so raunt es im Netz.

Heidentor

Der Waldweg von Egesheim herauf erweist sich dank maßvoller Steigungsgrade als durchaus seniorengerechter Einstieg in die Tour, ja sogar als geteertes Sträßchen, erst die allerletzten Höhenmeter sind auf steilem Fußpfad zu meistern. Dass den Buchen beidseits mit zunehmender Meereshöhe vermehrt Fichten, aber auch Weißtannen beigemischt sind, erinnert den Forstmann i. R. daran, dass der Heuberg ja noch der Südwestalb zugerechnet wird und damit als natürliches Tannen-Verbreitungsgebiet zu gelten hat. Wie mag sich der Wald wohl zur Keltenzeit zusammengesetzt haben? Die lebten doch wohl schon in der Älteren Nachwärme- oder Buchenzeit, die die Späte Wärmezeit (oder Tannenzeit) abgelöst hatte, als Tannen und Buchen hierzulande die Eichenmischwaldzeit beendet hatten – soviel Vegetationsgeschichte war bei ihm hängengeblieben. Irgendwann muss der Wald dann auch mal gerodet worden sein, wie Andeutungen von Ackerrandstufen am Hang vermuten lassen. Nicht weit unterhalb des Wegs fällt eine recht üppig ausgefallene Wildfütterung auf, die ihn auf einen ebenso üppigen Rehwildbestand schließen lässt. Sollte der etwa für das Fehlen jeglicher Tannenjugend unterm Buchenschirm verantwortlich sein?

Nach ausgiebiger Bewunderung des Heidentors führt die Tour (nach der Wanderkarte des Naturparks Obere Donau) weiter über das auf dem Heubergplateau angesiedelte Dorf Bubsheim und weiter zur Burgruine Granegg, auch sie von Wikipedia wärmstens empfohlen, ehe es dann wieder hinab nach Egesheim gehen soll, dem Ausgangs- und Endpunkt der Runde. Vorerst zieht sich das Sträßchen jedoch leicht ansteigend durch den zunehmend von Fichten dominierten Wald, aus dem der Wind Schwaden von gelbem Blütenstaub davonträgt. Am Waldrand angekommen, weitet sich plötzlich der Blick auf die helle Wiesenlandschaft des Heubergs, dazu aber auch auf die Landstraße mit ihrem lebhaften Lkw-Verkehr. Ins Blickfeld gerät nun auch die Wand einer grauen Produktionshalle, die sich beim Näherkommen als Ortsrand von Bubsheim erweist. Bis zum alten Dorfkern ist längeres Asphalttreten angesagt, und bei soviel gerade stattfindender Sanierung verliert sich schließlich sogar die sonst so narrensichere Wegmarkierung des Schwäbischen Albvereins. Immerhin hält ein Pkw und sein einheimischer Fahrer erbarmt sich der Wanderer, indem er sie durch ein weiteres Gewerbegebiet schickt. Sieht also so mittlerweile das Ergebnis schwäbischen Unternehmertums aus, der sprichwörtlichen Schaffigkeit in The Länd und der daraus resultierenden Prosperität – mit ihrem rasant gewachsenen Gürtel aus Gewerbegebieten mitsamt all den Eigenheimen, auch den geschleckten Villen fürs mittlere bis gehobene Management längs der frisch instandgesetzten Dorfstraßen?

Endlich wieder im Wald (und erneut auf geteertem Waldweg), gerät auch die Weißtanne wieder ins Blickfeld der Wanderer: Diesmal im Wildschutzzaun auf zuvor vom Altholz geräumter Parzelle gepflanzte Fichten und Tannen in akkuraten Reihen. Dann sind es auch schlampig hinterlassene Drahtreste von längst ausgedienten oder missratenen Zäunungen. Den Waldparkplatz am Fuß der Burgruine nutzt an diesem Werktag immerhin ein einzelner Pkw, und das zugehörige Pärchen kommt soeben vom Burgbesuch herbeigehüpft – nach Spurenlage scheint es am Wochenende hier sehr viel lebhafter zuzugehen. Die im 11. Jahrhundert hart überm Abgrund auf einem wildzerklüfteten Felszapfen, dem Michelstein, kühn erbaute Burg ist anno 1356 („angeblich“, wie bei Wikipedia und auf analoger Hinweistafel vermerkt ist) teilweise von einem Erdbeben, 21 Jahre später samt dem Dorf Bubsheim von der freien Reichsstadt Rottweil vollends zerstört worden. Ein Vorgang, den man sich wohl nicht anders vorzustellen hat wie es einem inzwischen wieder die allabendlichen Schreckensbilder aus der Ukraine suggerieren. Für die verdienstvolle Sicherung des verbliebenen übersteilen Zahns des Gemäuerrestes ist seit 1931 ein neuer Eigentümer zuständig: der Schwäbische Albverein.

Ruine Michelstein, Burgturm mit Hinweistafel
Foto: Peter Kreuzmann, Wikimedia

Arg gelitten haben im Verlauf der jüngsten Trocken- und Hitzejahre offenbar ein paar spindelige Kiefern oben auf dem gemauerten Zahn. Beim Vespern schweift der Blick aber auch über die grün-vitalen Wipfel einiger Weißtannen; lediglich die jüngsten Höhentriebe erscheinen umständehalber stark verkürzt. Wie sie auf dem trockenen Felssporn überhaupt jemals Fuß fassen konnten und sich einstweilen auch der Krise der jüngsten Wärmezeit widersetzen konnten, bleibt schleierhaft. Der Blick aus der Vogelperspektive auf Egesheim hinunter wird dann freilich auch hier eingefangen von ausgedehnten grauen Dachflächen neuzeitlicher Produktionshallen am Rand des alten Dorfkerns.

Beim Abstieg hart der Hangkante entlang sind immerhin auch ein paar Jungtannen zu besichtigen, auch nochmals die Überreste eines Wildschutzzaunes. Dann führt der Fußpfad steil bergab, ehe er in einen nicht minder steilen, von Holzerntemaßnahmen ramponierten Maschinenweg mündet. Am Unterhang sind Baumaschinen dabei, dem Wald eine stattliche Stellfläche abzuringen, deren Zweck sich auch mit forstlich geschultem Auge nicht erschließen lässt. Und der Zugang ins Ortszentrum, zurück zum an der Kirche geparkten Fahrzeug, erfordert erneut Orientierungskünste, denn die Straßen werden soeben frisch hergerichtet.

Die Heimfahrt führt wieder über den Heuberg hinweg nach Spaichingen hinunter. Zum Abschluss ihrer Alb-Tour kehren die Beiden noch zu Kaffe und Kuchen im Gasthaus auf dem Hohenkarpfen ein, dem markanten, einst burggekrönten Weißjura-Zeugenberg. Und auch die Gemäldeausstellung der Kunststiftung im einstigen Hofgut lassen sie sich nicht entgehen. Aus der Wiese gleich nebenan grüßt die beiden Badener bereits – Land Art in The Länd – ein Trachtenmaidli mit Bollenhut in Großformat.

Land Art in The Länd am Hohen Karpfen