Tim und das Unsichtbare Band
Ein Märchenprojekt der Autorin Margrit Vollertsen-Diewerge.
Illustrationen: Maria Pihlainen, Lina Sjöberg und Douglas Leijgard, Lehrerin Maria Wännerdahl, Stalforsskolan, Eskilstuna Amornrat Songhongnok, Kunstlehrer Mathias Hill, Eichendorffschule Erlangen (2008)
In einem Land nicht weit von hier lebte Tim in einem alten Mietshaus. Es hatte blaue Türen und vor der Haustür stand eine große Birke, in der drei Eichhörnchen wohnten, zwei rote und ein graues.
Wenn Tim Erdnüsse oder Haselnüsse oder Walnüsse gefunden hatte, legte er sie unter den Baum, dann kamen die Eichhörnchen und versteckten sie für den Winter.
Als Tim eines Mittags von der Schule nach Hause kam, dachte er: „Heute habe ich mich aber in der Straße geirrt. Wo ist denn die Birke geblieben?“
Vor dem Haus war nur ein großer leerer Platz, weil der Hausmeister den Baum abgesägt hatte.
„Mich haben die Blätter geärgert, die im Herbst in der Regenrinne lagen,“ sagte er und zog an seiner Pfeife.
Tim setzte sich auf den Baumstumpf, der noch aus der Erde ragte. Auf einem der abgesägten Birkenstücke saß plötzlich das graue Eichhörnchen und sagte: „Könntest du nicht vielleicht so nett sein und unser Zuhause wieder instandsetzen?“ Erstaunt erwiderte Tim: „Kannst du sprechen?“ „Frag‘ doch nicht so dumm, das hörst du doch,“ sagte das graue Eichhörnchen.
„Beeil‘ dich und geh hinunter zu Tante Astrid, die mußt du um das Unsichtbare Band bitten. Du weißt doch sicher, daß Tante Astrid in dem lila Haus unten am Fluß wohnt?“
„Klar weiß ich das,“ sagte Tim und lief die Straße hinunter. Unten am Fluß war das lila Haus, gleich daneben hatte ein Wanderzirkus seine Zelte aufgeschlagen. Er brauchte nicht einmal anzuklopfen, denn Tante Astrid stand schon an der Tür und sagte: „Soso, da will sich mal wieder einer mein Unsichtbares Band ausleihen. Es funktioniert aber nur, wenn es für einen guten Zweck gebraucht wird!“ „Ich will die abgesägte Birke wieder zusammensetzen, in der wohnen drei Eichhörnchen, die sind jetzt heimatlos geworden,“ sagte Tim.
Komm‘ rein,“ sagte Tante Astrid. „Siehst du diese vielen Bücher hier? In einem davon ist das Unsichtbare Band, aber ich weiß nicht mehr, in welchem. Wenn du anfängst, in den Büchern zu lesen, wird es plötzlich in deiner Hand liegen.“
Tim stand vor der riesigen Bücherwand.
„Das sind doch sicher 1000 Stück?“ fragte er. „Es sind 146 Millionen,“ sagte Tante Astrid. „Aber das ist kein großer Unterschied. Wenn du Glück hast, ist es bei den ersten zwanzig dabei.“ Beim 14. Buch fühlte Tim plötzlich ein Knäuel in seiner Hand. Als er aber hinsah, war nichts drin.
Wenn du es fühlst, ist es da,“ sagte Tante Astrid. „Du mußt es aber gut festhalten, sonst findest du es nie wieder. Wie willst du denn die großen schweren Birkenstücke aufeinandersetzen? Willst du auf eine Leiter klettern?“
Tim bekam einen großen Schreck, denn darüber hatte er überhaupt nicht nachgedacht. Ehe er antworten konnte, sagte Tante Astrid. „Geh‘ gleich hinüber zum Wanderzirkus. Unter dem Baum ist der Elefant November schon zwei Wochen lang angekettet, denn der Wärter hat den Schlüssel zum Schloß verloren. Er wird dir sagen, wo der Schlüssel liegt, den mußt du holen und das Schloß aufschließen.
Dann wird November heute nacht kommen und die Birkenstücke aufeinandersetzen.
Aber verliere ja nicht das Unsichtbare Band.
Das graue Eichhörnchen muß es wie eine Spirale um den Stamm herumlegen und damit fertig sein, bevor der Pirol anfängt zu singen.“
Tim hielt das Knäuel ganz fest und ging zu November, der laut trompetete, als er ihn sah. Der Wärter sah herüber und schrie:
„Geh‘ ja nicht näher, der Elefant hebt dich mit seinem Rüssel in die Höhe und läßt dich auf die Erde fallen, dann trampelt er dich tot. Er ist nämlich bösartig.“ Tim tat so, als hätte er nichts verstanden, denn er hörte November sagen: „Glaub‘ ihm nicht, ich bin nur böse, weil er mich an diesen Baum gefesselt hat und überhaupt nicht nach dem Schlüssel sucht. Der liegt hundert Meter von hier unter dem großen Brennnesselbusch. Wenn du ihn holst, kannst du das Schloß aufschließen.
Dann bleibe ich still stehen, damit der Wärter nichts merkt. Ich komme um Mitternacht und setze den Stamm wieder zusammen.“
Tim ging am Fluß entlang und wirklich! da war der große Brennesselbusch und darunter lag der Schlüssel. Nun hatte Tim beide Hände voll, in der einen das Unsichtbare Band, in der anderen den verrosteten Schlüssel. Um das Schloß aufschließen zu können, klemmte Tim das Knäuel unter sein Kinn, denn er hätte es ja nicht wiedergefunden, wenn er es auf die Erde gelegt hätte.
„Bis heute Abend“, sagte November und blieb ganz still stehen, als Tim das Schloß aufgeschlossen hatte.
Tim ging zurück zu dem großen Mietshaus und sah sich die Birkenstücke an. Die beiden roten und das graue Eichhörnchen beobachteten ihn. „Wirst du das Band auch nicht fallen lassen, während du es um den Stamm legst?“ fragte Tim das graue Eichhörnchen.
„Das sicher nicht,“ antwortete das graue Eichhörnchen. „Meine Sorge ist, daß November die schweren Stücke nicht genau aufeinanderlegt und wir erschlagen wer-den, wenn der Stamm umfällt.“ „November ist vier Meter hoch und hat einen superstarken Rüssel,“ sagte Tim.
„Weißt du überhaupt, daß du mit dem Unsichtbaren Band oben sein mußt, bevor der Pirol anfängt zu singen?“ „Klar weiß ich das, schließlich ist Tante Astrid meine beste Freundin,“ entgegnete das graue Eichhörnchen.
Um Mitternacht kam November lautlos die Straße herauf. Seine riesigen Ohren wedelten, als er sich die Birkenstücke ansah.
„Zum Glück ist das unterste Stück immer das dickste,“ sagte er, „nicht auszudenken, wenn die Birke unten dünn und oben dick wäre.“
Er schlang seinen Rüssel um das erste Stück, hob es hoch und rückte es zurecht, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan als Birkenstücke aufeinander zu setzen. Doch je höher der Stamm wurde, desto langsamer ging es, und schließlich sagte November:
„Das letzte Stück schaffe ich nicht, da mußt du mir helfen.“ Er hob Tim mit dem Rüssel hoch und trug ihn und das Birkenstück in die Höhe. Geschafft !
Kaum hatte November Tim wieder auf die Erde gesetzt, begann das graue Eichhörnchen wie ein Wiesel um den Stamm zu laufen. „Es hat ja nur wenige Minuten Zeit,“ dachte Tim, „hoffentlich fällt ihm nicht das Unsichtbare Band herunter. Das würden wir ja niemals wiederfinden.“
In weniger als vier Sekunden war das graue Eichhörnchen oben angelangt. Doch was war das? Plötzlich leuchtete das Band blutrot auf, wie eine Spirale umschloß es den schwarz-weißen Birkenstamm, der so kerzengerade dastand als hätte er nicht bis zum Beginn der Nacht in Stücken auf der Erde gelegen. In diesem Augenblick begann der Pirol zu singen, und das Band wurde wieder unsichtbar.
Tim wurde sehr müde und schlief auf der Stelle ein. Durch die laute Stimme des Hausmeisters wurde er unsanft geweckt.
„Ich meinte, ich hätte gestern die Birke bis auf einen Stumpf abgesägt, aber nun steht sie wieder in voller Größe da!“ hörte er den Hausmeister sagen.
„Gut, daß du es nicht getan hast,“ sagte die Hausmeisterin, „jetzt haben wir wieder viel Grün vor dem Fenster und die vier Eichhörnchen toben wie früher in den Zweigen.“
Vier? Hatte Tim sich verhört?
Wieso vier?
„Sieh‘ nur das zweite graue Eichhörnchen,“ rief die Hausmeisterin. „Hast du je so ein riesiges Eichhörnchen gesehen?“
Natürlich weiß ich, daß Elefanten sich nicht einfach verwandeln können, dachte Tim.
Aber wenn ich dieses Eichhörnchen mit den riesengroßen Ohren und dem kurzen Schwanz mit langen borstigen Haaren sehe, glaube ich, daß es ein Elefantenhörnchen ist. Sicher wollte November nie wieder im Zirkus angekettet sein, sondern hierbleiben.
„Jetzt muß ich das Unsichtbare Band zu Tante Astrid zurückbringen,“ dachte Tim.
Aber wo ist es? Ist es als roter Faden um den Birkenstamm geschlungen? Oder hat das graue Eichhörnchen es bei seinen Nüssen versteckt? Oder ist es vielleicht auf die Erde gefallen und liegt irgendwo unsichtbar im Gras?
Niedergeschlagen ging Tim hinunter zum lila Haus am Fluss, um es Tante Astrid zu sagen. Doch sie stand schon in der Tür und lächelte Tim zu.
„Es ist nicht verloren, wie du meinst. Es ist längst wieder in einem meiner 146 Millionen Bücher. Wer sie liest und es für eine gute Tat braucht, wird es ganz gewiß darin finden.“