Starke Eschen – ein Nachruf?
Um die Baumart Esche steht es nicht gut. In ganz Europa grassiert das Eschentriebsterben, verursacht von einem aus Fernost eingeschleppten Pilz mit dem so possierlichen Namen Falsches Weißes Stengelbecherchen. Vielerorts hat man sie schon aufgegeben, zumal längs von Wegen und Straßen, wo Gefahr droht von herab brechenden Ästen, gar von umstürzenden Baumleichen. Für unsere Waldökosysteme, aber auch für die gesamte Kulturlandschaft wäre es nach dem Ulmensterben, das ja ebenfalls durch einen invasiven Pilz ausgelöst worden war, ein weiterer schlimmer Verlust, der weit über ihren holzwirtschaftlichen Nutzen hinausreicht. Auch wenn der Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad der Esche in der Öffentlichkeit nie an die Prominenz kapitaler Eichen- und Lindengestalten herangereicht hat. Als ob die Esche nicht in der germanischen Mythologie den Weltenbaum Yggdrasil gestellt hätte, den Schutz- und Schicksalsbaum und Sitz der Götter.
Der Schutz von Bäumen als Naturdenkmal war erstmals im anbrechenden 20. Jahrhundert so richtig in Gang gekommen. Was einherging mit der Dokumentation und Veröffentlichung besonders „bemerkungswerter“ Exemplare in zahlreichen „Baumbüchern“. Von Preußen über Hessen bis ins Großherzogtum Baden und zum Königtum Württemberg erschienen sie zumeist reich bebildert, um so auf die oft genug durch die Intensivierung von Forst- und Landwirtschaft bedrohten Schätze aufmerksam zu machen. Es fällt dabei auf, dass sowohl in Württemberg wie auch in Baden die Baumart Esche deutlich unterrepräsentiert war im Vergleich zu den spektakuläreren Eichen, Linden und Tannenriesen. Im von Forstassessor Otto Feucht 1911 im Auftrag der Königlich württembergischen Forstdirektion verfassten Schwäbischen Baumbuch wird seltsamerweise unter all den aufgeführten Baumveteranen nur eine einzige Esche erwähnt: Und die hatte er nicht in freier Natur, sondern im Schlosspark von Friedrichshafen entdeckt: „Ziemlich unerkannt bleibt ein starkes Exemplar unserer heimischen Esche (Umfang 2,33 m)…, dessen Blätter durchweg nicht gefiedert, sondern einfach-eiförmig gesägt sind.“ Diese Spielart der Esche (var. monophyllos) finde sich in Württemberg wild vor allem im Stromberggebiet. Mehr wusste er über die Eschen, über die Gewöhnliche wie über die Einblättrige, offenbar nicht zu berichten.
Ludwig Klein, Großherzoglich badischer Geheimer Hofrat und ord. Botanikprofessor, Leiter des Botanischen Instituts wie des Botanischen Gartens der TH Karlsruhe, veröffentlichte 1908 Bemerkenswerte Bäume im Großherzogtum Baden, in dem er der Esche ein ganzes Kapitel widmete. Leider gelang ihm nur ein einziges Foto dieser Baumart; es zeigt im Nahbereich eines Rötenbacher Hauses ein noch recht schmächtiges Exemplar mit ausgedehnten Überwallungen früherer Brandbeschädigung. Lebhaft beklagte er, dass Eschen in den Auewaldungen zwar eine Baumhöhe von bis 45 m erreichen können, doch seien außergewöhnliche Bäume hier leider nicht mehr zu finden, „da die Esche wie andere wertvolle Nutzhölzer längst hiebsreif zu sein pflegt, ehe sie außergewöhnliche Stärke erreicht hat.“
Umso erfolgreicher ist er im höheren Schwarzwald bei seiner Suche nach im Freistand erwachsenen Hofeschen. „Die schönste Esche, die mir im Schwarzwalde (erst im Spätsommer 1907) bekannt wurde, ein wahres Prachtexemplar des freiständigen Baumes, steht, 25 m hoch (!), im Grasgarten des Hierahofes, etwa 20 Minuten südöstlich von Saig, in einer Meereshöhe von 945 m. Der Stamm von 4,88 m Umfang teilt sich schon in 3 m Höhe in drei mächtige stammähnliche Äste, die sich ihrerseits in insgesamt 15 starke und sehr lange Äste aufteilen.“ Das Alter des Baums schätzte Klein auf mindestens 200 – 250 Jahre. Derart starke Gebirgseschen seien im Schwarzwald sonst nirgends mehr zu finden. Klar, dass auch der Botanikprofessor in seinem Eschenkapitel deren „einfachblättrige Spielart“ erwähnt, die er – leider ebenfalls ohne fotografischen Nachweis – im äußersten Norden des badischen Stiefels verortete. Dass sich mit dieser Unterart ein Jahrhundert später die vague Hoffnung verbinden würde, sie könnte womöglich resistenter sein gegen eine die Baumart europaweit bedrohende Seuche aus Fernost namens Eschentriebsterben, konnte der Professor und Geheime Hofrat Dr. Klein freilich noch nicht ahnen.
Dass ich vor knapp einem halben Jahrhundert auf der Fährte von Ludwig Klein mit großen Erwartungen ebenfalls den Hierahof ansteuern sollte, entsprang einer beruflichen Pflichtübung. Denn von meinem obersten Dienstherrn, dem Stuttgarter Forstminister, hatte ich den Auftrag erhalten, nachzuprüfen und zu dokumentieren, was denn von den „Prachtexemplaren“ der Baumbücher der Jahrhundertwende eigentlich die zwei Weltkriege überlebt hatte und noch auffindbar war. Aus der Recherche entstand 1978 mein Bildtextband „Begegnung mit Bäumen“, und darin beschrieb ich den Hofbaum frei weg als „unstreitig schönste und gewaltigste Esche des Landes“. Sie hatte seit Ludwig Kleins Besuch vor siebzig Jahren nochmals kräftig an Umfang zugelegt: „Nun misst sie 6,40 Meter“, hielt ich fest, „was einen Durchmesserzuwachs von 64 Zentimetern ergibt! Die Krone des Baumes ist voll und gesund. Doch während die Altbäuerin ein wenig gedankenverloren an der dem Hof zugewandten Seite des Stammanlaufs mit der Heugabel tief in Hohlräumen und morschem Holz herumstochert, erzählt sie uns von einer denkwürdigen Begebenheit, die für den Baum Folgen haben sollte: Am Vorabend ihrer Hochzeit vor nun schon fünfzig Jahren hat der Nachbarssohn – Gott hab ihn selig – hier eine Sprengladung entzündet. War´s Scherz, war´s Kummer: der Anfang vom Ende des stolzen Baumes war vorgezeichnet.“
Doch auch weitere vierzig Jahre später, im Winter 2016, war die Esche noch immer nicht am Ende, wie ich mich vergewisserte, auch wenn im Land bereits das Eschentriebsterben wütete. Offenbar hatten sich inzwischen Baumchirurgen seiner Krone angenommen, hatten sie mit einem Stahlseil verspannt und auch einige vermorschende Äste gekappt.
Und auch im jüngsten, 2022 erschienenen Baumbuch „Baumschätze Baden-Württembergs“ (Oertel & Spörer Verl. Reutlingen) wird sie noch beschrieben und in grün belaubtem Zustand fotografiert. „Die früher einmal riesige Krone“, schränkt der Verfasser, Jürgen Blümle, allerdings ein, „ist heute sehr stark reduziert, denn der alte Hofbaum kämpft ums Überleben.“ Doch er kann jetzt auch auf ein Deutsches Baumarchiv verweisen, dem der Baum, bei einem geschätzten Alter von 300 – 350 Jahren, als älteste Esche Deutschlands gilt.
Zu Lebzeiten Ludwig Kleins befand sich die allerstärkste lebende Esche Badens allerdings nicht im Hochschwarzwald, sondern im F.F. Schlossgarten zu Donaueschingen. Er scheint sie selbst nicht aufgesucht und bewundert zu haben, sondern muss dazu den dortigen Gartenbaudirektor Berndt zitieren: „Der etwa 250 – 300 Jahre alte, knorrige Baum hat 1,25 m über dem Boden einen Stammumfang von rund 5 m. Über dieser Höhe sind stark ausladende Wülste und über diesen beginnt die Teilung in verschiedene baumstarke Äste, zwischen und über denen eine Holzgalerie eingebaut ist.“ 1922, anlässlich der ersten Donaueschinger Musiktage, inspirierte der Baum den Komponisten Richard Strauß dazu, am Serenadenabend auf der beleuchteten Altane Mozarts Kleine Nachtmusik spielen zu lassen; seitdem trug der Baum den Namen „Richard-Strauß-Esche“. Letztmals wurde sie 1949 beschrieben, nun mit einem Stammumfang von 11,79 m. Mit seiner mittlerweile asphaltierten Empore, die über eine gewundene Treppe bestiegen werden konnte, soll der Baum mit seiner altersgrauen furchigen Rinde mehr und mehr einem Elefanten geglichen haben, weshalb er im Volksmund zuletzt auch schlicht „Elefantenbaum“ genannt wurde. Seine sterblichen Überreste sollen in den frühen 1960er Jahren aus Verkehrssicherungsgründen endgültig beseitigt worden sein.
An beeindruckend starken und höchst vitalen Eschen sollte es im Quellenlandkreis (mit seinen zahlreichen Orts- und Bachnamen, in denen an die Baumart erinnert wird wie Escheck, Eschbach, Ober- oder Niedereschach und selbst in Donau-eschingen) aber auch weiterhin nicht fehlen, ob im Unterhölzer Wald oder auf dem Wartenberg. Die unstreitig prächtigste Hofesche mit einem Brusthöhenumfang von 6, 30 steht bislang hart an der Hocheinfahrt des Burgbacherhofs am Brogen auf Gemarkung Buchenberg. Wie alle Hofeschen dürfte auch sie einst „geschneitelt“, das Eschenlaub als Viehfutter verwendet worden sein – eine Nutzungsform, die bis in die Bronzezeit zurückzuführen ist.
Doch seit dem 3. November 2023 scheint ihr Schicksal besiegelt zu sein: der Hof ist einem Brand zum Opfer gefallen. Weit über die Hälfte der gewaltigen Eschenkrone ist dabei so massiv beschädigt worden, dass ein neuerliches Austreiben kaum mehr vorstellbar ist – selbst bei dieser für ihre Überlebensfähigkeit durch immer neue Stockausschläge und Überwallungen so geschätzten Baumart. Oder sollte etwa Ludwig Kleins Beispiel von jener Esche aus Rötenbach, die ihre Brandverletzungen einfach überwallt hatte, doch noch einen Hoffnungsfunken weiterglimmen lassen? Die Brandruine auf dem Brogen – ein Fanal auch für die Eschen?