Finanzminister und Bauer auf dem Waldvogelhof
IN SERVIENDO PATRIAE CONSUMOR1 (Inschrift auf dem Grab von Hermann Robert Dietrich, Vizekanzler des Deutschen Reiches, auf dem Friedhof von St. Märgen)
Wer auf dem schmalen, bei Gegenverkehr recht abenteuerlichen Sträßchen von Wildgutach flussaufwärts bis Dreistegen und weiter durchs Hexenloch oder in Richtung St. Märgen-Glashütte unterwegs ist, wird knapp hinter der Einmündung des Steinbachtals, jenseits der Wilden Gutach vom Anblick eines stattlichen Walmdachhauses überrascht: vom Waldvogelhof. Der will hier, in der Enge des zu allermeist dicht bewaldeten, von Touristikern gern als wildromantisch verklärten Tals, eigentlich nicht so recht her passen, denn von Landwirtschaft kann in den Steilhängen schon längst keine Rede mehr sein. Die geschlossenen grünen Fensterläden lassen vermuten, dass das Haus nur selten noch bewohnt wird, und auch Wochenendler dürfte es nicht allzu oft hierher verschlagen. Immerhin pflegt noch jemand die Wiese ums Haus. Der Wald auf der Winterseite des Tals zeigt sich indessen mit einem Mal in gänzlich unromantischer, ja besorgniserregender Verfassung – nirgendwo sonst an den Hängen zwischen Bleibach und dem Zinken Glashütte, das langgezogene Simonswälder- und weiter das Wildgutachtal herauf, hat der Borkenkäfer so heftig gewütet wie hier; er hat einen Wald voller Fichtengerippe hinterlassen.
Was für ein Glück, dass da und dort wenigstens noch ein paar Weißtannen und Buchen überlebt haben!
Geschädigt ist offensichtlich nicht alter Hofwald, nicht ursprünglicher Bergmischwald bestehend aus Weißtannen, Buchen, Fichten und Bergahorn, betroffen sind vielmehr vor allem Fichtenaufforstungen auf ehemaligen Weidfeldern. Was Rückschlüsse erlaubt auf die einstige Besiedlungsdichte im Tal und was dazu reizt, sich wieder einmal im heimischen Bücherschrank umzusehen. Und siehe da: es lassen sich auf Anhieb ein paar Quellen finden, so die (unveröffentlichten) Erinnerungen des Vaters Fritz Hockenjos2, von 1947 bis 1976 Forstamtsleiter in St. Märgen, oder der Beitrag seines Amtsnachfolgers Dr. Elmar Klein3 im Jubiläumsband 900 Jahre St. Märgen und nicht zuletzt die Schrift von Max Braun4 Löcher und Döbel um Dreistegen – Wie es früher war im Hexenloch.
Dass die Steilhänge auch im Wildgutachtal tatsächlich noch bis nach der vorletzten Jahrhundertwende von einer erstaunlichen Anzahl von Höfen landwirtschaftlich genutzt worden sind, diese heute kaum mehr vorstellbare Vergangenheit der „Löcher und Döbel“, hat der Neukircher Max Braun – teilweise noch als Zeitzeuge – anschaulich dokumentiert. Der Waldvogelhof, erfährt man da, sei benannt nach seinen früheren Besitzern und um die vorletzte Jahrhundertwende an den Sternenwirt von Obersimonswald verkauft worden – zusammen mit etlichen weiteren Höfen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg habe man ihn jedoch abgerissen. Rätselhaft bleibt, wie der Wirt überhaupt so vermögend und so liquid werden konnte, dass er in der Lage war, Hofgüter aufzukaufen. Sein in einer Kehre der (1855 fertig gestellten) nach Furtwangen hinauf führenden „neuen Poststraße“ erbautes Gasthaus Zum Sternen war obendrein 1913 abgebrannt und musste wieder aufgebaut werden. Sollte er beim Erwerb der oft genug „verganteten“ (verschuldeten) Höfe womöglich als Strohmann gedient haben, sollte da getrickst worden sein, um anderen potenziellen Kaufinteressenten, etwa dem großherzoglichen „Domänenärar“, zuvorzukommen? Sicher ist jedenfalls, dass der Sternenwirt seine frisch erworbenen Besitztümer kurz nach dem Ersten Weltkrieg wieder veräußert hat. Käufer war diesmal die Kehler Papier- und Zellstofffabrik Trick (nomen est omen!), die sich so ihre Rohstoffbasis, die zu Zellstoff zu verarbeitenden Holzvorräte des Wildgutachtals, zu sichern und zu erweitern trachtete.
Eine der vier Töchter des Fabrikanten Ludwig Trick, Elisabeth, hatte die neuen Wildgutacher Besitzungen übertragen bekommen. 1920 heiratete sie den Juristen und Bürgermeister von Kehl, sodann auch Konstanzer Oberbürgermeister, den Landtagsabgeordneten und badischen Außenminister Dr. Hermann Robert Dietrich (1879 – 1954), von 1920 bis 1932 u. a. Reichsfinanzminister und Vizekanzler, somit einen der bedeutendsten Politiker der Weimarer Republik.
1922 ließ der Minister sich auf dem Hausplatz des abgerissenen Waldvogelhofs ein Ferienhaus in landschaftstypischer Walmdach-Bauweise erstellen. Richtfest hatte man – wo sonst wohl? – im Sternen gefeiert; woran sich der Autor Max Braun noch besonders lebhaft erinnert, denn er hatte selbst beim Hausbau mitgeholfen, sodass er sich fortan rühmen durfte, mit einem Minister zu Tisch gesessen zu sein.
Bereits nach drei Jahren verstarb Dietrichs Ehefrau Elisabeth allerdings kinderlos. Sie hinterließ ihrem Mann ein Millionenvermögen, was den dazu in die Lage versetzte, weiterhin Höfe aufzukaufen (den ehem. Streiferhof, den Bruhansen- und den Hirzbühlhof sowie das Dreidöbel- und das Felsenhäusle und das Anke-Gregorigut) und so seinen Besitz zu arrondieren.
In zweiter Ehe heiratete der „Minister, Vizekanzler und Bauer in Wildgutach“, wie er sich selbst gerne zu nennen und zu inszenieren beliebte, Marta, die Witwe des Religionsphilosophen Ernst Troeltsch (1865 – 1923), die ihren (von Dietrich später adoptierten) Sohn Ernst mit in die Ehe brachte. Hermann Dietrich, in Oberprechtal geborener Pfarrerssohn, war zeitlebens Mitglied, auch Vorsitzender demokratisch-liberaler Parteien. Im „Dritten Reich“ blieb er wohl vorwiegend abgetaucht in seinem Ferienhaus unten an der Wilden Gutach, danach bevorzugte er bisweilen den Hirzbühlhof oben auf der aussichtsreicheren Mooshöhe mit Blick auf die St. Märgener Marienwallfahrtskirche (wo er sich auch sein Grab wünschte). Er galt unter den Einheimischen als umgänglich und leutselig, was sich vor allem in seinem guten Verhältnis zu den Einheimischen, zur Forstverwaltung und zu den Waldarbeitern niedergeschlagen hat. Manch einer kreidete ihm jedoch auch an, dass er in der Regierung Brüning mit seiner Deflationspolitik die Arbeitslosenzahlen explodieren ließ und so die Machtergreifung durch die Nazis befördert habe.
In den Nachkriegsjahren besuchte er nicht selten das (2005 aufgelöste) Forstamt in St. Märgen, gern „zu einer Tasse Kaffee und angeregter Unterhaltung“, wie sich der Vater erinnert. In Waldbewirtschaftungsfragen habe er sich freilich exklusiv von seinem Freund, dem Karlsruher Forstpräsidenten Zircher, beraten lassen.
Seinen Adoptivsohn Ernst Troeltsch, auch er wird als liebenswerter Mensch beschrieben, hielt es nicht lange im engen Wildgutachtal. Er verkehrte lieber in Rennfahrerkreisen, wo er auch seine Frau Rita, eine Italienerin, fand, die ihm Zwillinge schenkte, damit dem alten Dietrich, der sich inzwischen um den Wiederaufbau der Parteienlandschaft im Nachkriegsdeutschland bemühte, zwei Adoptivenkel. Diese bestimmte er in seinem Testament zu Universalerben, bis zur Volljährigkeit ihren Vater (den Adoptivsohn und Autorennfahrer) Ernst Troeltsch zum Verwalter des Erbes. Einer Hermann-Dietrich-Stiftung hatte er „ein Drittel des Reinertrags aus dem Wald“ vermacht; dessen forstliche Betreuung übertrug er „dem Forstmeister in St. Märgen“. Was dieser als besonderen Vertrauensbeweis verstand, sodass er sich mächtig ins Zeug legte, um in dem durch Wege gänzlich unerschlossenen Steilhang dennoch einen respektablen Reinertrag zu erwirtschaften. Aus der Sicht von Rita Troeltsch, die nach dem Suizid ihres Mannes allein das Sagen hatte, erbrachte der Wald aber wohl bei Weitem nicht genug. Weshalb sie sich an die Freiburger Forstdirektion wandte und dort erreichte, dass die Betreuung dem Nachbarforstamt Furtwangen übertragen wurde – aus Gründen, die dem Vater nie mitgeteilt worden sind. Wie er in seinen Aufzeichnungen gestand, fühlte er sich noch nach Jahrzehnten in seiner Berufsehre verletzt.
Auch wenn Hermann Dietrich, der Reichsfinanzminister, die Ertragsfähigkeit seines Waldes wohl krass überschätzt hatte, seine Stiftung, die laut Satzung Stipendien für Doktoranten der Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Freiburg und Heidelberg vergibt, existiert noch heute. Das Stiftungsvermögen „Wald“ wurde allerdings alsbald durch einen einmaligen Geldbetrag abgelöst, nachdem sich die Einsicht durchgesetzt hatte, dass das Waldgut wegen der zu erwartenden horrenden Kosten für den zur Holzernte erforderlichen Wegebau nie und nimmer einen nennenswerten Ertrag würde liefern können. Und so blieb der von der krisenanfälligen Fichte dominierte Wald in weiten Teilen unbehandelt. Spätestens der Hitze- und Trockenstress der Sommer 2019-21 führte zu einer massiven Ausbreitung der Käferschäden. Zwar bemühte sich das zuständige Forstamt verzweifelt, der Kalamität Herr zu werden, man baute eilends noch einen Abfuhrweg in den Steilhang, um per Seilkran Abertausende von Festmetern Käferholz noch rechtzeitig ernten und vermarkten zu können ehe es vollends wertlos war. Doch um die weitere Vermehrung und Ausbreitung der Borkenkäfer zu unterbinden, war es bereits zu spät.
Und noch etwas anderes hatte sich im Troeltsch-Wald weithin ungebremst vermehrt – und das bereits seit Jahrzehnten: Das Reh- und zudem das Gamswild. Was dem 120 ha umfassenden Eigenjagdbezirk des Waldvogelhofs gar nicht gut bekommen sollte. Jagd und Politik haben zwar schon immer zu den merkwürdigsten Verquickungen geführt, auch schon vor Reichsjägermeister Göring oder Stasi-Chef Mielke: Ob freilich Reichsfinanzminister Dietrich einst selbst gejagt hat oder jagen ließ auf seiner Jagd, darüber schweigen sich die Quellen leider aus. Im Beitrag von E. Klein, dem Amtsnachfolger des Vaters, wird lediglich erwähnt, dass nach seinem Ableben einer der mit der Stiftung eng verbundenen Professoren „jährlich einen bezahlten Rehbock-Abschuss in St. Märgen beantragte“, was zur Effizienz der Stiftung beigetragen habe. Umso mehr scheinen jagdliche Motive und Gepflogenheiten die waldwirtschaftlichen Ambitionen der Dietrich-Nachfahren überlagert zu haben. Was nicht nur dazu beigetragen haben mag, dass die Walderschließung weiterhin vernachlässigt wurde (um allfällige Störungen bei der Jagd zu minimieren?), sondern dass darüber hinaus auch der längst fällige Umbau der labilen Fichtenbestände in einen stabileren Mischwald durch zunehmenden Wildverbiss verhindert worden ist.
Auch wenn die Hermann-Dietrich-Stiftung nun schon lange nicht mehr vom Waldertrag des Waldvogelhofs profitiert: das Wildgutachtal wäre den geförderten Stipendiaten, den Freiburger und Heidelberger Doktoranten der Wirtschaftswissenschaften, als ein überaus lohnendes Ziel allemal zu empfehlen – den Absolventen der Freiburger oder Rottenburger Forstlichen Hochschulen nicht minder. Geboten wird ihnen hier ein (forst-)wirtschaftliches und zugleich zeitgeschichtliches Lehrstück.
1 Deutsch: Im Dienst fürs Vaterland erschöpft
2 Hockenjos, F.: Zur Geschichte des staatlichen Forstamts St. Märgen, 1991
3 Klein, E.: Hermann Dietrich und seine Stiftung. In: Sankt Märgen 900 Jahre Lebendige Geschichte. 2018
4 Braun, M.: Löcher und Döbel um Dreistegen – wie es früher war im Hexenloch. Geschichts- und Heimatverein Furtwangen e.V. 1979
Hallo,
mit grossen Interesse habe ich die Historie über den Waldvogelhof gelesen. Ein paar Mal im Jahr sind die Grünen Fensterläden geöffnet.
Seit fast 40 Jahren haben wir das Felsenhäusle kurz vor jenem Hof gepachtet und bewahren das Haus vor Nässe und Verfall. Nun ist uns von der Familie T. wegen Eigenbedarf gekündigt worden. Schade drum. Wir wünschen dem Haus alles Gute.
Bestimmt gibt es auch dazu eine Geschichte….