Geschehen doch noch Zeichen und Wunder?
Bestandesstützung für Pinselohr in Sicht
„Für besonders gefährdete Arten übernehmen wir Verantwortung und stärken Artenschutzprojekte. So setzen wir uns für die Bestandesstützung des Luchses in Baden-Württemberg ein.“ (Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen zur Landtagswahl 2021)
Sie haben sich in Baden-Württemberg wieder zusammengerauft, die Schwarzen und die Grünen. Die ersteren nach desaströser Wahlschlappe, die letzteren dank eines überaus populären Ministerpräsidenten mit einem Rekordergebnis im Rücken. Weshalb es für die CDU in der neuen Legislaturperiode wieder nur zur Juniorpartner-Rolle reicht – und das im vormals tiefschwarzen Ländle. Für den neuen Koalitionsvertrag heißt das logischerweise: viel Kiwi-Grün und wenig Schwarz; so deutet es auch schon das Cover an mit seiner grünen Mischwaldidylle. Und wer fleißig genug im 161 Seiten starken „Erneuerungsvertrag für Baden-Württemberg“ blättert, stößt schließlich im Kapitel 9 Ländlicher Raum und Landwirtschaft auf S. 117 auf eine bemerkenswerte Artenschutz-Absichtserklärung. Denn er taucht hier tatsächlich wieder auf, der Luchs, nachdem er sich zuvor bereits ins Wahlprogramm der Grünen (s. o.) eingeschlichen hatte: „Wir werden mit allen betroffenen Akteuren die Chancen für die Rückkehr des Luchses durch ein Programm zur Bestandesstützung verbessern.“
Zwar steht angesichts der Corona-bedingt angespannten Haushaltssituation noch alles unter „Haushaltvorbehalt“, und doch gibt es bei den Akteuren der seit 35 Jahren existierenden Luchs-Initiative Baden-Württemberg e. V. erstmals Anlass, erleichtert aufzuatmen. Wäre ja doch gelacht, wenn sich für ein solches „Programm zur Bestandesstützung“ nicht auch Sponsorenmittel akquirieren ließen, sodass der Staatssäckel damit nicht zusätzlich belastet werden müsste. Hauptsache, die politische Willenserklärung steht schwarz auf weiß im Vertrag! Für die seit Jahrzehnten im Land umhergeisternden Luchs-Junggesellen, Nachkömmlinge der in den 1970er Jahren in der Schweiz und in den Vogesen ausgewilderten Karpatenluchse, scheint sich nun endlich eine reelle Chance auf Reproduktion zu eröffnen bei ihrer Partnerinnen-Suche. Nicht wenige waren hierbei schon unter die Räder geraten – der erste in der Silvesternacht 1988 auf der A 5 bei Bad Krozingen, der vorerst letzte am 2. Oktober 2020 auf der B 492 unweit Blaubeuren. Und einer wurde am 31. Mai 2021 bei Menzenschwand als Kadaver mit Streifschuss und Bleispuren aufgefunden. Nach den Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft war er gewildert worden, nicht anders als der im Sommer 2017 im Schluchsee aufgefundene Wolf, in welchem ein Projektil steckte. Dennoch waren auch hier die Ermittlungen ergebnislos eingestellt worden. Dass in derselben Gegend (am Feldberg) am 10. August 2019 ein Jagdscheininhaber im Suff einen balztollen Auerhahn erschlagen hat, könnte leicht zu dem Schluss führen, dass sich im Südschwarzwald für Wildtiere ein neues Bermuda-Dreieck aufgetan hat, vergleichbar allenfalls mit dem Lamer Winkel im hintersten Bayerischen Wald mit seiner unsäglichen Wildereitradition
Weil weibliche Luchse weniger wanderfreudig sind und die Siedlungs- und Verkehrsbarrieren am Hochrhein bislang nicht zu überwinden im Stande waren, soll nun also endlich mit bestandesstützenden Maßnahmen nachgeholfen werden. Da trifft es sich gut, dass der neue (und alte) Forstminister Peter Hauk (CDU) am 16. Juli 2020 in einer Pressemitteilung eine Überraschung verkünden konnte: „Ich freue mich über den Nachweis eines weiblichen Luchses in Baden-Württemberg. Spannend bleibt, ob die Luchsin bei uns auf Stippvisite ist oder sich langfristig bei uns im Land niederlässt“. Aufgrund einer Kotanalyse war das Geschlecht der Luchsin noch unbekannter Herkunft im Landkreis Konstanz eindeutig festgestellt worden. Schon im Jahr zuvor war per Fotofallenbild ein Luchs auf der Rehwild-reichen Halbinsel Höri am Schienerberg nachgewiesen worden. Handelte es sich um einen Luchskuder oder eine -katze? Und würden sich die versprochenen Auswilderungen von weiblichen Luchsen jetzt sogar erübrigen?
Die Presse des Landes reagierte prompt auf die ministerliche Botschaft: Die Stuttgarter Nachrichten vom 23. Juli 2021 brachten ihren Bericht unter der Balkenüberschrift „Land will mehrere Luchse auswildern“ heraus. Vor zwei Jahren sei das Artenschutzprojekt noch gescheitert, jetzt nehme der Forstminister einen neuen Anlauf. Ungeachtet des neuen Nachweises am Bodensee sollen weibliche Luchse in den Wäldern Baden-Württembergs angesiedelt werden, erfährt der Leser, und das nach einem von der Forstlichen Versuchsanstalt (FVA) erstellten Management-Plan. Der Schwarzwälder Bote stellte am selben Tag seinen Bericht unter die für den Minister eher unerquicklichen Überschrift: „Hauk probiert sich als Luchs-Kuppler“. Bleibt zu hoffen, dass die „Kuppelei“ nicht zum Schuss in den Ofen wird, nachdem das Ministerium ja auch für die Landwirtschaft zuständig ist – wo die Viehhalter im Land doch ohnehin schon durch den Wolf in Aufregung versetzt worden sind.
Was hatten die Luchsfreunde nicht schon alles an Klimmzügen unternommen in den zurückliegenden Jahrzehnten, um auch im waldreichen Baden-Württemberg eine Teilpopulation zu ermöglichen. Anno 1986, gleich nach dem Super-GAU im ukrainischen Tschernobyl, als auch hierzulande das Wildbret verstrahlt war und ungeeignet für den menschlichen Verzehr, war die Idee aufgekommen, den Luchs als natürlichen Regulator von Reh-, Rot- und Gamswild wieder einzubürgern, ganz so wie es die Schweizer und die Elsässer in den 1970er Jahren vorgemacht hatten. Seit damals setzt sich die Luchs-Initiative Baden-Württemberg unverdrossen für seine Wiedereinbürgerung ein, denn für das Gelingen einer mitteleuropäischen Metapopulation würde das Bundesland zweifellos eine unverzichtbare Trittsteinfunktion zu erfüllen haben. Womit der Luchs freilich zum Spielball der Landespolitik geworden, mit dem sich 1996 sogar der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof befassen musste, um die Verweigerung der jagd- und naturschutzrechtlichen Genehmigung einer Wiederansiedlung durch das Land zu rechtfertigen. Für die Juristen blieb der Luchs eine gebietsfremde Tierart und dies mit wahrhaft entwaffnender Begründung:
§ 28 BJagdG will also in erster Linie die vorhandene Tierwelt, soweit sie der Hegepflicht und dem Jagdrecht unterliegt, aber auch die Pflanzenwelt und den Menschen davor schützen, unkontrolliert mit Tieren konfrontiert zu werden, mit deren Erscheinen und Verhalten sie nicht mehr vertraut sind, weil es diese Tiere in dem betreffenden Gebiet nicht mehr gibt und in der jüngeren Vergangenheit auch nicht gegeben hat.
Standardargument der obersten Jagd- und Naturschutzbehörden aber blieb über die Jahrzehnte hinweg die unzureichende Akzeptanz bei Bauern und Jägern. Dabei hatte das Ansiedlungsprojekt von den Parteien, zumal vor Landtagswahlen, durchaus auch immer wieder Zuspruch erhalten, allemal von den Grünen: „Es müsste schon mit dem Teufel zugehen“, so schürte der Abgeordnete Winfried Kretschmann bereits anno 1991 die Zuversicht der Luchsfreunde, „wenn die von Junger Union, der Wildbiologischen Gesellschaft, vom Landesnaturschutzverband, vom Schwarzwaldverein, vom Tierschutzbund, vom Fremdenverkehrsverband Schwarzwald und von den Grünen unterstützte Wiedereinbürgerung des Luchses im Schwarzwald nicht durchgesetzt werden kann.“ Und auch die SPD-Fraktion zog damals nach: Die Regierung solle den Antrag der Luchsinitiative zum Anlass nehmen, das Projekt auf eine neue und breitere Basis zu stellen sowie durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit die Vorurteile gegen die Wiedereinbürgerung von Beutegreifern abbauen. „Der Luchs wildert durch den Parteitag“, so überschrieb die Schwäbische Zeitung am 22. 4. 1991 ihren Kommentar zum Offenburger CDU-Parteitag, und die Stuttgarter Zeitung behauptete gar „Der Luchs beherrscht die Landespolitik“. Demselben Bericht nach habe sich der Forstminister, „wenn auch wenig emphatisch“, von der Nachwuchsorganisation das Zugeständnis abringen lassen: „Wir sind willens, den Luchs wiedereinzubürgern“. Derweil bezogen in Freiburg auch der Regierungspräsident und der Umweltbürgermeister eindeutig Stellung pro Luchs: Weshalb auch sollte im Schwarzwald nicht sein, was im Elsass und in der benachbarten Nordschweiz möglich war? Dass der Luchs zum Bauernsterben beitrage, wie dies in der Hitze des Gefechts von Bauernvertretern behauptet wurde, das schien denn doch allzu starker Tobak zu sein. Kurzum: der Luchs war zum Politikum geworden – was ihm gar nicht gut tun sollte.
Weil sich das Thema Luchs bei all den Beobachtungen und Rissen nicht einfach beerdigen ließ, kam es 2004 zur Einrichtung einer Arbeitsgruppe AG-Luchs, einem „Forum für Akzeptanzförderung und Informationsaustausch“. Auf Rechnung des Landes übernahm die Freiburger Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt (FVA) das bisher von der Luchs-Initiative betriebene Luchs-Monitoring zur Sammlung und Auswertung der Meldungen. Der Luchs selbst sorgte ab dem Jahr 2005 dafür, dass das Wunsch- und Zielgebiet der Luchs-Initiative, das bisher nur den Schwarzwald umfasst hatte, sich mit einem Mal um die obere Donau und die Schwäbische Alb erweitern sollte: In den felsdurchsetzten Hängen des Beuroner Donautals wurde zwei Jahre lang ein Luchs nachgewiesen, auch auf frischer Tat an Gams- und Rehrissen gefilmt, ehe auch er leider wieder verschwand. Vermutlich ist es jener Luchs gewesen, der in der Neujahrsnacht 2007 auf der A 8 bei Laichingen überfahren worden ist. Er war zwar während seines Besuchs an der Donau und auf der Alb niemals durch Schafrisse auffällig geworden, dennoch wurde nun auch die längst fällige Entschädigungsregelung für Nutztierrisse auf den Weg gebracht werden, ein vorwiegend von den anerkannten Naturschutzverbänden finanzierter, vom Jagdverband verwalteter Fonds. Die obere Donau konnte sich auch weiterhin bis heute als Luchshabitat auszeichnen, sodass an der vielbesuchten Burg Wildenstein inzwischen auch ein Luchs-Pavillon über das politisch so heikle Wildtier informiert.
Auch die Wissenschaft hatte sich 2007 nochmals des Luchses angenommen: An der Freiburger Uni, im Institut für Forst- und Umweltpolitik und in Zusammenarbeit mit der FVA, Arbeitskreis Wildökologie, wurde ein interdisziplinäres „Luchsprojekt Baden-Württemberg“ gestartet. Ziel des Projekts war „die langfristige Erhöhung und Sicherung der funktionalen Biodiversität in Baden-Württemberg“, wie es, wissenschaftlich ein wenig verklausuliert, in der Projektbeschreibung heißt. Untersucht wurde ein weiteres Mal die Lebensraumeignung für den Luchs, wobei mit verfeinerten Methoden bestätigt wurde, dass nicht nur der Schwarzwald, sondern auch die Schwäbische Alb und der Odenwald Platz für den Luchs bieten, insgesamt für 120 Tiere. Daneben wurde per Interviews und Befragungen erneut die Akzeptanzfrage untersucht, leider mit dem ernüchternden Befund, dass sich bei Bauern und Jägern noch immer nicht viel bewegt hat, mochte die Resonanz in der breiten Öffentlichkeit noch so positiv ausfallen. Längst wurde in den Naturparks mit dem Luchs geworben, und in den Medien wurde beharrlich die Mär verbreitet, der Luchs sei „auf leisen Pfoten zurückgekehrt“, gerade so, als gäbe es wieder einen Luchsbestand im Land. Ende 2010 wurde auch noch ein „Transfer- und Kommunikationsprojekt“ aufgelegt in der Hoffnung, nach Ablauf von zwei weiteren Jahren Überzeugungsarbeit vielleicht doch noch eine Akzeptanzverbesserung erzielen zu können.
Eigentlich schien es nun gar nicht mehr so schlecht zu laufen für den Luchs. Hatte doch schon 2009 derselbe Landwirtschafts- und Forstminister wie heute, Peter Hauk (CDU), anlässlich der Einweihung eines vom Baden-Badener Gymnasium und vom NABU gestalteten Luchs-Erlebnispfads am Plättig (im heutigen Nationalpark) den Luchs als Ureinwohner Baden-Württembergs, als Symboltier des Artenschutzes und als Schlüsseltier der Artenvielfalt gepriesen und damit Hoffnungen auf einen ultimativen Durchbruch geweckt in der so zähen Diskussion um die pinselohrige Katze. Und vor den Landtagswahlen 2011 hatten sich auch die Parteien (auf Fragen des Landesjagdverbands zum Thema Luchs) wieder keineswegs ablehnend geäußert: CDU und SPD stellten jeweils eine Grundsatzentscheidung in der Frage der Wiedereinbürgerung in Aussicht, während die Grünen uneingeschränkt alle Maßnahmen zu unterstützen versprachen, um den Luchs wieder heimisch werden zu lassen. Nach deren überraschendem Wahlsieg und erstmals mit einem grünen Ministerpräsidenten an der Spitze, so freuten sich die Luchsfreunde, würde jetzt gewiss nichts mehr schieflaufen können mit dem so gründlich vorbereiteten Wiederansiedlungsprojekt.
Umso kurioser und enttäuschender stellte sich die Konstellation in der zurückliegenden Regierungsperiode dar – trotz einer erneuten grünschwarzen Koalition unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann. In einer Reportage der Stuttgarter Zeitung (vom 7. Mai 2020) wurde die Lage unter der Überschrift „Vorerst werden keine Luchse ausgewildert“ ausführlich analysiert: Mit einem CDU-Forstminister, der eigentlich die Auswilderung von weiblichen Luchsen befürwortet und einem für Artenschutz zuständigen grünen Umweltminister, der ebendies verhindert mit dem Argument noch immer fehlender Akzeptanz. Selbst die im Text zitierten Landesvertreter der beiden Umweltverbände NABU und BUND hielten sich eher bedeckt – so luchsfreundlich sie sich in der Vergangenheit positioniert hatten. In Gegenwart des Wolfs wollte man es mit den Viehhaltern nicht noch mehr verscherzen.
Inzwischen haben sich Bürgern und Politikern freilich ganz andere Themen aufgedrängt, ob Corona-Pandemie, das „Waldsterben 2.0“ oder die katastrophalen Überflutungen. Dass nach dem Waldzustandsbericht 2019 für Baden-Württemberg die Kronenverlichtung einen Höchststand verzeichnet seit Beginn der Aufzeichnungen (seit 1984), fügt sich perfekt ein in die nach drei Trockensommern und nachfolgenden Starkniederschlägen so erregte Klimadebatte. Würde dem Wald als CO²-Senke, als kühlendem Schattenspender und Abfluss minderndem Schwamm der „Spitzenprädator“ Luchs nicht gut tun, spätestens jetzt, nach Schäden bislang unbekannten Ausmaßes und dem immer lauteren Ruf nach Waldumbau? Würde der Fressfeind von Rot-, Reh- und Gamswild nicht einen Beitrag zur Stärkung der Selbstheilungskräfte des Ökosystems und zur Entspannung des leidigen Wald-Wildkonflikts leisten können – ohne dass sich die Jägerschaft selbst abzuschaffen hätte. War nicht soeben, während des Lockdowns, auch der Wildbretabsatz wieder ins Stocken geraten, diesmal nicht wegen erhöhter Becquerelwerte, sondern nach dem Ausfall der Gastronomie? Als ob die Zeit da nicht überreif wäre für die längst versprochene Grundsatzentscheidung!
Jetzt also, im Jahr des Unheils 2021, scheint endlich doch Bewegung in die so heillos verfahrene Endlosgeschichte gekommen zu sein. Ob sich für den Luchs im Musterländle nun tatsächlich ein Happyend abzeichnet? Gewiss würde sich für die von den Koalitionären vereinbarte Bestandesstützung eher der staatswaldreiche Nordschwarzwald mit seinem Nationalpark anbieten als der bäuerlich geprägte Südschwarzwald, gar als das befürchtete Bermudadreieck. Gut Ding braucht Weile in Baden-Württemberg, wie der Umgang mit dem Luchs beispielhaft lehrt, auch beim grünen Leib-und-Magen-Thema, dem Artenschutz. Der Erneuerungsvertrag für Baden-Württemberg lässt erst einmal keine Wünsche mehr offen.