Den Idioten haben wir rausgeholt
„Jo so wars, anne 1974″
„Man sollte keine Geschichten erzählen, wenn man keine Bilder in sich trägt“. Unbekannter Erzähler
Jede Dekade hat seine Helden. Nach 1954, als Deutschland mit Fritz Walter, Toni Turek, Helmut Rahn und Horst Eckel Fussballweltmeister wurde, wurden Pausenhofbildler dieser Heroen gehandelt. Nach 1960 wollte jeder so schnell wetzen wie Armin Harry. Zumindest Im Schwarzwald und Bayern war nach unserem Jörgle Thoma Skispringen und Langlauf angesagt. Dass Fussball unkaputtbar ist, bewiesen dann Uns Uwe, Beckenbauer, Katsche Schwarzenbeck, Stan Libuda und Sepp Maier.
Genauso war es in den unsäglichen 40-er Jahren. Der Schulunterricht begann oft mit den neusten Fronthelden- und Schlachtberichten der Nazipropaganda. Ohne Helden lässt sich die Jugend nur schwer gehirnwaschen. Und so war es nach dem September 1943. Bilder von jungen, kruppstahlharten, windhundschnellen und lederzähen Jungmännern wurden in Alben neben Karten des Grossdeutschen Reiches mit Schlachtplänen mit Mehlpapp sorgfältig einegklebt und mit Sütterlinschrift ausgemalt.
90 Wehrmachts- Fallschirmjäger und 17 SS Leibstandarte Soldaten befreiten den von den eigenen Faschisten gefangen Duce, Benito Musselini.
Im Gebirgshotel „Duca di Abruzzi“ mit Seilbahnstation auf dem Campo Imperatore unterhalb des Gran Sasso fand die folgende Geschichte statt.
Zufällig war ein unbefangener Nachgeborener verblüfft Zeuge der sehr seltenen und hier ungewöhnlichen Nachkriegsbewältigungen oder Verstummungen von zwei echten Beteiligten. Protagonist und Zuschauer.
„ Ja, den Idioten haben wir herausgeholt “
Wie ein Jungmann mit der Gnade der späten Geburt mitten in ein Heldenepos gerät.
Bauunternehmer- Büro 1974 in einem grossen Verwaltungsgebäude auf der Baar:
Fast jeden Morgen steht er in unserem Büro und fragt ob er wegen unseren abgeschickten Abschlagszahlungen oder Rechnungen bei den Auftraggebern schon anrufen könne. Es ist der sorgenbeladene Geldeintreiber, der Finanzkaufmann einer großen Baufirma in der Region. Nachdem er uns wieder mal gebetsmühlenartig sein Leid über anstehende Lohnzahlungen, Gehälter, Rechnungen, Finanzamtsforderungen, Krankenkassen und Bankzinszahlungen vorjammert gibt’s dann immer noch ein kleines Schwätzle mit dem leutseeligen, freundlichen Schwaben. Dem Jungingenieur sitzt ein alter Hase der Branche gegenüber und ein Jungvolk Protagonist. Noch nie hat er von seiner Prägung während der Schulzeit und seinen Jungvolkerfahrungen gesprochen. Aber heute platzt es geradezu aus ihm heraus: „ Herr …„B“, sind sie eigentlich der Sohn von General ….„B“ ? Der, der als Fallschirmjäger am Grand Sasso dabei war ?“ So direkt und unverblümt fragt er den sonst sehr jovialen, freundlichen Geldeintreiber der Firma. Der antwortet ungewohnt schroff und abrupt: „Ja, den Idioten haben wir herausgeholt“, und er verlässt zum ersten mal grußlos und schnell das Zimmer. Einige Sekunden herrscht eine beklemmende, knisternde Stille. Der alte Hase aus dem Wald atmet tief durch und seufzt: „ Ich haans doch beigott gwisst, siter paar Monet triebt mich selt um. Siner Vadder sieht ihm wie us em Gsiecht gschnitte gliich. G.D. , der alte Hase hat wieder mal in den Büchern und seinen Alben rumgeblättert und auf seine Träume und Albträume aufgepasst. Wie so oft in letzter Zeit. Der Jungspund aber versteht natürlich kein Wort, spürt nur eine prickelnde Anspannung. Allmählich hat G.D. , der lebenserfahrene Mentor, sein Nervenkostüm und die Fassung wieder im Griff und spürt die fragenden Blicke des Jungkollegen.
Und nun beginnt er bedächtig zu erzählen:
„Jeden Tag wurden wir von dem strengen, stramm linientreuen kriegsverletzten Lehrer über den heroischen Kriegsverlauf unterrichtet. Über die Heldentaten für Führer, Volk und Vaterland. Die neuesten Heldentaten für das Tausendjährige Reich erklärte er uns anhand von Generalstabskarten. Wir kannten Europas Zonen, von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt. Dienstgrade, Ritterkreuzträger, Schlachten, Waffen waren uns geläufig. Wir mussten nach der Schule nicht erst an die Gemeindeanschlagtafeln um den Kriegsverlauf einzusehen. Wir waren aus erster Hand systemkonform informiert. Noch heute bekomme ich Gänsehaut als am 13.September 1943 die Tür mit Hitlergruss aufgerissen wurde und unserer Einpeitscher und Chefpropagandist zackig brüllend verkündete: „ Unsere rumreichen Fallschirmjäger unter Mithilfe der Waffen SS Leibstandarte haben unter Kurt Student und Otto Skorzeny den Duce auf dem Campo Imperatore am Grand Sasso befreit“. Allgemeines Gebrüll und tosendes „Heil Hitler“ erschütterten die ganze Schule. Der Nazi Scharfmacher entrollte eine Italienkarte mit dem alpinen Abruzzen Gebirge. Erd- und Völkerkunde direkt und hautnah. Tage später, als die Propaganda Maschinerie auf Hochtouren lief und alle Einzelheiten mehr oder weniger wahrheitsgetreu unters ruhmreiche Deutsche Volk gebracht wurde, wurden auch wir gründlichst gehirngewaschen. Natürlich verlief die Befreiung des von den eigenen Faschisten im Hotel „Duca di Abruzzi“ auf dem „Campo Imperatore“ nicht nur minutiös wie von General Kurt Student geplant und ausgeführt sondern teutonisch generalstabsmässig. Da die SS bei dieser Aktion nicht fehlen durfte, half ein kleiner SS – Trupp unter Otto Skorzeni mit. Von einem Flugplatz bei Rom wurden 90 Fallschirmjäger in Lastensegler gepackt und zum Campo Imperatore von Motorflugzeugen geschleppt. Die 17 Waffen SS- Männer unter Skorzeni in einem weiteren Schlepp- Lastensegler. Darunter der windhundschnelle, Kruppstahl harte und lederzähe Sohn des schwäbischen Generals „B“.
(Übrigens wurden viele Flügel dieser Lastensegler , die aus Holz und Leinenstof waren, in den Donau- Flugzeugwerken Donaueschingen gefertigt. In den von den Nazis requirierten Produktionsstätten der Bürstenfabrik Erich Locherer, Josefstr. Siehe auch Buch „ Bruuchener kaini Bierschte“ von Hubert Mauz über die Bürstengeschichte von Donaueschingen)
In Assergi an der Seilbahn- Talstation bei Aquila wurden die Wachen von Bodentruppen ausgeschaltet, die Telefonleitung zum Berghotel gekappt und die Wachmannschaft am Hotel kampflos gekapert. Nach dem Ausklinken der Lastensegler landeten die Segler auf der von Steinen befreiten Almwiese vor dem Alpinhotel „Duca di Abruzzi“. Ein Leichtflugzeug ein „Fieseler Storch“ landete ebenfalls dort. Nach 10 Minuten wurde der Duce aus dem Gebäude geführt und in den wartenden, bereitstehenden „Fieseler Storch“ gepackt. Obwohl mit dem beleibten Duce das Startgewicht schon am Limit war, schlug die ganz große Stunde des grosspurigen Aufschneiders Skorzeni. Auch er zwängte sich entgegen jeder Absprache noch in den fliegenden Besenstiel „Fieseler Storch“ und drängte sich dadurch nachhaltig in die Geschichtsbücher und in die zweifelhaften Heldenanalen des 3. Reiches. Durch das Überladen hob der fliegende Besenstiel erst in aller letzter Sekunde und auf den allerletzten Metern noch geradeso hangabwärts ab. Fast wäre durch die Aufdringlichkeit vom Angeber Skorzeni der Heldentraum und das Heldenepos auf dem felsigen Almweiden noch unrühmlich zerschellt. Dann wäre der Aufschneider Skorzeni everybodis Depp gewesen und nicht everybodys daarling und der ruhmreiche, verehrte Vorzeigenazi geworden. Der Ex- Duce Mussolini wurde via München und Wien ins Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ zu Hitler geflogen und von ihm wieder reaktiviert.“
Fi 156 (Fiesler Storch) während der Befreiung Benito Mussolinis vom Gran Sasso. Fotos: Wikipedia
Zwar hatte ich in Alpinzeitschriften von Skihochtouren im Mai im Hochgebirge der Abruzzen gelesen. Dort soll man , einmalig in ganz Europa, am Morgen noch Skifahren, und am Mittag in der kühlen Adria plantschen können. Dabei wurde auch die Mussolini Geschichte knapp gestreift. Aber nun bekam ich so vom Mentor G.D. die wahre und die ganze Geschichte erzählt.
Beim nächsten Besuch des Geldeintreibers „B“ kam es zu einem sehr streng vertraulichen Gespräch. Auch dem Eleven wurde strengstes Stillschweigen abverlangt, was der bis heute, nachdem beide Hauptpersonen nicht mehr leben, 45 Jahre lang absolut eingehalten hat. Da diese Episode jedoch auch ein Zeitzeugnis der 1975 Jahre, aber auch der 1940 Jahre ist, genaugenommen vor 80 Jahren, glaube ich, dass es nun erlaubt , wenn nicht sogar eine Verpflichtung ist, darüber zu berichten.
Die erste bohrende Frage von „B“ an G.D. war, wie er auf die Vermutung gekommen sei, dass er dabei gewesen sei. Das hat G.D. so erklärt:
„Von unserem Propagandisten Lehrer wurden wir detailliert unterrichtet. Kern war die Heldenverehrung der beteiligten Soldaten, insbesondere der 17 SS Leibstandarte Elite Soldaten. Von jedem wurden die Vita und die Wehrausweis – Fotos gezeigt und zur verpflichtenden Album- Aufbewahrung übergeben. In den kommenden Wochen wurden immer wieder die Daten und die Heldentaten dieser „schnellen, harten, zähen“ Elitesoldaten abgefragt. Wir kannten Herkunft, Mutter, Vater, Ausbildung, Auszeichnungen genau. Wehe , wenn die Heldendaten aus dem Zettelkasten nicht wie aus der Pistole geschossen kam. Dagegen war die Fussballheldenverehrung der WM – Bern 1954 mit den Fussballgöttern Rahn, Toni Turek, Fritz Walter und Horst Eckel ein Kinderspiel. So wurde auch ihr Vater mit dem glorreichen Sohn auch bildlich mit einbezogen. Und genau dieses Bild des General „B“ mit der frappierenden Ähnlichkeit mit ihnen ist mir wieder mal in die Hände gefallen, zusammen mit der Liste der 17 Gran Sasso Soldaten. Lange hab ich mit mir und der für sie vielleicht unangenehmen Fragestellung an Sie gerungen.“
Finanzkaufmann „B“ hat dann noch ganz persönlich und mit verhohlenem Stolz ziemlich ausführlich diese Mussolini Befreiung aus seiner ganz persönlichen, aktiven Sicht geschildert. Zum ersten mal, sagte er, würde er das an Fremde preisgeben. Nachdem noch mal absolutes Stillschweigen vereinbart wurde, rumorte es noch lange, genaugenommen bis heute, bei dem Eleven. Auch war der Informationshunger des alten Hasen gestillt. Nicht ganz ohne Genugtuung wurde der ehemalige Hitlerjunge so ein naher, intimer Zeitzeuge dieses geschichtsträchtigen Ereignisses.
Nie mehr wurde später darüber gesprochen, was ein merkwürdiges, aber gängiges, übliches Merkmal dieser Nachkriegsjahre war.
Jo, so wars,