Zum Heulen schön – Freudentränen beim Sport

Zum Heulen schön – Freudentränen beim Sport

21. Dezember 2021 0 Von Wolf Hockenjos

Freudentränen – wann sind sie dir bloß das letzte Mal über die Backen gelaufen? Oder sind womöglich die Zeiten nicht mehr danach? Mehr als mir lieb und recht ist verbrachte ich die Tage vor der Glotze im vergangenen so absonderlichen Winter. Denn mal hatte es zuviel, dann wieder zu wenig, noch dazu mit Saharastaub eingepuderten Schnee für meine skisportlichen Außenaktivitäten, von den Corona-Einschränkungen ganz zu schweigen. Wintersportübertragungen müssen da allzu oft als Ersatzbefriedigung herhalten, zumal wenn die jeweilige Veranstaltung an Wettkampforten stattfindet, an denen man als Langläufer auch selbst einst schon um sportlichen Lorbeer gekämpft hat oder wo man doch zumindest als Tourist schon zugange war, egal ob auf der slowenischen Pokljuka, in Lillehammer, in den Dolomiten oder in Oberstdorf.

Start in Schonach in der Morgendämmerung

Was nicht heißen soll, dass ich bei meiner nordischen Präferenz alpine Rennen gänzlich verschmähe. Wo es doch auch da bisweilen dramatisch, ja sogar hochemotional zugeht: So wie letztmals in der ARD, als aus Cortina das erste Männerrennen der alpinen Skiweltmeisterschaften, der Super-G, übertragen wurde. Und dies nach mehrmaligen Verlegungen und Programmänderungen, mal wegen zuviel Schneefall (neuerdings neckisch als „Flockdown“ abmoderiert), mal wegen einer plötzlich auftretenden Nebelbank im oberen Streckenteil, dem so gefürchteten Tofana-Schuss. Als fachkundiger, kritischer und dabei durchaus lockerer Co-Kommentator war Ex-Slalomkünstler Felix Neureuther aufgeboten, der die Linienführung der neu in den Berg gefrästen Piste nach den ersten Startern und deren spektakulären Ausfällen als gar zu selektiv, ja geradezu als allzu riskante Zumutung für die Rennläufer einstufte. Milder wurde sein Urteil erst, als die absoluten Spitzenkönner an der Reihe waren, die Cracks aus Österreich, der Schweiz und Frankreich, die mit ihren artistischen Einlagen, mit viel Courage und optimaler Materialabstimmung den heiklen Parcours dennoch irgendwie meisterten.

In pure Euphorie schlug die Stimmung im Studio um, als mit Romed Baumann, der erste deutsche Starter unterwegs war, der dank fabelhafter Linienwahl und makelloser Fahrweise die bisherige Bestzeit um die Winzigkeit von 0,07 Sekunden verfehlte. Schon kurz nach Zielsprung und Ziellinienpassage im Höchsttempo, noch bevor er vollends abgeschwungen hatte, brüllte er sein Glück und seine Erleichterung schon lauthals mit einem gutturalen Jawollll! heraus. War er doch – noch als Tiroler – vor wenigen Jahren aus dem österreichischem Nationalkader ausgemustert worden. Verheiratet mit einer Deutschen, hatte er flugs die Nationalität gewechselt und im Team des deutschen Skiverbands wieder fußgefasst. Was ihm da und dort wohl als Fahnenflucht ausgelegt worden war, gar einen Shitstorm entfacht hatte. Nun also reüssierte er im deutschen Rennanzug mit diesem überraschenden Erfolg: mit der WM-Silbermedaille! Kein Wunder, dass er vor laufender Kamera ein paar Tränen verdrücken musste. Auch Co-Kommentator Neureuther hatte feuchte Augen vor Rührung und Begeisterung bekommen. Wo sonst noch außer im Sport, so seine Schlussbemerkung, dürfen die Emotionen noch derart durchgehen mit unsereinem!

Der Autor

Im heimischen Fernsehsessel war eben dies der Moment, in dem sich mir die Frage aufdrängte: Wann zuletzt sind eigentlich auch bei mir am helllichten Tag die Freudentränen geflossen? Gewiss, im abgedunkelten Konzertsaal konnte einen plötzlich schon mal ein kurzer Lustschmerz übermannen, im langsamen Satz eines Schubert-Klaviertrios etwa, auch im Adagio eines Mozart-Klavierkonzerts, insgeheim und aus purer Ergriffenheit auch mal im Kino. Zugegeben: Damals, noch als Student, habe ich nachts am Radio aus Anlass von John F. Kennedys Ermordung unter den Klängen der Brahms´schen Symphonie Nr. 4 in e-Moll Rotz und Wasser geheult, und wann immer sie mir seitdem zu Ohren kommt, pflegt es mich wieder ein bisschen zu würgen. Aber Freudentränen, und die auch noch beim Sport – wann mögen die zuletzt geflossen sein?

Doch tatsächlich, da taucht aus dem Nebel des Langzeitgedächtnisses urplötzlich wieder ein Erinnerungsfetzen auf, noch dazu gespickt mit erstaunlichen Details: Knackig kalter Pulverschnee im Winter anno 1978 beim allerersten Rucksacklauf über die einhundert Kilometer auf dem Fernskiwanderweg von Schonach nach Multen am Belchen! Nach einer kräftezehrenden Schinderei quer durch den mittleren und südlichen Schwarzwald, mit Überquerung des Brends, der Fern- und der Weißtannenhöhe, des Grüblesattels auf dem Höchsten, mit Passieren des Notschreis, dann des Trubelsmattkopfs, schließlich nach ratternder Abfahrt zum Wiedener Eck hinunter ein letzter, nimmer enden wollender Anstieg zur Hohtann hinauf. Worauf nach Kilometer 95 endlich, endlich die finale Schlussabfahrt auf die erschöpften Läufer wartet hinab in Richtung Ziel. Und genau da, nach einem allerletzten kurzen Gegenanstieg durch Nadelwald geschieht es: Plötzlich taucht rechts unterhalb der Laufstrecke das Multenwirtshaus auf, winkt das Ziel, höre ich schon den Sprecher am Mikrofon – jetzt bitte nur ein sturzfreier Rechtsschwung noch und ich werde es geschafft haben! Und exakt da ist es offenbar um meine Fassung geschehen: Es schießen mir gänzlich unverhofft Tränen in die Augen, Tränen des Glücks und des Stolzes über die erbrachte Leistung – dazu aber auch schon im Vollbewusstsein einer gelungenen Premiere!

Rucksackläufer nach 100 km im Ziel

Ja doch, wir befinden uns da noch in der Pionierzeit der Siebzigerjahre, als der Skilanglauf erstmals als Volkssport boomte und allenthalben Loipen, Langlaufzentren samt Volksskiläufen entstanden. Und so war ich denn auch in doppelter Mission gefordert an diesem Februartag, als Teilnehmer wie als Veranstalter: Letzteres als Vorsitzender der den Rucksacklauf ausrichtenden Arbeitsgemeinschaft Skiwanderwege Schwarzwald e. V., die 1974 auf Anregung des Schwarzwaldvereins gegründet worden war, um den Wildwuchs der Loipenmarkierungen zu steuern und mit dem Fernskiwanderweg eine wintertouristische Alternative zu bieten zu den oft schon überfüllten Rundloipen. In der Nacht vor dem Lauf hatte ich kaum ein Auge zugetan bei all den auf einer hundert Kilometer langen winterlichen Wettkampfstrecke lauernden Risiken und Unwägbarkeiten. Dann endlich, nach der Anreise in aller Herrgottsfrühe, nach dem Skiwachsen und der Rucksackkontrolle, um 7.00 Uhr mit dem Glockenschlag der Schonacher Kirchturmuhr, der Massenstart in die Morgendämmerung hinaus. Doch jetzt, am fortgeschrittenen Nachmittag unterm Belchengipfel und in Sichtweite des Ziels war im Rausch der Glückshormone mit einem Mal auch der lang aufgestaute Druck von mir gewichen.

Wie sich schon bei der Premiere zeigte, war gottlob niemand von der Strecke abgekommen oder gar aus Erschöpfung liegen geblieben: Insgesamt 80 Läufer hatten damals das Ziel erreicht, die letzten kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Sieger und Gewinner des Wäldercups 1978 war der vierzigjährige Goldjörgle Thoma aus Hinterzarten mit sattem Vorsprung vor dem Zweitplazierten, dem Verfasser. Der Olympiasieger von Squaw Valley sollte in der Folge noch etliche Male gewinnen; bis heute hält er mit 5.51 Stunden die Streckenrekordzeit, erlaufen bei blitzschnellem Harsch und schneebedingt leicht modifizierter Streckenführung.

Jörgle Thoma, der Olympiasieger, unterwegs.

Soviel Nostalgie im Fernsehsessel muss erlaubt sein in diesem Krisenwinter 2021, wo doch schon die nächsten Übertragungen warteten. Der gefeierte Zweitplazierte des Super-G-Rennens, der Freudentränen vergießende Romed Baumann, war erneut am Start, diesmal in der Königsdisziplin der Speedfahrer, in der Abfahrt, wo Freud und Leid anscheinend noch enger zusammenrücken: Beim Abschwingen nach dem Überqueren der Ziellinie im Höchsttempo stürzte er, schoss unter der Bande hindurch und zog sich Schnittwunden im Gesicht sowie eine Gehirnerschütterung zu. Ob er auch diesmal wieder Tränen vergossen hat, ob aus Wut oder Schmerz, blieb ausgeblendet. Zweitplazierter und Silbermedaillengewinner wurde indes sein deutscher Teamkollege: Um eine einzige Hundertstelsekunde ist er am Weltmeistertitel vorbei geschrammt. Feuchte Augen zeigte auch er im nachfolgenden Interview. Freute er sich über die Silbermedaille oder haderte er mit sich über den so knapp verpassten Sieg? Als cool und glücklich – doch erstaunlich tränenlos – sollte sich im Zielraum-Interview einzig die überraschende Zweitplazierte im Abfahrtsrennen der Damen erweisen, auch sie Mitglied des deutschen Teams. Nicht einmal mehr auf die Klischees scheint noch Verlass zu sein beim Sport. Erst bei der so unerwarteten Goldmedaille für das Mixed Team beim Obersdorfer WM-Springen passte wieder alles zusammen: Es heulten alle Vier vor Glück!

Emotionen pur – selbst unter
Rucksackläufern