Vom Zauber des Tannenholzes
Die Tanne ist mehr warm als kalt und hat viele Kräfte in sich. Denn an welchem Ort auch immer Tannenholz ist, hassen und meiden es die Luftgeister mehr als andere Orte, und schlechter Zauber und Magie haben dort weniger Kraft.
Hildegard von Bingen, Physika III
Die Weißtannenhöhe, den knapp 1200 m hohen Berg zwischen Hinterzarten, Breitnau und St. Märgen, kennen – zumindest dem Namen nach – fast alle, zumal die Skiläufer, die ihn zu Tausenden zu umrunden pflegen und die Fußwanderer, die ihn auf dem Westweg des Schwarzwaldvereins überqueren. Ob sie sich wohl wundern, weshalb da oben nur Fichten und keine Weißtannen wachsen? Untersuchte man das Gebälk des Weißtannenhofs, dem der Wald gehört, käme unter der Ruß- und Staubschicht gewiss Tannenholz zum Vorschein. Bis zu eintausend Festmeter Holz wurden zum Bau eines einzigen Schwarzwaldhofs benötigt. Und wo immer Tannen zur Wahl und in ausreichender Menge wie Stärke zur Verfügung standen, gaben die Erbauer ihr den Vorzug, galt sie doch als haltbarer und wetterfester. Was zeigt, dass der Wald noch im Spätmittelalter sehr viel tannenreicher gewesen sein muss – wie sonst wären Hof und Berg einst zu ihrem Namen gekommen. Doch wo gerodet, geweidet und in der Neuzeit wieder aufgeforstet wurde, verschwand die Tanne, und so findet sie sich heute am ehesten noch in den schwer zugänglichen Blockhalden des Höllentals oder in den wohlbehüteten Klosterwäldern, dem heutigen Staatswald.
Auch die Erbauer des Freiburger Münsters wussten die Tanne zu schätzen. Ob im Dach- oder im Glockenstuhl, für sie kam nur (Weiß-)Tannenholz in Frage. Und das allein schon der benötigten Dimensionen wegen: Die nahezu zylindrische („vollholzige“) Form von Tannenstämmen erlaubte es, Balken jeder Größenordnung zurecht zu beilen und zu sägen. Und wenn die Zimmerleute der Münsterbauhütte heute Balken altershalber zu ersetzen haben, stöbern sie mit Vorliebe im noch immer verwendbaren Abbruchholz uralter Schwarzwaldhöfe herum. Dass die „Luftgeister“ der heiligen Hildegard das Münster an jenem 27. November 1944, im Inferno des alliierten Luftangriffs, verschont haben, dürfte freilich nicht nur dem Tannenholz zu verdanken gewesen sein.
Klar, dass die Altvorderen sich auch noch darauf verstanden haben, das Bauholz im richtigen Mond und im richtigen Zeichen zu hauen. Wie sonst hätte das Holz so lange schadlos überdauern können. Im Turm der Sulzburger Pfeilerbasilika St. Cyriak, dem ältesten erhaltenen Kirchturm Südwestdeutschlands, fand sich sogar noch ein Balken aus einer im Winter des Jahres 996 n. Chr. gefällten Tanne, wie es die Dendrochronologen ermittelt haben.
Dennoch ist zwischenzeitlich die Fichte zum bevorzugten Produkt der Bauholzsäger avanciert. Die Tanne erlitt ein Minderheitenschicksal: Einzeln beigemischt in den Fichten-Verkaufslosen stört sie nur, denn Weißtannen haben ein anderes Trocknungsverhalten, was den Produktionsprozess verteuert. Weshalb Tannen-Stammholz, allen Vorzügen zum Trotz, ab Wald noch immer mit einem Tannenabschlag belegt wird. Umso mehr Überzeugungsarbeit kostet es die Förster bei der Beratung der Waldeigentümer, einen tannenfreundlichen und damit zukunftsfähigen Waldbau in die Wege zu leiten. Doch das Eigenheim in Holz hat Konjunktur, und die rückläufige Verfügbarkeit von Fichtenholz trägt mit dazu bei, dass mancher Häuslebauer inzwischen auch wieder Wert auf edles Tannenholz legt, nicht nur im Dachstuhl, sondern vermehrt auch im Innenausbau, bei Dielen, Treppen oder Fenstern. „Schwarzwälder Tanne“ hat das Zeug zum Premiumprodukt.
Neuerdings hat auch der Weißtannenbauer wieder Tännchen in seinen Wald gepflanzt, weil er ihn fit machen will angesichts all der klimatischen Unwägbarkeiten. Weshalb die Weißtannenhöhe ihren Namen auch bald wieder zu Recht tragen wird.