Keine Hiobsbotschaft aus dem Höllental
Die Tanne war wie lebend
In Trauermelodie
Durch alle Fasern bebend
Sang diese Worte sie:
Du kehrst zur rechten Stunde,
O Wanderer, hier ein
Du bist´s, für den die Wunde
Mir dringt ins Herz hinein!
Aus: Justinus Kerner (1786-1862): DerWanderer in der Sägemühle
Es geht nicht gut aus im Gedicht Der Wanderer in der Sägemühle des dichtenden schwäbischen Arztes Justinus Kerner, weder für die Tanne, die in der Sägemühle zerlegt wird, noch für den Wanderer, zu dessen Sarg sich die vier Tannenbretter zusammenfügen lassen. „Trauermelodien“ stimmen derzeit nicht nur die Medien an, wenn es den Zustand der Wälder zu beschreiben gilt; in den Berichten tragen selbst die unlängst noch als klimahart gepriesenen Weißtannen Trauer nach den drei so extremen Trockenjahren, von den Fichten ganz zu schweigen. Da möchte man sich doch auch selbst ein ungeschminktes (weder allzu desolates noch touristisch geschöntes) Bild vom Gesundheitszustand verschaffen: Wie haben die Tannen wohl den Trockenstress überstanden – gar in den blocküberlagerten sommerseitigen Steilhängen des Höllentals?
Eben dort hatte ich vor vierzehneinhalb Jahren Motive für mein Tannenbuch1 gefunden, fünf Jahre nach jenem trockenheißen Rekordsommer 2003, der nur Weinkennern positiv als Jahrhundertjahrgang in Erinnerung geblieben ist. Wo, wenn nicht hier, müssten die überalterten Tannengreise doch mittlerweile am Darben und Verdursten sein: In den Blockhalden hoch über dem Zinken Posthalde mit seinem einstigen Gasthaus Adler, das zur Hälfte mitsamt der hauseigenen Sägemühle dem vierspurigen Ausbau der B 31 hatte weichen müssen wie auch mit einer Station der Höllentalbahn, wo seit dem Ende der 1970er Jahre kein Zug mehr hält. Und wo, wenn nicht im Henslerwald, im Privatwald der seit dem 17. Jahrhundert hier ansässigen Posthalter- und Gastwirtefamilie Hensler. Das Waldsterben der 1980er Jahre hatten die Tannen, all der Abgasbelastung des nicht mehr abreißenden Verkehrsstroms auf der Bundesstraße zum Trotz, leidlich überstanden wie auch die Orkane der 1990er Jahre. Gewiss, es war auch die eine oder andere Tanne vorzeitig rotbraun und abgängig geworden, wie sich mir der Bergmischwald damals präsentiert hatte, zerzaust auch da und dort von den Stürmen. Sogar die bizarre, uralte Kandelabertanne hatte es zerrissen, die ich hoch oben in der Halde entdeckt und für mein Buchprojekt reserviert hatte.
Doch alles in allem schienen mir die Tannen, wie ich sie im Jahr 2008 mit der Kamera festgehalten hatte, weitaus besser dazustehen als befürchtet. Zwar zeigten die Storchennestkronen vielfach noch die aus den Jahren des Waldsterbens sattsam bekannten Verlichtungen, doch die Ausfälle hatten sich offensichtlich in Grenzen gehalten – selbst auf den extremsten Standorten der Halde.
Nun also ein erneuter Krankenbesuch, diesmal bei strahlendem Hochdruckwetter im allzu lauen November 2020 und nach einem Jahr, das bereits jetzt einen neuerlichen Wärmerekord seit Beginn der Wetteraufzeichnungen versprach. Den Wagen vor dem lärmumtosten einstigen Gasthaus abgestellt, die Bergschuhe geschnürt, den Rucksack mit der Kamera geschultert und gemächlich den steilen Schleifweg hochgestiegen, über welchen die Henslers seit vier Jahrhunderten ihre Tannen zur Sägemühle brachten – wie heute noch zum kranbeschickten Holztransporter an der Hofeinfahrt. Die Henslers sind auch diesmal am Holzschleifen, der Senior auf dem Schlepper, der ebenfalls bereits graubärtige Schwiegersohn zu Fuß beim Abhängen und Poltern der Laubhölzer, die sie sich für den Heizbedarf aus dem Hang geholt haben. Vom jüngeren der Beiden möchte ich nach kurzer Begrüßung wissen, wie er die gegenwärtige Lage im Wald einschätzt: „Was machen denn Eure Tannen da oben?“, frage ich ihn, „wie haben sie den Sommer überstanden?“ „Sie stehen noch“, ist seine lakonische Antwort. Worauf ich ihm erkläre, dass ich mich extra ihretwegen mit der Kamera in den Henslerwald aufgemacht habe.
Alsdann klettere ich über die Felsbrocken der Geröllhalde hinweg exakt zur Stelle, von wo aus ich damals, zwölf Jahre jünger und auch etwas geländegängiger noch, fotografiert hatte. Und o Wunder: Gar nichts Dramatisches scheint sich inzwischen ereignet zu haben – die Tannenkronen wollen mir jetzt eher voller und dichter benadelt erscheinen als auf den Fotos von damals! Als ob nicht unlängst erst der Waldzustandsbericht Gegenteiliges vermeldet hätte: Noch nie seit dem Jahr 1984, der Ersterfassung, sei die Benadelung der Baumkronen so schütter gewesen wie gegenwärtig! Gewiss, da oben strecken ein paar Käferfichten ihre dürren Dolden oben heraus, wie sie ja auch auf der Herfahrt bereits das Waldbild der Sommerhänge des Höllentals geprägt und verunziert haben.
Macht jetzt etwa auch die Weißtanne schlapp? – so hatte ich im Frühjahr 2020 angesichts all der Hiobsbotschaften im forst- und holzwirtschaftlichen Fachblatt2 gefragt? Entsetzt über die Zunahme des Schadholzprozente auch der Weißtannen in den forstlichen Statistiken und über die Waldbilder oberhalb der Stadt Freiburg mit all den braun verfärbten, vom krummzähnigen Tannenborkenkäfer befallenen Weißtannen in den flachgründigen Hanglagen um den Kybfelsen, hatte ich die Befürchtung geäußert, dass nächstens auch mit der Weißtanne kein Staat mehr zu machen sein könnte. Wo sich die Experten der Freiburger Forstlichen Versuchs und Forschungsanstalt beim Thema Waldumbau im Klimawandel doch längst mit Libanonzedern und Douglasien anstatt mit Tannen befassen.
Doch hier, beim Blick über die Blockhalde hinweg, fasse ich mit einem Mal wieder Hoffnung für diese Baumart, verspüre ich einen neuerlichen Schub an Sympathie, wie sie mich schon ein Berufsleben lang begleitet und für die Weißtanne motiviert hat. Sodass mich nun der Schleifweg dazu verleitet, ihm noch ein ganzes Stück bergauf zu folgen. Im Gegenlicht sind – allem Anschein nach – kerngesunde Tannenkronen zu bewundern mit reichlich Kerzenpracht obendrauf, von der Novembersonne prächtig in Szene gesetzt vor dem schwarzschattigen Gegenhang. Derweil sind am Unterhang die beiden Henslers noch immer am Holzschleifen, weshalb ich, unten angekommen, einen Moment bei ihnen verschnaufe, vielleicht um sie ein wenig teilhaben zu lassen an meiner neu gewonnenen Zuversicht. Was auf freundliche Erwiderung stößt.
Schließlich, am einstigen Gasthaus „Adler“ wieder angelangt, tritt eben die Henslerin vor die Tür, und wir begrüßen uns recht vertraut, denn nach den zwölf Jahren hat sie mich offensichtlich wiedererkannt. Auf meine Frage, wie denn nun sie den Zustand ihres Walds einschätzt, berichtet sie, kürzlich erst selber den Schleifweg hinaufgestiegen sein: Ob der vielen Dürrständer sei sie erschüttert gewesen! Ob ihr die Weißtannen da oben nicht doch auch Anlass sein könnten für mehr Gelassenheit, hätte ich sie zum Abschied gern gefragt, die gleichmütigen Äußerungen des Schwiegersohns noch im Ohr und die Zapfen tragenden Tannenkronen noch vor Augen – doch dann habe ich die Frage wieder runtergeschluckt. Genug der Hiobsbotschaften und der „Trauermelodien“ nach Justinus Kerner um die Tannen?
1Hockenjos, W.:Tannenbäume. Eine Zukunft für Abies alba. DRW-Verl. 2008.
2Hockenjos, W.: Macht jetzt auch noch die Tanne schlapp? Holz-Zentralblatt v. 17. 4. 2020 Nr.16 S. 303.