Erbstück Familienname

Erbstück Familienname

12. Oktober 2021 0 Von Wolf Hockenjos

Was trägt man doch für einen seltsamen Namen – einen jedenfalls, der auf den Briefkuverts immer wieder zu Verbalhornungen führt! Auf den Ämtern wird erst mal auf einen Hör- oder Schreibfehler getippt, wo doch der Name Hackenjos (mit a anstatt o) so viel geläufiger ist, im Badischen zumindest. Wohingegen Hockenjos eher ausländisch klingt, gar nach ungarischem oder skandinavischem Migrationshintergrund. Dabei verdankt der Name seine Entstehung, sofern denn der einst obligaten väterlichen Ahnenforschung zu trauen ist, schlicht einem Flüchtigkeitsfehler im Rathaus der Stadt Lahr. In Maali, Wiibli un Lohrer unterteilen sie dort bekanntlich die Menschheit. Ein Zuwanderer aus dem württembergischen Tennenbronn, der das durch Kriege verwüstete und entvölkerte Rheintal als neue Chance sah und der noch anno 1704 mit Matthias Hackhen Joß unterschrieb, findet sich bereits in einem Lahrer Ratsprotokoll vom 7. 7. 1678  in der Schreibweise Hockenjos wieder, als er sich um das dortige Bürgerrecht beworben hatte. Auch im Lahrer Kirchenbuch ist er von Anfang an mit dem neuen Namen verzeichnet. „Die Ursache für den Umlautwechsel kennen wir nicht“, notierte der Vater*; „sie liegt wohl in der Lahrer Mundart, wo man ja auch Lohr sagte und schrieb.“ Jedenfalls blieb der Name Hockenjos exklusiv dem damals aus dem Schwarzwald nach Lahr Zugewanderten und dessen Nachkommen vorbehalten, während sich bei den in der alten Heimat verbliebenen, wie auch bei den erst später ausgewanderten Hackenjosen die alte Namensform durchweg erhalten hat: Rund um die Bergstadt St. Georgen bis auf die Baar hinaus und in den Breisgau hinunter ist deren Name noch immer weit verbreitet.

Umso mehr darf gerätselt werden, was den einst überaus populären und äußerst produktiven Erzähler Jakob Wassermann (1873 – 1934) dazu veranlasst haben könnte, ausgerechnet den Namen Hockenjos im Titel und für den Protagonisten eines seiner Frühwerke zu verwenden: für sein Bühnenstück Hockenjos oder Die Lügenkomödie.

Während er die Namen der übrigen handelnden Personen seiner im fränkisch-württembergischen Städtchen Schopfloch angesiedelten Komödie offensichtlich frei erfunden hat (Karinkel für den Bürgermeister, Mettenschleicher für den Bildhauer und Agenten, Bienemann für den Redakteur des „Tagblatt“, Hannemann für den Wirt, Schnabelwald für den Bankier und Stadtverordneten, Federlein für den Bader) muss der Antiheld des Stücks, der schwäbelnde Lehrer und Trunkenbold Jakob Hockenjos, ausgerechnet einen real existierenden, wenn auch eher ungewöhnlichen mittelbadischen Familiennamen tragen.  Es ist nicht bekannt, ob der im fränkischen Fürth geborene Wassermann jemals einen Abstecher ins Großherzogtum Baden unternommen hat. Doch wann und wo sonst mag er bloß auf meinen Familiennamen gestoßen sein – und was hat diesen für die Rolle eines verhinderten und verluderten Teilnehmers einer Südpolexpedition prädestiniert?

Der Inhalt der „Lügenkomödie“ ist rasch erzählt: Der Schopflocher Bürgermeister und ein Bildhauer beschließen, zur Aufwertung des Städtchens dem Nachbarort Dinkelsbühl nachzueifern und ein Denkmal für den vermeintlich auf der Expedition in die Antarktis verschollenen Lehrer Jakob Hockenjos zu errichten. Während seine Witwe und die Tochter Helene trauern und die Vorbereitungen auf vollen Touren laufen, trifft, kurz vor der Grundsteinlegung, zu welcher sich sogar der Regierungspräsident per Extrazug angekündigt hat, der reichlich verwilderte Jakob Hockenjos überraschend wieder zuhause ein. In Wahrheit hatte er es, wie er zugeben muss, nie auf den Expeditionsdampfer, sondern nur bis Hamburg geschafft, wo er sein Geld versoffen hat. Weil es aber kein Zurück mehr geben kann und das Denkmal dennoch errichtet werden soll, beschließen die Kommunalpolitiker, den Heimkehrer mit Geld und Alkohol dazu zu bewegen, sein Aussehen verändern zu lassen und unerkannt wieder zu verschwinden. Im Stuhl des Baders Federlein, der ihm den Bart rasieren und ihn unkenntlich machen soll, kann Jakob Hockenjos  bei geöffnetem Fenster nach einem Musiktusch eben noch der Festansprache von Bürgermeister Karinkel lauschen:

Federlein: Sie müsse´ den Kopf e´ bissele nach links halte´. 
Karinkels Stimme.  Hier steht seine trauernde Witwe, die mit Schmerz der Tage gedenkt, wo sie ihn noch besessen. Wo mag sein hoher Geist jetzt weilen? Sein Leib, wir wissen es, ruht im Eismeer – 
Federlein (gerührt). Schön spricht er, wunderschön.
Karinkel. – umkreist von Möven und Robben – 
Federlein. Halte´ Se´n Kopf e´ bissele nach rechts.
Helene (stürzt zur Thüre herein, wirft sich Hockenjos an die Brust). Ich geh´ mit Dir, Vater!
Hockenjos. Dees haw´ i ´ezt nit gewusst, dass i e´ so bedeutender Mensch bin. Komm´, mei´ Mädle.
Viele Stimmen. Hoch! Hoch! (Musik.)

Der Vorhang fällt.

Das nach Bauerntheater klingende Frühwerk, das (wie WIKIPEDIA weiß) im Oktober 1900 auf der Berliner jungen Sezessionsbühne uraufgeführt wurde, ist eine Satire auf die Kleinstadtverhältnisse wie auf die kommunalen Entscheidungsabläufe. Man ahnt, dass die Kritiken recht unterschiedlich ausgefallen sein müssen: Neben Lob vom namhaftesten Berliner Theaterkritiker der Jahrhundertwende, von Alfred Kerr, soll sich Rainer Maria Rilke von der Inszenierung eher enttäuscht gezeigt haben, wie es heißt, wegen des bescheidenen literarischen Gehalts des Stücks. 

Wie seltsam aber doch, dass Hockenjos oder die Lügenkomödie sich nie bis in unsere Familie herumgesprochen hatte. Was hätten wir uns als Jugendliche ob des schrägen Namensvetters amüsiert und wie hätten wir uns mit ihm gegenseitig veralbert, hätten das Stück womöglich sogar zuhause nachgespielt! Jakob Wassermann, der Jude, fehlte indes im väterlichen Bücherschrank, selbst seine bekanntesten Romane Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens und Der Fall Maurizius; genauso wie der Jude Berthold Auerbach (1812 – 1882) mit seinen Schwarzwälder Dorfgeschichten oder mit Barfüßele. Beide hatten sie auch um ihre gesellschaftliche Anerkennung geschrieben. Waren sie einfach nicht nach Vaters Literaturgeschmack – zu bürgerlich, zu spießig, nicht mehr zeitgemäß genug? Oder wirkte da in der Generation der Kriegsteilnehmer noch etwas ganz anderes nach – jene spezielle Art deutscher Beklommenheit? Jakob Wassermann starb 1934 in seiner Villa in Altaussee in Österreich. Die Verfolgung durch die Nazis ist ihm eben noch erspart geblieben.

Dass es der Name Hockenjos (mit o statt mit a) in die Literaturgeschichte geschafft hat – und sei es als noch so unbedeutende Fußnote – ist freilich nicht nur Jakob Wassermann und seiner frühen Komödie zu verdanken:  Im Jahr 1865 hatte sich der Dichter Friedrich Geßler (nach dem in Lahr noch eine Straße benannt ist) auf die Suche nach dem vergessenen Grab der Sesenheimer Goethe-Geliebten Friederike Brion (1752 – 1813) gemacht. Den Weg dahin wies ihm schließlich der Meissenheimer Totengräber Andreas Hockenjos, sodass im Jahr darauf an der Meissenheimer Kirchenmauer ein neues Brion-Grab eingeweiht werden konnte, das 1966 noch um ein Marmorbildnis erweitert werden sollte – in einem Festakt, fast so effektvoll wie in Wassermanns Lügenkomödie.

 *Hockenjos, Fritz: Die Hockenjosen. Unveröffentlicht, 1989.