Heinrich Hansjakob besucht Lucian Reich in Hüfingen
von Dr. Ursula Speckamp am 21.10.2021
Den am 1. Dezember 1899 gefassten Entschluss, das Schriftstellern aufzugeben, hielt Hansjakob nur zwei Monate durch, dann griff er wieder zur Feder. Und, so schrieb er weiter fast bis zu seinem Tod am 23. Juni 1916. Sein letztes Werk war eine Antikriegsschrift, die im Frühjahr 1916 erschien. 1)
Das Tagebuch, das er während seiner Sommerreise im Jahr 1900 führte, gibt über rund 100 Seiten Aufschluss über die Baar, wie Hansjakob sie erlebte.2) Bei dem großen Interesse, das der Schriftsteller Menschen, vor allem solchen aus dem „einfachen Volk“ entgegenbrachte, erstaunt es nicht, dass der Leser dieses Reisetagebuchs, das 1902 unter dem Titel „Verlassene Wege“ herauskam, viel über die Begegnungen Hansjakobs mit anderen Menschen erfährt. Da der Priester und Philologe – er war Absolvent zweier Fakultäten – schon bald nach Beendigung seines Studiums als Lehramtspraktikant in Donaueschingen weilte (Januar 1864 bis April 1865), gehen manche seiner Ausführungen auch in jene Zeit zurück.
Als Lehramtspraktikant selbstverständlich damals zu Fuß unterwegs, reist Hansjakob in späteren Jahren, so auch jetzt, meist in der eigenen Kutsche. Das erlaubte ihm, die Route selbst zu bestimmen, ungestört zu schauen, nachzudenken und zu schreiben. Hansjakob war ein unermüdlicher Arbeiter. Von Freiburg her kommend verlässt Hansjakob mit Wolterdingen den Schwarzwald und gelangt in „die alte Bertholds-Baar“. „Die Baar“, urteilt Hansjakob, „unterscheidet sich wesentlich vom Schwarzwald. Sie entbehrt seiner Romantik, seiner düstern Wälder, seiner Felsen und seiner Wasserfälle; aber dafür ist sie auch nicht so rauh und so kalt, und während ihre Höhen lichte herrliche Wälder krönen, gedeihen in den Tälern und auf den Ebenen noch reichlich alle Halmfrüchte. Drum hat die Baar auch einen viel wohlhäbigern, aber auch stolzern Bauernstand als der Schwarzwald. Heute, im hellen Sonnenschein….machten mir ihre langgezogenen Bergrücken und ihre grünen, satten Triften den Eindruck süßer Elegie.“ (67 f.) Er muss sich gestehen, dass die Baar auch schön sei, sie habe eben ihren eigenen Charakter, und den Charakter müsse man nicht nur bei Menschen in Ehren halten.
Nach dem Besuch von Bräunlingen, Mundelfingen, Donaueschingen erwacht Hansjakob am Morgen des 21. Juni 1900 im Hüfinger Pfarrhaus. Solche Pfarrhausunterkünfte hatte Hansjakob auf seinen Reisen oft, besonders in der Diözese Freiburg, in der er etliche Pfarrer kannte, boten Pfarrhäuser doch eher als es Gasthöfe vermochten, eine ruhige Übernachtungsmöglichkeit. Ein passender Titel für das vorliegende Reisetagebuch „Verlassene Wege“ wäre auch, wie Hansjakob bemerkt, „Von Pfarrhaus zu Pfarrhaus“. (S.VII)
Schon zu früher Stunde begibt er sich zu dem „Volksschriftsteller Lucian Reich“. (109) Der war einst am Rastatter Gymnasium Hansjakobs Zeichenlehrer gewesen. „Im dritten Stocke eines kleinen Häuschens, über dessen schmale Treppe ich mich förmlich hinaufzwängen mußte, traf ich ihn. Er war hocherfreut über meinem Besuch, der dreiundachtzigjährige Greis, in dessen Züge sich Bitterkeit und Biederkeit die Waage halten. Er kommt seit Jahren nicht mehr aus seiner Stube und unter die Menschen, und sein einziges Kind, eine Tochter, pflegt ihn. Unermüdlich ist er aber noch geistig thätig, liest und zeichnet und schriftstellert.“ (109)
Hansjakob holt nun aus, um das Leben von Lucian Reich nachzuzeichnen: Lucian Reich, gebürtiger Hüfinger – sein Vater war hier Lehrer und Bildhauer – erbte ebenso wie sein Bruder die künstlerische Begabung des Vaters. Der Bruder Xaver wurde ein bedeutender Bildhauer, Lucian Maler und Schriftsteller.
„Er half dem berühmten Maler Schwind die Kunsthalle in Karlsruhe mit Bildern schmücken und malte später auch im neuerbauten Hoftheater.“ (109 f.)
Während dieser Arbeit veröffentlichte Reich sein bestes Buch, wie Hansjakob urteilt: “Hieronymus, Lebensbilder aus der Baar und dem Schwarzwald“. (110) Hansjakob hält es für eines der besten Volksbücher überhaupt. Die Illustrationen, alle von Reich selbst, zeichnete sein Hüfinger Jugendfreund Heinemann in Stein. Heinemann lebt auch heute noch in Hüfingen. Die Herausgabe des Werkes war ein finanzielles Desaster: Um die Veröffentlichung zu ermöglichen, gab der Fürst von Fürstenberg einen Vorschuß. Ein Verleger fand sich nicht; es mußte „in Komissionsverlag genommen werden“. (110) Der Verkauf lief gut, dennoch blieb ein Defizit, nachdem der Fürst den Vorschuß zurückerhalten „und – nicht sehr fürstlich – auch genommen hatte“. (110) Mit den späteren Werken von Lucian Reich ging es ähnlich.
In den 1850er Jahren, so Hansjakob, ging es der „malenden Kunst“ in Baden schlecht. Um sich einigermaßen durchzubringen, nahm Reich 1855 die Stelle eines Zeichenlehrers am Rastatter Lyzeum an. Im Rastatter Schloß erhielt er ein Atelier. Am Lyzeum wirkte er bis 1889. Während dieser langen Jahre gelang es ihm nicht, auch nur Reallehrer zu werden. „Er blieb Hilfslehrer mit einem Höchstgehalt von 116 Mark monatlich und ohne Anspruch auf Witwen – und Waisenversorgung und Pension.“ (111) Hansjakob erinnert sich gut an seinen Zeichenlehrer: Er war ein stiller, ernster, sinniger Mann. Er ging im Zeichensaal von Schüler zu Schüler und stand „jedem mit Rat und That“ bei. (111) Und jetzt? „Gutthatsweise“ erhielt er ein Ruhegeld von 71,50 Mark monatlich. Davon lebte er 11 Jahre bis zu seinem Tod, der wenige Wochen später eintrat. „Bitter hat er´s empfunden und bitter mir heute darüber geklagt, daß er kaum zum Leben habe und seine Tochter mittellos zurücklassen müsse.“ (112)
Beim Abschied übergibt Reich dem Schriftsteller den letzten Brief eines zum Tode verurteilten Revolutionärs, den er von dessen sterbender, in Hüfingen ihre Tage beschließender Braut – sie war ledig geblieben – vor einige Jahren erhalten hatte. Reich meinte, Hansjakob könne diesen Brief „am besten verwerten“, was Hansjakob tut, indem er über den zum Tode Verurteilten – es handelt sich um Joseph Kilmarx aus Rastatt – berichtet und diesen Brief in „Verlassene Wege“ aufnimmt.
Kilmarx war Soldat, Feldwebel, Magdalene Peter, als Waise von einer Verwandten in Rastatt erzogen, seine Braut. Als die Revolution ausbrach, schloss sich Kilmarx ihr an. Beliebt bei seinen Kameraden wurde er bald tüchtiger Offizier. Nachdem die Festung Rastatt kapituliert hatte, nahmen ihn die Preußen gefangen und verurteilten ihn zum Tode. Hier Kilmarx´ Abschiedsbrief:
Rastatt den 8. Oktober (1849) Morgens 6 Uhr 1849
Liebes Bäßle und Magdalene!
Die Todesstunde naht. Schauerlich pfeift der Wind in meinem Kerker, als wäre er der Verkünder meines Dahinscheidens. Ich schrecke nicht davor, ich bin versöhnt mit Gott, dem Allmächtigen und sterbe als Christ, der keine böse That begangen hat. Längst einer halben Stunde gehe ich zu meinem und zu eurem Vater, zu meinen Geschwistern und zu euren, wo ich´s besser finden werde als allhier. Ich vertraue auf Gott, habe mich zu ihm gewendet, und er wird mir alles verzeihen und mich zu sich in sein Reich aufnehmen. Denkt auch später an mich, schließt mich in euer Gebet ein, ich werde es auch thun. Den Allmächtigen werde ich bitten, daß er euch Segen willfahren läßt. Der Magdalene wünsche ich Glück in allem, was sie je unternehmen wird, wenn sie einstmals Frau sein wird. Die Thüre wird geöffnet, zum Todesplatz geht´s: Lebet wohl, im Himmel sehen wir uns wieder.
J. Kilmarx
Hansjakob fügt hinzu, daß der Brief mit fester, sicherer Hand geschrieben sei. Kilmarx ging furchtlos in den Tod. Der Schriftsteller erinnert sich: „Sein greiser, invalider Vater, den ich noch wohl kannte, begleitete ihn auf dem Todesgange und rief ihm zu: ` Joseph, bleib ‘standhaft! ´“ (116)
Als Hansjakob von seiner Reise zurückkehrt, findet er in Freiburg einen Brief von Lucian Reich vor, in dem dieser noch einige Notizen über sein Leben nachsendet und mitteilt, er fühle, daß er in Kürze sterben werde. Als Hansjakob den Brief in Händen hält, ist Reich bereits verstorben. In jenem Brief bittet Reich Hansjakob darum, sich etwas um seine mittellose Tochter anzunehmen. „Ich that es“, berichtet Hansjakob, „und durch die mächtige Vermittlung des Finanzministers Buchenberger erhielt sie eine namhafte Unterstützung von Karlsruhe. So wird einigermaßen gesühnt, was an dem Vater versäumt wurde.“ (118 f.) (Anmerkung von Hieronymus-online: Die Tochter von Lucian Reich, Anna Reich, heiratete einen verwitweten Müller und reichen Landwirt aus Neudingen und zog dessen Kinder groß. Sie selbst verstarb kinderlos in hohem Alter.)
Um halb neun Uhr morgens beendet der Reisende seinen Besuch bei Lucian Reich. Schon bald, bei munteren Pferden und ausgeruhtem Kutscher erreichen sie Behla, und Hansjakob nimmt Abschied von der Baar: „Sie lag, wenn auch nicht sonnenbeglänzt, doch so stattlich und so bescheiden vornehm vor meinem Auge, daß ich mir sagte: `Fürwahr, wenn ich kein Schwarzwälder wäre, möchte ich aus der Baar sein. ` Die Residenz Donaueschingen glänzte von unten zu mir herauf wie eine reizende Hirtenkönigin.“ (119)
1) Heinrich Hansjakob, Zwiegespräche über den Weltkrieg, gehalten mit Fischen auf dem Meeresgrund, Stuttgart 1916
2) Ders., Verlassene Wege, Waldkirch 1986 (Nachdruck von 1902). Alle Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
Eine aussergewöhnliche Begegnung zweier bedeutender Persönlichen.
Sehr einfühlsamer Beitrag.
Sehr anregend und interessant, vielen Dank für die Aufbereitung und Veröffentlichung.
So stellt man sich unterhaltsame, anregende erzaehlungen aus vergangenen baaremer kulturzeiten vor.
Denke frau dr. Speckamp u.myriam jaag u.dem hieronymus-online