Liebes- und Heiratsgeschichte

Liebes- und Heiratsgeschichte

16. Februar 2024 0 Von Hannah Miriam Jaag

Hieronymus Kapitel 8

So hüt di vorem böse Ding s’bringt nume Weh und Ach’ Wenn’s Sunntig isch se bet und sing Am Werchtig schaff di Sach.
>Johann Peter Hebel


Liebes- und Heiratsgeschichte

Es war zur hohen Sommerszeit; der alte Klaus saß ruhig bei seinem Feuerherd unter dem Tierstein, in dessen unmittelbarer Nähe er seine Kohlestatt aufgeschlagen hatte. Die Sonne brannte heiß an die zackige Granitwand; und nur zuweilen strich ein leises Lüftchen durch die Erlen und über die Wellen der nahe vorbeifließenden Bregach. Die Natur schien ihr Mittagsschläfchen zu halten, so ruhig war es rings umher – nur im reinen Himmelsblau wiegte sich ein Geier, seiner Gier nach Beute von Zeit zu Zeit durch einen schrillen Pfiff Ausdruck gebend. – Da kam ein Bube gelaufen mit dem Bericht: Die Johanna schicke ihn, der Vater soll heimkommen, der Dieter sei da. – Verwundert erhob sich der Alte, umging einigemal schweigend den Meiler, gab dann dem Kolumban noch einige Anweisungen und begab sich gedankenvoll auf den Heimweg.

Zu Hause angekommen, traute er seinen Augen kaum, als ein feiner Herr ihn als Vater begrüßte. Es war richtig sein Dieter, aber in welch auffallender Umgestaltung. Ein flohbrauner Rock mit langen Schößen und großen blankgeschliffenen Stahlknöpfen, die gestickte Atlasweste, die kurzen Beinkleider von pomeranzfarbigem Kaschmir, die seidenen Strümpfe mit geblümten Zwickeln, der dreieckige Hut auf dem gepuderten Toupet, ein leichtes Bambusstöckchen, das er in der Hand schwenkte, gaben dem ehemaligen Köhlersjungen vollständig das Ansehen eines Stutzers damaliger Zeit.

Auf die Fragen des Vaters gab Dieter indes wenig Auskunft: er sei ein gemachter Mann, Freund und Associe eines Millionärs – mehr könne er vorderhand nicht sagen. Sein Freund sei mit ihm hieher gereist und werde in Zeit einer Stunde da sein und sein Absteigquartier im Haus nehmen, ihm, dem Dieter, zum Gefallen.

Der Alte schüttelte den Kopf; es schien ihm fast, als sei es bei dem Dieter nicht ganz richtig im Oberstüblein. Wenn er aber dann wieder an die Aussagen des durchreisenden Handwerksburschen dachte, so wollte es ihm vorkommen, es möchte doch vielleicht etwas an der Sache sein. – Monsieur Dieter blieb indes nicht lange untätig; er ordnete und kommandierte im Haus, daß die guten Leute ganz verwirrt wurden. Schwester Johanna mußte den alten, eichenen Tisch mit einem frisch gewaschenen Tischtuch bedecken und einen Blumenstrauß daraufstellen. Die Schlafkammer mit der großen Himmelbettstatt hatte Dieter schon gleich beim Eintritt ins Haus für sich und seinen Freund in Beschlag genommen. Sogleich mußte das Lager mit frischem Leinenzeug überzogen werden.

In der Wohnstube zerrte er einige Kleider des Alten, welche an der Wand hingen, eiligst herab und warf den ganzen Plunder durch die Kammertür, dabei ausrufend: „Ihr habt auch gar keine Passion für Ordnung, ihr Landleute!« – Hierauf riß er das Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen. Das große, vom Alter gebräunte Kruzifix über dem Tisch wollte er auch herabnehmen und beseitigen, weil solches nicht mehr in die Zeit passe, aber der Alte packte ihn gewaltig am Arm, mit einer Gebärde, die dem Söhnlein von früher her nur zu gut noch im Gedächtnis haftete. Die Schwester mußte sich umkleiden und ihren neuen Strohhut aufsetzen.

Dann wurde ihr eingeschärft, den reichen Elsässer ja recht artig mit einem Knix zu empfangen. – Der Vater hatte sich wie träumend im großen Lehnstuhl niedergelassen, den Rumor mit Schweigen betrachtend; endlich konnte er nicht anders glauben, als der Dieter komme geraden Wegs aus dem Narrenhaus. – Eben wollte dieser den Vater nötigen, sein rußiges Wams mit dem Sonntagsrock zu vertauschen, als er gegen das Fenster springend ausrief: „A voilà, da kommt er ja schon! – Aufgepaßt, Leute, der Herr, den ihr dort um das Waldeck herumpassieren seht, ist mein Freund, Monsieur Tolberg, der einzige Sohn eines Millionärs!” Mit einem Sprung eilte er zur Türe hinaus.

Wirklich sahen die beiden Zurückgebliebenen einen fremden Herrn in Begleitung eines Bauernburschen, welcher jenem das Gepäck trug, auf das Haus zuschreiten – und alsbald an der Hand Dieters eintreten. Es war ein hübscher junger Mann mit schwarzem Kraushaar, weniger auffallend gekleidet als Dieter, aber von gefälligen Manieren. – Mit Ungezwungenheit begrüßte er den Alten. – Johanna trat aus der Kammertür und bewillkommte den Gast mit einem Kompliment, wie Dieter ihr befohlen hatte. – Der Fremde schien überrascht von dieser Erscheinung; die hübsche Tracht und der noch hübschere Wuchs der jungen Schwarzwälderin machten ihn stutzen. Sie hatte ihren Sonntagsstaat angetan; die weißen fein gefältelten Hemdärmel, der rotsammtne Latz mit den goldenen Nesteln, das dunkelgrüne Goller, der gelbe Strohhut mit den gewaltigen hellbraunen Zöpfen darunter – alles war geeignet, die blühende Gestalt des Mädchens im schönsten Lichte erscheinen zu lassen.

Der junge Herr Tolberg erklärte nun: er sei gekommen, um die wackeren Eltern und Geschwister seines Freundes Dieter kennenzulernen, sowie die traulichen Hütten und romantischen Gegenden des schönen Schwarzwaldes. – „Aber nur dann”, setzte er lächelnd hinzu, „werde ich Eure Gastfreundschaft auf ein paar Tage in Anspruch nehmen, wenn Ihr mir versprecht, Euch in nichts stören zu lassen – und meinetwegen kein Haar breit von Eurer gewöhnlichen Lebensweise abzuweichen.” Johanna wollte aus dem nächsten Wirtshaus eine Flasche Wein holen; Herr Tolberg aber ließ es nicht zu. Er bat um ein Glas Quellwasser, das er nirgends so frisch und erquicklich gefunden wie hier im Schwarzwald. – Ebenso einfach mußte auch auf seinen Wunsch das Abendessen zubereitet werden.

Tolberg schien seinen glücklichsten Abend zu verleben, und Dieter war seelenvergnügt, daß sein Freund sich so gut amüsiere. Das Gespräch war in Fluß gekommen, und Johanna horchte mit gespannter Aufmerksamkeit auf alle Begebenheiten und Abenteuer, welche der junge Mann aus seinem Reiseleben mit beredter Zunge zum besten gab. Es war schon spät, als mit sehr verschiedenartigen Gedanken die Gesellschaft sich trennte, um sich zur Ruhe zu begeben. Mit wenig Zügen läßt sich die Geschichte des jungen Abenteurers und seines Freundes wiedergeben. Dieter, aus der Lehre fortgelaufen, hatte sich in der Fremde umzutun gewußt. Ein gewisses Talent, Sprache und äußerliche Manieren des Städters sich anzueignen, sein guter Humor und geschmeidiges Benehmen konnten nicht verfehlen, ihn bei seiner Umgebung gern gesehen und beliebt zu machen.

In einem Gasthof, wo er als Kellner eine Zeitlang figurierte, hatte er seinen jetzigen Begleiter kennengelernt, der in der Tat der einzige Sohn eines reichen Fabrikherrn im Elsaß war. Die Eltern hatten den jungen Mann auf Reisen geschickt, damit er die Welt und Menschen kennenlerne und im Fache sich weiter ausbilde. Über seine Zukunft konnte weiter kein Zweifel obwalten. Ins Vaterhaus zurückgekehrt, sollte er das große Geschäft übernehmen und die Tochter eines mit Glücksgütern reich gesegneten Hausfreundes zum Altar führen. Von Natur gutmütig, doch dabei leichtsinnig und nicht gewohnt, sich irgend etwas zu versagen, machte er bald einen Auf-wand, fast zu groß für die Verhältnisse eines wenn auch noch so wohlhabenden Handelshauses. – Dieter, der sich an ihn zu machen gewußt, war ihm bald unentbehrlich und fortan sein Begleiter – aber auch sein böser Genius. Im Geldverschleudern entwickelte Dieter eine viel größere Meisterschaft als in der Färberei und Kellnerei.

So besuchten die beiden verschiedene größere Städte des südlichen Frankreichs und der Schweiz. Mitgegebene Wechsel und heimliche Geldsendungen von der Mama, welche, eine Pariserin, ihren Sprößling verzärtelt und verwöhnt hatte, wollten bald nicht mehr ausreichen – und der junge Herr, von Dieter verleitet, nahm seine Zuflucht zu verdächtigen Wechselmanipulationen. Doch hierin hatten sie es noch nicht zur eigentlichen Meisterschaft gebracht; die Sache wurde ruchbar, und Freund Tolberg merkte bald, daß er den vollen Zorn des Vaters zu befürchten habe, denn diesem war die Wechselgeschichte zugleich mit der flotten Lebensweise des Sohnes bekanntgeworden. – Dieter gab den Rat, dem Unwillen des Vaters vorerst aus dem Wege zu gehen und sich eine Weile unsichtbar zu machen. Er schlug vor, sie wollten sich auf den Schwarzwald begeben, zu seinem Vater. Die Abwechslung, meinte er, werde dem Freunde Pläsier machen; sie könnten dort wohlfeil leben, allerlei Suiten und Ausflüge machen, und mittlerweile werde sich das böse Wetter zu Hause bei Papa und Mama verziehen.

Das fand sogleich Eingang bei dem jungen Bonvivant; einen ländlichen Roman hatte er noch nicht gespielt, und auch das mußte einmal versucht werden: „ma foi c’est delicieux!” rief er aus, indem er seinen erfinderischen Freund umarmte. „Dieter, du bist ein köstlicher Kerl, ein Genie! Fort, aufs Land, in die stille harmlose Natur, depechons nous!” Gesagt, getan; eines Morgens waren die Herren abgereist, auf kürzesten Wegen dem Schwarzwald zu.

Am zweiten Tage ihres Hierseins wurden schon Ausflüge unternommen; und als sie spät abends dann nach Hause kamen, mußte Johanna dem Gaste noch einige ihrer Lieder vortragen. Sie besaß eine wunderschöne Singstimme, und nie war Kolumban vom Jahrmarkt heimgekommen, ohne ihr die neuesten Lieder als fliegende Blätter mitzubringen. – Sie sang mit Ausdruck besonders ihr Lieblingsliedchen: „Gestern abend in der stillen Ruh’ hört ich im Wald der Amsel zu”, oder das schöne: „Liebestreu und Liebeskraft.” – Als sie an jenem Abend das Lied „Vom Grafen und der Nonne” gesungen, mit der Strophe:

„Und wenn ich schon nicht reiche bin,
Aller Ehren bin ich voll.
Meine Ehr’ will ich behalten,
Meine Ehr’ will ich behalten,
Bis daß meinsgleichen kommt,
Bis daß meinsgleichen kommt!”

Da konnte der neue Freund seine Bewegung nicht mehr verbergen. Er sprach über Standesvorurteile, und wie der freie Mann all’ diese unnatürlichen Fesseln zerbrechen und Liebe allein den Bund der Herzen schließen müsse usw. Und als er eine Stunde später mit seinem Freund in die Kammer trat, fiel er diesem um den Hals mit dem Ausruf: „Dieter, ich heirate deine Schwester!” „Und Mamsell Dorval?” fragte der Schlaue, wie von einem raschen Gedanken erfaßt.

„Schweig!” rief Tolberg. „Nie wird das verzogene, abgeschmackte Ding meine Gattin, so wahr ich ein Tolberg bin. Ich bin mein eigener Herr. – Nur mit Johanna will ich leben und wär’s in der tiefsten Einöde des Waldes; fern will ich leben von den verächtlichen Krämerherzen der spekulierenden Welt – ich habe sie genugsam kennengelernt!”

Freund Dieter schwieg, und Tolberg trat ans Fenster, durch welches der klare Vollmond blickte. „Hier”, fuhr er fort, „hier find ich mich selbst wieder. – Wahrlich, ich habe bisher ein töricht Leben geführt – es muß anders werden. – Zum erstenmal in meinem Leben fühl ich mich stark und will tun, wie mir mein besseres Selbst gebietet. – Wie schön ist’s hier in dieser Einsamkeit! – Welch herrliche Nacht! – Ich steh am Wendepunkt meines Lebens, und Johanna soll meine Führerin sein!”

In diesem Tone fuhr der Schwärmer noch eine Zeitlang fort, während Dieter, die Schlange, bereits in den Federn lag und mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte. – Denn das war Musik in seinen Ohren; er kannte seinen Freund und Herrn und wußte, wie leicht er zu gewinnen sei, wenn eine Sache nur rasch und klug ins Werk gesetzt werde. – Und war Tolberg einmal sein Schwager, so blühte auch sein Weizen, dann konnte es ihm nicht mehr fehlen.

Als er nach vielen schönen Phantasien morgens erwachte, schien die Sonne schon warm durch die runden Fensterscheiben. Sein Schlafkamerad aber war fort und unten in der Stube, wo Johanna ein einfaches Frühstück bereits aufgetragen hatte. Es war nicht zu verkennen, ihr ausdrucksvolles Auge ruhte mit Wohlgefallen auf dem schönen Fremdling, der ihr bald seine ganze Lebensgeschichte mitteilte und selbst Fehltritte nicht verschwieg. Er erzählte ihr von seinem elterlichen Hause, von der seelenguten Mama – und gab ihr zuletzt ganz unverhohlen zu verstehen, daß er nur mit ihr das Leben und alles, was ihm der Himmel an Glücksgütern beschert, genießen und teilen wolle. – Und als er zuletzt fragte: ob sie sein Schutzgeist und guter Engel werden wolle, schüttelte sie errötend zwar das Köpfchen – aber nein sagen konnte sie nicht.

Johanna wußte nicht, wie ihr geschah. Es war das erstemal, daß sie in dieser bestrickenden Tonart reden hörte. Im Gesichte des jungen Mannes lag nichts von Verstellung; sein freimütiges Bekenntnis erweckte Vertrauen und Mitgefühl. Und mit Hoffnungen und Selbsttäuschung blickten beide über alle die Hindernisse hinweg, die einer so ungleichen Verbindung im Wege stehen mußten. – Wenn das gute Mädchen jedoch dann in stillen Stunden bei sich selbst über alles nachdachte und ihr früheres sorgenloses Dahinleben mit dem jetzigen Zustande verglich, so meinte sie mit der, „Amsel im Walde” singen zu können:

„Ei, du Schmeichler, sprach sie unerschreckt,
Wer hat dir mein’ Aufenthalt entdeckt?
Ja, im Wald, da ist mein Aufenthalt,
Wo ich zuvor in meinem Sinn
Ganz vergnügt gewesen bin.”

Die jungen Leute indes machten Ausflüge in der Umgegend. – Dieter trug dabei eine mitgebrachte alte Militäruniform nebst langem Stahldegen. In diesem seltsamen Kostüme spielte er den maitre de plaisir. Hatte die Gesellschaft zum Beispiel verabredet, diesen oder jenen Berg zu besteigen und in einem Wirtshaus in der Nähe Erfrischung einzunehmen, so eilte er als Quartiermacher voraus, während Tolberg und Johanna langsam nachfolgten.

Dieter wußte sich dabei ein gewaltiges Ansehen zu geben. Wenn er in die Wirtsstube eintrat und die Bauern vor dem fremden Offizier ehrerbietig aufstanden oder, Platz machend, näher zusammenrückten, so sagte er vornehm herablassend: „Geniert euch nicht, ihr Landleute!” Wenn dann einer oder der andere der Gäste seinem Nachbar in die Ohren raunte: dies sei des Forbachklausen Dieter, der sein Glück in der Fremde gemacht, so erreichte die Verwunderung den höchsten Grad. Als Mann von Welt machte sich Tolberg unter anderm auch mit der gastfreundlichen Familie des benachbarten herrschaftlichen Obervogts bekannt.

Die junge, gesellschaftliebende Frau dieses Mannes lud ihn und Johanna oft zu sich, und bei einem solchen Anlaß veranstaltete sie einst, daß Johanna ihre ländliche Tracht mit städtischen Frauenkleidern vertauschte, und also vor ihren überraschten Tolberg trat. – Allerdings schien dieser entzückt über solchen Einfall, versicherte aber zugleich, daß seinem Mädchen die Landestracht doch tausendmal besser stünde, und er werde nie zugeben, daß sie solche ablegte, wenn sie einmal die Seinige geworden: „denn”, setzte er hinzu, „die Tracht wird mir stets ein liebes Andenken an deine Heimat und den Schwarzwald sein.”

Die Anstalten zur Hochzeit wurden indessen von den beiden Abenteurern mit unglaublicher Hast und Eile betrieben. Damals überwachte man die Fremden noch nicht mit der mütterlichen Sorgfalt wie heutigen Tages, und der Stabhalter, sein künftiger Schwager, welchem Tolberg seine Papiere vorlegte, durfte dieselben für vollgültigen Ausweis halten.

Auch mit dem Pfarrer hatte der junge Mann Rücksprache genommen, und da er, wenngleich unbewußt, die diplomatische Maxime befolgte: nur die Wahrheit zu sagen, freilich nicht die ganze Wahrheit, so sah auch der geistliche Herr in dem Fremden sowohl wie in der ganzen Sache nichts Verfängliches. Nur der alte Klaus vermochte nicht, sich zu beruhigen. Er hielt den jungen Herrn für einen Gaukler oder herumfahrenden Komödianten. Auch er wandte sich, um Rat zu holen, an den Pfarrherrn.

„Wenn er wirklich so ein reicher Herr wär’«, behauptete er, „so wär mein Bub g’wiß nit sein Kamerad, und er wär’ nit da, wo er jetzt ist.”
„Ein Betrüger”, erwiderte der Pfarrer, „ist er in keinem Falle – er ist wirklich das, wofür er sich ausgibt: reicher Leute Kind und von guter Erziehung, ich habe mich hinlänglich überzeugt.” “Um so schlechter”, erwiderte der Alte: „Dann ist mein’ Tochter erst recht an geführt. Herren sind Herren, und die Armut gehört hinter die Tür – und es fällt mir immer der Lang Hanns ein: Habt’s mit euers Gatting. Wenn er wirklich ein reicher Herr ist, dann ist die Sach’ erst recht g’fehlt.” – „Allerdings”, erwiderte der Geistliche, „hat diese Verbindung viel Bedenkliches. – Doch dies ist seine Sache. – Wenn Ihr aber, als Vater, Eure Einwilligung durchaus nicht dazu gebet, so denke ich, wird das Mädchen, als gehorsame Tochter, so wie ich sie kenne, Euern Willen ehren.” Der Alte ging seufzend von dannen, sagte sich aber fortwährend: „Es geht mir en Unglück vor – es ist kein Segen in der Sach’.

Dieter hatte unterdessen alle Verwandten und Bekannten zu bearbeiten gewußt, was ihm nicht sehr schwer geworden. Der Stabhalter war ohnehin von dem offenen, jovialen Benehmen des jungen Mannes im voraus eingenommen; und so mußte endlich auch der alte Vater geschehen lassen, was er nicht hindern konnte, denn auch die Vorstellungen des Geistlichen fanden bei dem Mädchen kein Gehör mehr.

Die tätigste Unterhändlerin aber war die Fahlenbacherin, und durch einige Geldstücke und gute Bissen ganz für Tolberg eingenommen. Ihn nannte sie bei Johanna den schönsten und bravsten Herrn im ganzen Römischen Reich und pries sie als das glückseligste Bräutlein der Welt. Doch konnte sie anderseits nicht umhin, zu Kolumban, dem Köhlerknecht, zu schleichen und ihm, als dem früheren Liebhaber Johannas, die ganze Sache in langsamen, aber bitteren Tropfen beizubringen. – Was sie hier anrichtete, läßt sich denken: unglaublich war die Wut des Burschen; er schwur dem Elsässer den Untergang; und die ganze Sache hätte wahrscheinlich eine schlimme Wendung genommen, wenn die Fahlenbacherin nicht wieder schleunigst den bedrohten Tolberg und seinen Freund Dieter von der Gefahr benachrichtigt hätte.

Kolumban fluchte, weinte und gebärdete sich wie toll. Er kündigte seinem Meister den Dienst und lief fort – die ganze Sippschaft verwünschend. Unterdessen hatte Tolberg auf dringendstes Bitten von seinem Freunde, dem Geschäftsführer seines Vaters, Briefe und Geld erhalten. Dieser schrieb etwa folgendes:

„Hier empfängst Du eine Summe Geld. – Es ist alles, was ich bei großer Gefahr, verraten zu werden, auftreiben konnte. Dein Vater ist wütend und auch die Mutter sehr aufgebracht. – Die Wechselgeschichte war in der Tat ein fataler Streich. Der Unwille Deines Vaters hierüber hat sich seit Deinem langen Stillschweigen eher gesteigert als vermindert. – Doch ich will Dir keine Strafpredigt hierüber halten. Die reumütigen Selbstanklagen in Deinem letzten Schreiben und Deine Beteuerungen, daß Du umkehren wollest auf solch verderblicher Bahn, zeigen, daß Du endlich Deine Fehler einsehen gelernt. Ist es Dir hiemit ernst, so wird sich die ganze Sache noch zum Guten lenken lassen. Unter diesen Umständen halte ich es selbst für besser, wenn Du jetzt nicht sogleich Deinem Vater unter die Augen kommst. Der Aufenthalt auf dem Lande scheint sehr günstig auf Dich zu wirken. Du Glücklicher! Du verlebst herrliche Tage, während ich mich, wie ein Zugtier in der Mühle, im ewigen einförmigen Kreislauf des Geschäftes abmüden muß. Das muß ja ein herrliches Naturvölkchen sein, diese Schwarzwälder. Die Schilderung Deiner Kohlenbrennerstochter ist magnifique – der Spaß mit dem Heiraten köstlich. – Wie schön müßte sich Monsieur Tolbergs einziger Sohn und Erbe als rußiger Kohlenbrenner in den Bergen des Schwarzwaldes ausnehmen, wenn er so, in seinem Gott vergnügt, sein Stückchen verschimmeltes Schwarzbrot äße – doch Spaß a part. Mache Dich immerhin noch ein bißchen lustig, ehe Du in die ernste Geschäftswelt eintrittst; Madmoiselle Dorval mit ihren Goldfüchsen ist Dir ja doch gewiß usw.”

Alle Hindernisse, welche der Verbindung noch im Wege gestanden, hatte Dieters erfindungsreicher Kopf aus dem Wege zu räumen gewußt. Die Trauung wurde wirklich vollzogen. Nebst den wenigen Verwandten und Bekannten war die Frau des Obervogts noch als Zeugin zugegen. Tolberg und seine junge Frau verlebten glückliche Flitterwochen in dieser Einsamkeit. – Es war ein schöner Morgen, dem ein düsterer Abend folgt, die Stille vor dem Sturme. Der Gedanke nach Hause aber blieb eine schwere Wolke an dem Himmel des jungen Paares, und am Ende konnte die Reise zu den Eltern nicht mehr aufgeschoben werden. Es war verabredet, daß der junge Mann mit Dieter, doch vorerst ohne seine Frau, nach Hause reisen solle, um alles in Ordnung zu bringen, ehe sie nachfolge. – Zu Hause angekommen, vertraute er sich zuerst der Mutter an, die beim Vater seine Fürsprecherin machen sollte; aber der alte Herr, schon auf das äußerste erbost durch die Wechselgeschichte, kam vollends ganz außer sich, als er von der Heirat seines Sohnes hörte. Vergeblich warf sich ihm dieser, ähnlich dem verlorenen Sohn, zu Füßen – der Vater verließ das Zimmer, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Des andern Morgens ließ er den ungeratenen Sohn vor sich rufen und sagte ihm kalt: „Also statt eines braven Sohnes ist ein Betrüger, ein Narr ins Vaterhaus zurückgekehrt. Entweder, du willigst ein, unter strengster Aufsicht, getrennt von der Person, die du deine Frau nennst, hier unter meinen Augen zu leben und niemand von der tollen Heirat ein Wort zu sagen, oder – ich übergebe dich den Gerichten als Wechselfälscher und Verschwender.”

Das allerdings war ein Donnerschlag für den feinen Herrn. Doch, unfähig der Selbstbeherrschung und stets hingerissen von dem augenblicklichen Eindruck, versprach er jetzt aus Furcht Gehorsam. Bald sah er sich, sozusagen eingesperrt, beaufsichtigt, in allem beschränkt. Selbst die Mutter konnte ihm diesen Zustand nur wenig erleichtern. Dieter aber sah sich von dem Fabrikherrn derart begrüßt, daß er für gut fand, eiligst das Weite zu suchen mit Zurücklassung aller goldenen Träume von vornehmer Schwägerschaft, Geschäftsbeteiligung usw.

Endlich hatte der junge Tolberg gewagt, bei dem Vater für seine Johanna zu bitten. Der Alte aber erklärte, er wolle sich bei dem Geistlichen und den Behörden erkundigen, ob diese Johanna ehrlicher Leute Kind und ob sie vor ihrer Verheiratung einen guten Leumund gehabt – oder ob sie eine leichtfertige Person sei, die seinen Sohn nur verführt und ins Garn gelockt habe. Im ersten Falle werde er sich zu einer Unterstützung verstehen. – Der Fabrikant gehörte nämlich zu jenen Leuten, welche da wähnen, mit Geld sei alles in der Welt auszugleichen.

Die gute Johanna hatte unterdessen gewartet und gewartet. Anstatt ihres Mannes erschien endlich ein alter Herr, ei n Vertrauter und Abgesandter desHerrn Tolberg, um ihr kalt und unumwunden die ganze Sachlage zu entdecken und mitzuteilen: daß sie durch den Geistlichen von nun an einen monatlichen Gehalt empfangen werde. Die Empfindungen der verlassenen jungen Frau sind leicht sich vorzustellen: sie fühlte sich in ihrem Innersten vernichtet – selbst die Briefe ihres Mannes, welche dieser heimlicherweise an sie gelangen ließ und worin er sie zur Geduld ermahnte und zur Ausdauer von nur einem Jahr, vermochten nicht, sie zu beruhigen.

Lange Wochen und Monate vergingen. Von Zeit zu Zeit erhielt sie Geschenke von ihrem Gatten und Briefe, aus denen nur seine eigene, unfreie und beschränkte Lage ersichtlich war. Unter diesen Umständen ward Johanna von einem Töchterchen entbunden, welches Ereignis dem fernen Gatten brieflich mitgeteilt wurde. – Es kam hierauf ein Schreiben mit Geld; er habe, schrieb Tolberg, sich einen Plan aufgebaut: wenn das Kind ein Alter erreicht haben werde, in welchem es eine längere Reise ertragen könne, solle es ihm geschickt werden, um beim Großvater die Fürbitterin seiner Eltern zu machen.

Aber es war anders vorgezeichnet. Johanna hoffte wenig mehr für sich in diesem Leben. Nur für ihr Kind und für Tolberg schickte sie ihre inbrünstigen Gebete zum Himmel. Stundenlang verweilte sie im Bruderkirchlein vor dem Bilde der gnadenreichen Mutter und stellte selbst ihre Andachtsübungen nicht ein, als es schon winterlich kalt und der Aufenthalt zwischen den feuchten Wänden des Kirchleins ungesund zu werden begann. Klaus hatte noch im Walde zu schaffen, als Bruder Cyriak eines Tages mit der Botschaft zu ihm kam: mit Johanna stehe es schlecht; nach seinem Dafürhalten sei es das hitzige Fieber, was bei ihr angesetzt habe.

Vergeblich wendeten der kräuterkundige Cyriak und der sogenannte „Kühmarti” aus der nächsten Gemeinde ihre Künste an. – Johanna starb; und der Pfarrer, der sie in ihrer Krankheit häufig besucht und sie vor ihrem Hingang noch mit den Tröstungen der Religion versehen hatte, hielt es für seine Pflicht, das traurige Ereignis den Messieurs Tolberg zu melden – mit dem Zusatz: „So ist sie heimgegangen in die himmlischen Wohnungen des Friedens. Sie wird einen gnädigen allbarmherzigen Richter gefunden haben. Sie war ein gutes Geschöpf. – Aber an Euch ist’s jetzt, wieder gutzumachen, was Ihr schlimm gemacht, an dem armen verlassenen Kinde Vaterstelle zu vertreten und ihm eine ordentliche Erziehung zukommen zu lassen.” – Der Großvater kann nichts für das Kind tun, er ist jetzt sozusagen selbst ohne Pflege, und die verheiratete Schwester der Verstorbenen hat eine starke Familie und ist ihr deshalb nichts in diesem Punkte zuzumuten; so ist denn die Kleine allein, ohne Wartung und Zucht. Schreibt mir, was Ihr zu tun gedenkt.”

Der alte Geschäftsmann und Vertraute erschien wieder auf dem Walde, und nach längerer Besprechung mit dem Geistlichen kündete er den Verwandten des Kindes an, daß er beauftragt sei, für die Erziehung desselben zu sorgen und deshalb nach dem Willen des Vaters die Kleine zu sich nehmen müsse. Vergebens sträubte sich der alte Klaus dagegen; dem Zureden des Geistlichen und des Felsenwirts mußte er nachgeben – und der Geschäftsfreund fuhr mit dem Kinde von dannen, bis zur nächsten Station noch von der Fahlenbacherin begleitet. – So endete die Geschichte.

Tiefe Stille herrschte seitdem in der Hütte des Köhlers. Seine Schwester Barbara, die Hebamme, hatte sich zu ihm übergesiedelt und besorgte den kleinen Haushalt. Der Alte trieb sein Geschäft wieder hin wie her. Viele Jahre waren seitdem schon verflossen. – Gerne besuchten ihn die Kinder in der Hütte auf der Kohlstatt und lauschten seinen Erzählungen.

Nur von Tolberg sprach der Alte nie. – Doch hörten sie manchmal von ihm, wenn Anastasia und die Laubhauser Bäuerin von den seltsamen Schicksalen der unglücklichen Johanna und ihrem Kinde sich unterhielten.

Dieter war nicht mehr in der Heimat erschienen, und niemand wußte, wo ihn der Wind hingetrieben.

Tierstein im Sommer 2020

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