Möblierte Wildnis

Möblierte Wildnis

21. Oktober 2022 0 Von Wolf Hockenjos

Wildnis erfreut sich in der deutschen Bevölkerung wachsender Zustimmung und Nachfrage, so hatte es schon 2013 eine repräsentative Studie des Bundesumweltministeriums behauptet. Zwei Drittel der Befragten fänden an der Natur umso mehr Gefallen, je wilder sie sich zeigt und 42 % würden ein Mehr an Wildnis begrüßen. Im Vorfeld der Nationalparkgründung hatte im nämlichen Jahr auch ein zweites Gutachten (von PricewaterhouseCoopers und ökonzept GmbH) festgestellt, „dass Natur und Wildnis aktuelle Themen sind, die den Nerv der Zeit treffen“.

Natur und Wildnis haben zeitlebens auch mich gereizt, so sehr ich andererseits ein Berufsleben lang um die (naturnahe) Bewirtschaftung des Waldes bemüht war. An diesem spätsommerlich milden Oktobermontag zog es mich daher in die Wutachschlucht. Denn endlich müssten die Bäche ja auch wieder Wasser führen nach dem vierten Hitzesommer. Und auch die Herbstverfärbung ließ hoffen, wiewohl die Bäume da und dort ja schon im August zum Laubabwurf gezwungen waren, von den absterbenden Eschen ganz zu schweigen. Montags würde überdies der Wanderbetrieb in der Schlucht erträglich sein, so hatte ich spekuliert, und wie gewohnt den Waldparkplatz ob der Burgmühle angesteuert. Und tatsächlich, noch war ich der Einzige, der hier parkte und die Bergschuhe schnürte, um sodann auf steilem Fußpfad durch die bunte Bergmischwaldgesellschaft zur Gauchach abzusteigen. Eigentlich hatte ich mich hier – offengestanden – immer auch schon gestört gefühlt von den hölzernen Tafeln eines in die Jahre gekommenen Waldlehrpfads. Weniger wegen ihrer schlichten Botschaften über Baum und Wald, die mit den Jahren ohnehin fast unleserlich geworden waren, sondern weil ich den Lehrpfad hier im siedlungsfernen Naturschutzgebiet als reichlich deplaziert empfand – so sinnvoll und hilfreich derlei Einrichtungen andernorts, in ortsnahen Wäldern etwa, sein mögen. Wo doch der „Bildungsauftrag Waldpädagogik“ (gem. § 65 des Landeswaldgesetzes) seit 1996 zum Aufgabenspektrum der Forstleute gehört.

Wem und wozu dient der Wald?

Diesmal hatten sich die Tafeln zu meiner Überraschung sogar vermehrt und verjüngt; die alten Hölzernen hingen zwar noch immer an den Bäumen, doch die Neuen zeigten sich frisch gestylt und luden zu interaktivem Aufklappen ein (Hey, ihr da! Kommt doch mal her), angefüllt mit Infos über jeweils eine Baumart, deren Rindenbild die Klappe ziert. Offenbar waren hier professionelle Waldpädagogen am Werk gewesen: „Willkommen im Schluchtwald“, so wird der Besucher im Steilhang begrüßt vom Naturpark Südschwarzwald und von der Staatlichen Naturschutzverwaltung Baden-Württemberg auf einer Tafel an blitzblankem Alugestänge. „Wem und wozu nützt der Wald?“, wird darauf gefragt, und die so klugen, von Disney inspirierten Tiere des Waldes, vom Hirsch über den Biber, vom Fuchs bis zum Kauz, wissen bestens Bescheid: In ihren Denkblasen stehen die Antworten, egal ob in der Sparte Nutzung, Umweltschutz oder Erholung. Lesekundigen beantwortet auch ein Text nebenan noch die Frage.

Puh… soviel Wissensstoff auf einmal, und das mitten im Wald! Oder braucht es heutzutage vielleicht diese Art von kindgerechter Aufklärung, wenn sich die junge Familie schon einmal dazu aufrafft, den lieben Kleinen ein vertieftes Walderlebnis zu gönnen – und das sogar mit Eintauchen in die abenteuerliche Wildnis der Gauchachschlucht mitsamt ihrem Chaos stehender und zusammengebrochener Stämme? Unten angelangt an der gottlob wieder rauschenden Gauchach (sofern sie nicht von abgestorbenen und umgestürzten Eschen aufgestaut wird), beschließe ich, ihr weiter bachabwärts zu folgen. Nach ihrer Einmündung in die Wutach soll es ein Stückweit auf dem Schluchtensteig flussaufwärts gehen – wann sonst, wenn nicht an einem herbstlichen Montagvormittag und außerhalb der Feriensaison sollte man sich die Schluchterlebnis doch noch leidlich ungestört antun können?

Die Spurenlage auf dem Pfad lässt indes keine Zweifel aufkommen: Es müssen übers Wochenende wieder sehr, sehr Viele unterwegs gewesen sein, so wie die Stiefel nun im Matsch versinken. Der letzte ungebändigte Wildfluss des Schwarzwalds pflegt schon seit seiner Erschließung um die vorletzte Jahrhundertwende Wildnissucher zuhauf anzuziehen. Und wo der Pfad drahtseilgesichert durch die Muschelkalk-Prallhänge verläuft, wird die Wanderlust bei Gegenverkehr seit eh und je getrübt, wenn nicht gar zur Qual. Bis zu 75.000 Wutachwanderer wurden schon um die Jahrtausendwende gezählt, und wie es ausschaut, sind die 100.000 mittlerweile längst überschritten. War es die Corona-Pandemie oder die Erfindung der kostenlosen Regiokarte für hochschwarzwälder Übernachtungsgäste, waren es die verbesserten Wanderbusverbindungen oder die vielen Wandertipps im Netz: der Touristenandrang scheint nochmals einen gehörigen Schub bekommen zu haben – ablesbar neuerdings auch an einer stattlichen Kompanie von Steinpyramiden; die meisten scheinen im jüngsten Trockensommer errichtet worden zu sein und müssen nun der Strömung trotzen.

Invasion der Steinmänner

Seit wann eigentlich sind „Steinmanderl“ auch hierzulande Mode geworden, wo man sie doch einst nur aus dem Hochgebirge kannte oder als Wegmarkierung im skandinavischem Fjäll? Nun beginnen sie plötzlich auch den Schwarzwald zu erobern – nicht anders als die Schlösser der Jungverliebten an den metallenen Brückengeländern. Was für ein Pech, dass die kanadischen Pioniere ihren „Kanadiersteg“ anno 1976 noch aus dicken Holzbalken gezimmert haben.

Kein Durchgang zum Flussufer

Doch wer hätte gedacht, dass die Frequentierung der Schlucht sogar montags Formen annehmen kann, dass den Wanderern bisweilen das Grüßen vergeht: Ab einer gewissen Verdichtung des Gegenverkehrs werden Wanderer anscheinend einsilbiger, ja mürrischer, als verabscheuten sie zutiefst jeglichen Rummel. Kein Wunder, dass sich da auch Bergwacht, Naturpark und Naturschutzverwaltung mehr und mehr gefordert sehen: So wurde die Schlucht längst in Rettungssektoren eingeteilt, auf die jeweils Plakate verweisen, während der Naturpark die Schlucht soeben frisch möbliert zu haben scheint – nicht zuletzt mit einer Vielzahl von Stoppschildern und Absperrungen der Uferzonen (den Wasseramseln zuliebe?) mittels Schiffstauen. Und auch die Wiedereintrittsstelle des versickerten Wutachwassers aus der Felswand ist neuerdings mit einer Erläuterungstafel versehen. Nichts also wie zurück! Es könnte sich an der Wutach- oder Schattenmühle ja gerade wieder ein Wanderbus entleert haben. Wann endlich erfinden sie den Einbahnverkehr in der Schlucht?

Ein unguter Verdacht beschleicht mich schließlich auch noch beim Blick vom Kanadiersteg auf die Gauchachmündung hinunter: Im Treibholzstau haben sich dicke weiße Schaumpolster verfangen, als wäre beim einsetzenden Regen irgendwo ein Schieber hochgezogen worden nach den Monaten der Trockenheit. Von toten Fischen (wie kürzlich in der Oder) ist freilich nichts zu bemerken, also könnte der Schaum doch auch auf natürliche, auf organische Stoffe zurückzuführen sein – anders als einst in den Wirtschaftswunderjahren, als die Neustädter Papierfabrik ihr Abwasser noch weithin ungeklärt in die Wutach (die dort noch Gutach heißt) einleiten und ihr mit dem Schaum auch eine unverwechselbare Geruchsnote verpassen durfte.

Verdächtiger Schaum?

Bachaufwärts in der Gauchachschlucht verlieren sich, wie ich erleichtert feststelle, die spärlicheren Montagswanderer, und am Wegrand grüßen bald auch wieder die neu gestalteten Stationen des Waldlehrpfads. Die Einkehr in der Burgmühle muss leider ausfallen, denn auch sie wird gerade runderneuert. Ihr Dach ist knallrot gedeckt und an der frisch geweißelten Stirnwand der 1475 erstmals bezeugten, mehrfach von Flutkatastrophen heimgesuchten Mühle prangt jetzt unübersehbar ein Sinnspruch – nein, nicht etwa von Joseph Victor von Scheffel oder von Lucian Reich, vielmehr eine der Lebensregeln von Baltimore des US-amerikanischen Rechtsanwalts Max Ehrmann, verfasst im Jahr 1927 (Geh deinen Weg gelassen und ruhig inmitten des Lärms und der Hast dieser Zeit und erinnere dich, welcher Frieden in der Stille liegt). Seit 1928 war die Mühle im Besitz des Villinger Touristenvereins Die Naturfreunde, doch vor zwei Jahren mussten sie Insolvenz anmelden. Der neue Eigentümer, der das Haus nun gründlich renoviert, scheint nicht eben auf Bodenständigkeit aus zu sein, und so findet sich neben dem Eingang zur Gastwirtschaft auch noch ein Spruch aus dem Zitatenschatz von Ralph Waldo Emerson, dem US-amerikanischen Geistlichen, Philosophen und Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert. Von den Weisheiten der beiden, von Emerson wie von Ehrmann, quillt das weltweite Netz derzeit förmlich über. Oder sollte auch hier PricewaterhouseCoupers nachgeholfen haben?

Genug der Wildnissuche: erst in steilem Zickzack, dann auf bequemerem Forstweg kehre ich zum Waldparkplatz zurück, nicht ohne zuvor noch einen Blick auf die Tierweitsprung-Anlage (Wie weit springst Du?) geworfen zu haben. Viel weiter als der Dachs hätte ich es an diesem Montag bestimmt nicht mehr geschafft – schon gar nicht so weit wie der Luchs. Mein Schluchtwald-Wildnisbesuch, so dämmert es mir beim Verstauen der verschmutzten Bergschuhe im Kofferraum, ist diesmal doch ein bisschen gar zu banal ausgefallen.

Genug der Möblierung?