
Ein Vierteljahrhundert Walderneuerung nach dem Orkan „Lothar“
Größere Waldkatastrophen gaben jeweilen die äußere Veranlassung, einige Zeit über die wünschbaren Heil- und Abwehrmittel zu reden und zu schreiben. Aber meist windet und dreht man sich dabei wie eine Katze um den heißen Brei. (Ammon, W.: Das Plenterprinzip in der Waldwirtschaft. Bern, 1937)
Ich wohnete auf einem hohen Gebürg, die Moos genannt, so ein Stück vom Schwarzwald, und überall mit einem düsteren Tannenwald überwachsen ist. (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch. 1667. Projekt Gutenberg-DE)
Der Orkan vom zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1999 mit dem so harmlos klingenden Namen „Lothar“ ragt noch immer heraus aus der Vielzahl von extremen Sturmereignissen, von denen der mitteleuropäische Wald bis dato heimgesucht worden ist: 200 Millionen Festmeter Holz lagen nach diesem waldwirtschaftlichen „Super-GAU“ auf dem Boden, 30 Millionen allein in Baden-Württemberg, wobei der mittlere und der nördliche Schwarzwald am stärksten betroffen waren. Die meteorologischen Stationen verzeichneten die höchsten bei uns je registrierten Windgeschwindigkeiten: Auf dem Feldberg versagte das Messgerät bei 212 km/h, auf dem Hohentwiel wurden gar 272 km/h gemessen. Lothars Spitzenböen schien buchstäblich gar nichts mehr standgehalten zu haben, keine Baumart und keine Waldstruktur. Weshalb sich in der Waldwirtschaft vielerorts auch Resignation breit machte, anders als noch nach „Wiebke“ und „Vivian“, den vermeintlichen Jahrhundertstürmen ein knappes Jahrzehnt zuvor; von denen waren vorwiegend standortswidrige Fichtenbestände geworfen worden mit insgesamt immerhin auch bereits 70 Millionen Festmetern Sturmholz, mehr als alle bis dahin verbuchten Sturmholzmassen zusammen genommen, wie forstliche Statistiker errechnet hatten. Damals, im Jahr 1990, fand in Deutschland bekanntlich nicht nur die politische Wende statt, sondern auch ein waldbaulicher Paradigmenwechsel, der nach dem Fiasko mit der allzu labilen Fichte eine neue Hinwendung zu sturmfesteren Baumarten und Waldstrukturen brachte, hin zum Konzept des naturnahen Waldbaus – zur Waldwende.
Doch nun, nach „Lothar“, schien sich im forstlichen Schrifttum eine erneute Kehrtwende abzuzeichnen: „Short rotation“ war angesagt, die drastische Verkürzung der Umtriebszeiten, um damit die Hebel zu verkürzen, an denen die künftigen, womöglich noch verheerenderen Stürme ansetzen würden. Um die „wünschbaren Heil- und Abwehrmittel“ (so auch um das „Plenterprinzip“ des Walter Ammon s. o.) war es still geworden angesichts der brutalen Gewalt, ausgelöst womöglich durch den menschengemachten Klimawandel in der Treibhausküche des Nordatlantiks. Zwar verursachte im Februar 2007 der Orkan „Kyrill“ abermals 59 Millionen Festmeter Sturmholz, dennoch sollten alsbald wieder andere Waldschäden die Schlagzeilen liefern: die Auswirkungen von Hitze und Trockenheit, erst jene des Jahrhundertsommers 2003 (in den badischen Weinbaugebieten noch als Jahrhundertjahrgang gepriesen), schließlich jedoch die sich steigernden Hitzerekorde von 2018 bis heute, von den Medien als Ursache eines Waldsterbens 2.0 gehandelt. Ob da vom Lothar-Schock der Jahrtausendwende noch recht viel hängengeblieben ist? Als wie intakt erweist sich da das Langzeitgedächtnis der damals Betroffenen aus der Forst- und Holzbranche?? Oder wie viel wurde zwischenzeitlich verdängt und überlagert von den TV-Bildern der Waldbrände und der noch spektakuläreren Vernichtungsgewalt karibischer Tornados? Vor allem aber: Welche Lehren hat man aus der Katastrophe gezogen? Und wie sieht es auf den Lotharflächen heute aus?
Damals war das Entsetzen groß, nicht nur unter den Augenzeugen und unmittelbar Betroffenen, sondern selbst bei den Bewohnern waldfernerer Regionen, für die sich die vertraute Kulisse der Schwarzwaldberge auf einen Schlag verändert hatte. Dass unmittelbar nach dem Orkan nicht mehr als 18 Todesopfer zu beklagen waren, dürfte vornehmlich dem Umstand zu verdanken gewesen sein, dass die Spitzenböen zur besten Mittagessenszeit über uns hinweg brausten, während der dichtauf folgende Orkan „Martin“ – zum Glück für die Schwarzwälder, Pech für die Wälder des Massif Central – abrupt nach Süden abgedreht und sich im Midi vollends ausgetobt hatte.
Lothar-Schadensfläche rund um den Moosturm im mittleren Schwarzwald
Im Bereich der baden-württembergischen Landesforstverwaltung hatte man bereits nach „Wiebke“ samt deren Vorläuferinnen die Lektionen in den Pflichtfächern Sturmholzaufarbeitung und Vermarktung hinlänglich gelernt: Bereits im Juli 2000 war mit 7 Millionen Festmetern schon die doppelte Menge von anno 1990 – vornehmlich aus dem besonders leidgeprüften Privatwald stammend – vermarktet, gar die dreifache Menge zur Konservierung auf Beregnungsplätzen eingelagert worden. Beim Räumen der Sturmflächen war es bis zum Herbst zu 3633 Unfällen gekommen – zwanzig (!) Personen waren dabei, überwiegend im Privatwald, zu Tode gekommen.
Für den Waldbau im Staatswald galt nach wie vor der Stuttgarter Ministerialerlass „Walderneuerung auf Sturmwurfflächen“ vom 31. 7. 1990, wonach die Wiederaufforstung nur ja nicht überstürzt werden sollte. Stattdessen waren die Selbstheilungskräfte des Waldes zu nutzen, wobei der neue Wald vom Schutz und der Nährstoffpumpe der Pionierwaldgesellschaften profitieren sollte. Demgegenüber wurde in den großen Privatforstbetrieben die Wiederaufforstung im Hauruck-Verfahren propagiert, die integrierte vollmechanisierte Sturmholzaufarbeitung, Flächenräumung und Pflanzung „just in time“ – dies nicht zuletzt der günstigeren psychologischen Auswirkungen auf alle Beteiligten wegen.1
Andernorts schlug die Geburtsstunde der Polypropylen-Wuchshüllen: Allein im Stadtwald von Baden-Baden wurden auf 2.000 ha Lothar-Fläche 350.000 der aus England bezogenen Kunststoffköcher ausgebracht, mit denen die durch Wildverbiss besonders gefährdeten Laubbäume geschützt und zu rascherem Jugendwachstum angeregt werden sollten. Zaunschutz auf Flächen solcher Größenordnung, so die Begründung, würde sich als untaugliches Mittel erweisen. Ein Vierteljahrhundert nach Lothar steht fest: Krisengewinner sind unterdessen eindeutig die Wuchshüllen – mag die Plastik- und Mikroplastikproblematik weltweit noch so besorgniserregende Ausmaße angenommen haben.
Einer der baden-württembergischen Schadensschwerpunkte war der ehem. Forstbezirk Gengenbach mit seinen ca. 700.000 Fm Schadholz auf 2.000 ha Sturmfläche, mitten drin der 871 m hohe, vormals dicht bewaldete Mooskopf, Hausberg der Gengenbacher und Oberkircher Wanderfreunde. Auf ihm hatte anno 1890 die Oberkircher Ortsgruppe des Schwarzwaldvereins den sandsteinernen Moosturm errichtet, der mit seinen 21 Metern Höhe freilich kaum mehr aus den Fichten- und Tannenkronen herausgeragt hatte. Nun stand er plötzlich wie ein ausgestreckter Mittelfinger auf der kahlen Buntsandsteinkuppe.
Blick vom Moosturm im Frühjahr 2000
Es bot sich an, von hier oben aus das weitere Geschehen zu dokumentieren2: Ein Foto vom Frühjahr 2000 zeigt erste Aufarbeitungserfolge unterhalb des Turms. Auf der Wegspinne am Sattel wartet bereits ein Forwarder auf den Abtransport weiterer Sturmholzmassen, und auch etliche „Katastrophentouristen“ sind per Mountainbike schon unterwegs, um die so brutal veränderte Welt rund um den Berg in Augenschein zu nehmen. Gegenüber, am Siedigkopf, liegt das Holz noch dicht auf dicht, wie es umgeblasen worden war. Der Bildvordergrund zeigt sich bereits mit erster Schlagflora, vereinzelt haben auch junge Fichten und Tannen den Orkan und die Räumung überlebt. Insgesamt nur ein Drittel der Lotharflächen sei im Bereich der damaligen Freiburger Forstdirektion rekultiviert worden, der Rest sei der natürlichen Sukzession überlassen worden, so las es sich in den vielerlei Rückblicken zum Jahresabschluss 2009 aus Anlass der zehnjährigen Wiederkehr des Schreckenstags. Wie lange würde es dauern, bis am Mooskopf wieder neuer Wald herangewachsen ist, und aus welchen Baumarten würde er sich zusammensetzen, wo die Wiederaufforstung unterlassen wurde?
Blick vom Turm im Frühsommer 2010
Auf dem im Frühsommer 2010 wiederholten Foto vom Turm herab zeigt sich die Szenerie bereits im Zustand fortgeschrittener Sukzession mit Birken und blühenden Ebereschen, dazwischen aber auch noch mit viel braunem Waldboden (oder doch mit brauner Adlerfarn-Matratze) sowie auch schon mit allerlei Nadelgehölz aus natürlichem Anflug von vor der Katastrophe. Am gegenüberliegenden Siedigkopf war – nach Räumung des Sturmholzes – inzwischen (im Jahr 2003) ein Bannwald ausgewiesen worden. In ihm überwog nach zehn Jahren noch immer die Farbe Braun. Erstaunlicherweise haben sich jedoch auch schon etliche Douglasien eingefunden. Wie sähe es dort wohl aus, wenn das Sturmholz auf der Fläche belassen worden wäre? Auf der südwärtigen Stirnseite des Lothar-Glatzkopfs hatte ein einheimischer Künstler aus drei vom Forstamt gestifteten Weißtannenstämmen ein Lothardenkmal errichtet, das für Wald- und Landschaftsfreunde fortan zur beliebten Pilgerstätte wurde. Ohnehin hatten etliche Bürgermeister und Kurdirektoren von mit Wald überreich gesegneten Gemeinden nach der Katastrophe hörbar aufgeatmet, denn mit seinen Schneisen hatte der Orkan doch endlich für freien Ausblick gesorgt. Oben am Schliffkopf an der Schwarzwaldhochstraße wurde die Erinnerung an das Extremereignis mit einem Lotharpfad wach gehalten, am Plättig mit einem Wildnis-Erlebnispfad, beide erfreuen sich noch immer eines überaus regen Besucherverkehrs über die allmählich vermorschenden Stämme und Wurzelteller hinweg. Im Sattel am Fuß des Mooskopfs hatten immerhin eine Wolfsgrube sowie ein Grimmelshausen-Denkmal den Super-GAU überlebt, unweit davon erinnert ein weiterer Gedenkstein an das Geschehen: an den tödlich verunglückten Waldarbeiter Roman Kwiatkowsky, Vater von fünf Kindern, der zusammen mit einem polnischen Forstunternehmer aus der Offenburger Partnerstadt Olstzyn (Allenstein) zur Sturmholzaufarbeitung in den verwüsteten Schwarzwald geeilt war.
Blick vom Turm im Dezember 2019
Ende Dezember 2019 hat der Chronist erneut den Moosturm bestiegen, um die Fortschritte der Wiederbewaldung ein weiteres Mal zu dokumentieren. Und siehe da: nun steht der Turm tatsächlich wieder im Wald! Lediglich westwärts, gegen die Rheinebene hinab, auf stark verhagertem und blocküberlagertem Standort tut sich die Sukzession im Filz der Beerstrauchdecke einstweilen noch schwer; hier blieb es bei einzelnen Birken. Nach Süden hin überwiegen indessen die Nadelbäume, vorwiegend Fichten, vereinzelte Tannen und Douglasien. Nichts davon sei gepflanzt worden, versichert der inzwischen im Ruhestand befindliche Forstamtsleiter (oder wurde womöglich doch da und dort mit Pflanzung nachgeholfen, wie er einräumt?), sicher nicht im Bannwald um den Siedigkopf. Auch dort sind die Fichten im Vormarsch, dazwischen finden sich seltsam verstrubbelte, teils auch bereits von Schneebruch gezeichnete Douglasien, deren Höhenwachstum dem der Fichtenkonkurrenz kaum überlegen zu sein scheint.
Ein letzter Blick vom Turm im Frühsommer 2025
Letztmals am 22. Mai 2025 haben die Beiden, der einst zuständige Forstamtsleiter und der Chronist, den Turm bestiegen,. Jetzt, im voll belaubten Zustand, scheint der Jungwald gegenüber dem Zustand vor nur eben mal fünfeinhalb Jahren einen erstaunlichen Wachstumsschub erhalten zu haben, wobei sich insbesondere Birken, Ebereschen und Weiden mächtig ins Bild drängen und fast das Bild eines Laubmischwalds hinterlassen.
Gewinnerin auf den Lotharflächen, ob diese der natürlichen Sukzession überlassen oder bepflanzt worden sind, dürfte letztendlich dennoch die Fichte sein, wenn sie die Konkurrenz der Pionierbaumarten überwunden haben wird. Aber ob sie als „Brotbaum“ in der neuen Waldgeneration noch taugen wird? Wie würde die sich heute wohl darstellen, darf gefragt werden, wenn die Altbestände zum Zeitpunkt der Katastrophe reichlicher mit Naturverjüngungsvorräten aus Schatten ertragenden Tannen und Buchen unterfüttert gewesen wären? Wie viel davon hätte unterm Sturmholz überlebt? So aber ist es allenfalls bei vereinzelt eingesprengten Überlebenden der Bergmischwaldgesellschaft geblieben. Und es wird wieder eine ganze Generation dauern, bis diese erneut für überlebensfähigen Nachwuchs gesorgt haben könnte – immer vorausgesetzt, die Balance zwischen Wald und Wild wird dann gelungen sein. Oder muss am Ende auch nach „Lothar“ wieder Walter Ammon, dem schweizerischen Forstkollegen, beigepflichtet werden, wonach sich die für den Wald Verantwortlichen wohl weiterhin wie die Katze um den heißen Brei winden und drehen – wo immer die Defizite an vorausschauender naturnaher Waldwirtschaft nicht behoben sein werden? Und wird auf der Moos, wo Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen einst seinen Einsiedler über „düstere Tannenwälder“ hinweg in die Täler hinabschauen ließ, jemals wieder der Schwarzwälder Charakterbaum dominieren?
Lothar-Denkmal am Siedigkopf
1 Elbs, A. (2000): Erfahrungen zur Aufforstung von Orkanflächen. AFZ-DerWald Nr. 16: 831 f.
2 Hockenjos, W. (2009): Zehn Jahre nach dem Orkan „Lothar“: Folgerungen für die Waldwirtschaft. AFZ-DerWald Nr. 18: 978 ff.