Weißtannen-Vitalität
Schon seit langer Zeit schreibt man viel und fortwährend über das allmählich immer mehr und mehr sichtbar werdende Verschwinden der Weißtanne von unseren Bergen. Auch gibt sich zu ihr eine gewisse weitverbreitete Sympathie kund, welche an die Wehmut beim Scheiden eines geliebten Freunds erinnert. (K. Gebhardt, Freiburg 1842)
An Sympathien für die Weißtanne hat es – o Tannenbaum! – nie gefehlt, schon gar nicht in der Forstpartie. Allerdings hält sich bis heute das Narrativ, sie sei überempfindlich wie eine Mimose. Allein schon die Tatsache, dass sie in Deutschland nur mehr auf ca. zehn Prozent ihres ursprünglichen Verbreitungsgebiets vorkommt, spricht wahrlich nicht für Vitalität und Widerstandskraft. Spätestens das „Tannensterben“ hat ihrem Ruf den Rest gegeben. „Ist die Weißtanne eine sterbende Baumart?“, so fragten sich 1979 Baden-Württembergs Forstleute anlässlich einer Fachtagung. Der Wiener Waldbauprofessor Hannes Mayer, einer der besten Tannenkenner, wies in seinem Beitrag darauf hin, dass das „Tannensterben“ schon seit dem 16. Jahrhundert bekannt sei. Es handle sich dabei alles in allem um eine „Komplexwirkung verschiedenster vitalitätsmindernder Faktoren“. Freilich würden diese nicht zum Totalausfall der Tanne führen, „wenn nicht anthropogene Schadfaktoren wie überhöhte Immissionen dazukommen.“ In den Medien schlug die Geburtsstunde des neuen Schockbegriffs „Waldsterben“. Für die Politik sollte es bald höchste Zeit werden, im Kampf gegen den sauren Regen der Automobilindustrie den Katalysator vorzuschreiben, die TA-Luft zu verschärfen und per Großfeuerungsanlagen-Verordnung die Entschwefelung der den Fabrikschloten entweichenden Emissionen voranzutreiben.
„Der Schwarzwald stirbt“, so lautete 1984 die Weihnachtsbotschaft des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL, als Titelbild dient ein halbseits entnadelter Tannenbaum vor winterlicher Schwarzwaldidylle. Gegen Ende des Jahrtausends war in den Medien dann freilich bald nur noch vom „sogenannten Waldsterben“ die Rede, ehe auch dieses – ausgerechnet im „Jahrhundertsommer 2003“ – von der grünen Umweltministerin Renate Künast offiziell für beendet erklärt worden war. Doch nach einer Serie sich steigernder Hitze- und Trockenjahre tauchte das Phänomen als „Waldsterben 2.0“ plötzlich wieder aus der Versenkung auf: Dürre- und Borkenkäferschäden, die Häufung der Waldbrände sowie eine verheerende Flutkatastrophe sorgten dafür, dass der Verursacher, der Klimawandel, fortan nicht mehr aus den Schlagzeilen verschwinden sollte.
Als Fotograf mit einem Faible für Baum und Wald lechzt man bei all den Hiobsbotschaften förmlich nach Motiven abseits der Katastrophenszenarien, und so entstand im Jahr 2011 beiläufig auch das Foto einer ungemein langschäftigen, allem Anschein nach kerngesunden Weißtanne. Angetroffen hatte ich sie auf einem Streifzug durch Wutachschlucht unweit der überdachten Stallegger Brücke, über die einst der Fernhandelsweg vom Neckar zum Hochrhein führte. Eigentlich war ich nur im Begriff, mich unter den dortigen Tannenriesen nach einer Ersatzkandidatin umzusehen für die zwar prominente, doch leider seit Jahren kränkelnde Stallegger Tanne, auf welche am Wanderweg eine Hinweistafel aufmerksam machte mit ihren famosen Daten: Höhe 52 m, Volumen 34 Erntefestmeter, Umfang in Brusthöhe 4,52 m, Alter ca. 280 Jahre. Ob für ihren angeschlagenen Gesundheitszustand wohl der Klimawandel verantwortlich war – oder war ihr Siechtum eher dem Greisenalter geschuldet?
Was Alter, Umfang und Stammvolumen anbetraf, so würde mein Ersatzbaum natürlich noch längst nicht mithalten können, doch die Baumhöhe, immerhin, dürfte bereits an die 50 m heranreichen, so schien es mir vom Gegenhang beim Betrachten seines langen vollholzigen (walzenförmigen) Schaftes mit der dicht benadelten runden Kuppelkrone oben drauf; in ihr entdeckte ich mit dem Fernglas einen aufwärts gebogenen Kandelaberast, Indiz für einen früh verheilten Wipfelbruch. Ansonsten aber schien mir mein Baum, fern aller „anthropogenen Schadfaktoren“ und deren Komplexwirkung (H. Mayer), der Inbegriff einer makellosen und vor Gesundheit strotzenden Weißtanne zu sein.
Doch was war das für eine Enttäuschung, als ich mich vier Jahre später, im März 2015, wieder der Stallegger Brücke näherte, um nach der Tanne Ausschau zu halten! Denn ein Sturm (oder war es gar die Windhose eines Tornados?) hatte sie inzwischen brutal geköpft, sodass von der stolzen Krone am Stamm nur wenige grüne Wasserreißer (Klebäste) verblieben waren! War das nun das Aus für meine Tanne? Zwar war mir das phänomenale Ausheilungsvermögen der Weißtannen von zahlreichen frappierenden Beispielen durchaus vertraut, doch hier schien Hopfen und Malz verloren.
Im Sommer 2019, nach abermals vier Jahren, zog es mich erneut in die Schlucht: Was mochte aus meinem Motiv geworden sein? Sieh einer an, es gab sie noch, die Tanne – und sie war eben im Begriff, sich eine neue Krone zuzulegen. Zuoberst an der Bruchstelle schob sich tatsächlich ein neuer Leittrieb in die Höhe und die spärlichen Wasserreißer hatten sich auf wundersame Weise buschig vermehrt. Der staunenswerte Vorgang verdiente es, weiter verfolgt zu werden.
Zum Winterauftakt, am 8. Dezember 2020, war ein weiterer Besuch angesagt. Lag es am Neuschnee, dass sich der Wipfel erneut verändert zu haben schien: Knapp unterhalb der Bruchstelle, die sich wieder deutlicher abzeichnete, schoben sich nun sogar drei Leittriebe in die Höhe als gelte es neuerdings, da oben Christbäume zu züchten – an Saft und Kraft fehlte es der neuen Krone ganz offensichtlich nicht.
Mein vorerst letztes Foto stammt vom 5. November 2022, dem Vorabend der jüngsten Weltklimakonferenz. Und wieder hatte sich das Kronenbild der Tanne verändert: Nun sieht es ganz so aus, als hätten die Leittriebe sich im Wettbewerb um die Führungsrolle gegenseitig hoch getrieben, derweil ein paar flechtengraue Seitenäste vorzeitig ausgeschieden sind. Doch alles in allem bietet sich das Bild eines wohlgeratenen jugendlichen Tannenbaums, der sich da jetzt, seitlich leicht versetzt, auf dem weit über hundertjährigen Stamm breit gemacht hat. Dem Fotografen erwuchs so im Verlauf nur eines knappen Jahrzehnts ein neues Sinnbild für Vitalität, auch ein Hilfsmittel gegen das Verzagen angesichts all der Krisen, ein für sich selbst sprechendes Musterbeispiel für das Zauberwort im Zeichen des Klimawandels: für Resilienz.
Klar, dass nun auch noch ein Krankenbesuch bei der Stallegger Tanne anstand: Sie ist inzwischen vollends abgestorben, reckt ihre morschen kahlen Äste in die Luft, derweil die Rinde am Stamm bereits abzublättern beginnt und zwei prächtige Fruchtkörper des seltenen Stachelbartpilzes aus ihm hervorwachsen. Tannen pflegen lotrecht zu sterben und ihr Totholz ist voller Leben – das Hinweisschild mit ihren stolzen Daten wurde vorsorglich entfernt, damit andächtige, gar trauernde Tannenfreunde nicht unnötig lang im Gefahrenbereich verharren. Von „Wehmut beim Scheiden eines geliebten Freunds“ (K. Gebhardt), vom „Tannensterben“, jener „Komplexwirkung verschiedenster vitalitätsmindernder Faktoren“ (H. Mayer) ist in der Wutachschlucht derzeit wenig zu spüren.
Bravo lieber Kollege Hockenjos,
So schnell geht die Welt in der Tat nicht unter….