Was uns das Mädchen auf dem Koffer erzählt

Was uns das Mädchen auf dem Koffer erzählt

2. April 2022 3 Von Hubert Mauz

Die Geschichte lehrt uns, dass wir aus der Geschichte nichts lernen

so ein Historiker

Gerade gehen die Skiflugweltmeiserschaften im norwegischen Vikersund zu Ende. Vor 8 Jahren waren wir bei diesem großen Weltsportereignis dort zu Gast. An vier Tagen sind wir von unserem Hotel aus zur größten Schanze der Welt morgens und abends an der Insel Ütöya vorbeigefahren. Jedes Mal war die Stimmung einige Minute sehr bedrückt. Man wird daran erinnert, dass einer der größten Psychopaten der moderneren europäischen Geschichte über 70 Jugendliche wahllos, gnadenlos und sehr gezielt ermordet hat. Im freiheitsliebenden, stolzen, eigentlich fremdenfreundlichen Norwegen eine unauslöschliches Nationaltrauma. Dennoch waren es zunächst unbeschwerte, eindrückliche Tage bei herrlichstem Winterwetter. Geradezu mystische Besuche der schönsten Stabkirchen im Hochwinter im Hallingdaal, ganz alleine ohne die sonst üblichen Besucherströme, machten die Sport- und Kulturreise zum schönsten Norwegenerlebnis. Jeden Morgen und Abend gingen wir ziemlich gedankenlos an einer anmutigen, aber auch eine seltsame Traurigkeit verströmende Bronzeskulptur vor dem Hoteleingang vorbei. Spätestens seit Munch und Herbjörg Wasmo weiss man, dass Norweger auch zur Melancholie neigen. „Das Mädchen ist halt traurig, weil sie nach schönen Ferientagen wieder abreisen muss“. So unsere oberflächlichen Gedanken zu dem anmutigen, anrührenden „Denkmal“.

Was uns das Mädchen auf dem Koffer sagen kann

Auch wir wurden bei unserer Abreise, beim Abschied, von dieser Traurigkeit erfasst. Die Hotelchefin gab uns zum freundlichen Abschied, sichtlich etwas unsicher, noch eine Broschüre über die Geschichte des altehrwürdigen Hauses mit. Eine historisch bedeutende Traditions- Relaisstation an der wichtigen Fjellroute Bergen- Finse- Hardangervidda- Hönefoss- Oslo war diese Herberge. Soviel haben wir anhand der nostalgischen Ausstattung und den traditionellen, norwegischen Gemälden bereits mitbekommen.

Im Nachhinein waren wir froh, dass wir diese Broschüre erst bei der Abreise erhielten. Sonst wären die anregenden Tage stark eingetrübt gewesen. Abgesehen von der Bedrückung durch das täglich vergegenwärtigte National- Trauma, was diese Insel Ütöya jeweils auslöste.
Erst nachdem wir mit der Fähre den vereisten, Winterzauber- Oslofjord nochmals mit allen Sinnen genossen haben und auf dem offenen Meer waren, kamen wir abrupt in der Wirklichkeit an.

In der mitgebrachten Hotel- Broschüre war nachzulesen, dass unser gastfreundliches, gediegenes Hotel befristet eine unsägliche Last aus der Vergangenheit trug. Hatte uns deshalb die kluge Hauswirtin die Broschüre erst bei der Abreise überreicht, um uns Deutschen den Aufenthalt und unsere wundervollen Erlebnisse nicht zu trüben?

Abreisende Frau mit dem Habseligkeitskoffer und dem Kummer

Die Nazi Besatzer und die Norwegischen Quisling- Nazis haben dieses große idyllische Haus requiriert und ein „Erholungsheim“ für Wehrmachtsoldaten darin eingerichtet. Aus ganz Südnorwegen wurden blonde, arische, gesunde, norwegische Mädchen zwangseinquartiert, um die Soldaten zu bespaßen und zu unterhalten. Es war also ein Puff. Mehr noch: Es war auch ein Mütter- und Kinderheim des NS- Mütterborns. Die so gezeugten, besser gesagt die gezüchteten Kinder, wurden den Müttern nach spätestens 1-2 Jahren weggenommen und nach Großdeutschland in Mütterborn- Kinderheime verlegt; also gefühlskalt entführt. Schätzungsweise 7 000 norwegisch-deutsche. „arische“ Kinder kamen so zur Blutauffrischung heim ins Reich. Von fast 14 000 norwegischen Frauen weiß man, dass sie so missbraucht und aufs schändlichste gedemütigt wurden. Zum Dank für ihr Leid wurden sie bei Kriegsende meist von den empörten Landsleuten kahlgeschoren und dem Hohn und dem Hass der Bevölkerung ausgesetzt. Dass sie nackt durch die Strassen getrieben wurden, wie ihre holländischen Leidensgenossinnen, blieb ihnen in Norwegen erspart. Eine persönlich bekannte Zeitzeugin wanderte, nach dem ihr die Haare wieder gewachsen waren, ins Land ihrer Peiniger aus. So wie die meisten der anderen gedemütigten norwegischen Frauen. Auch um der Brandmarkung in der Heimat zu entkommen, aber hauptsächlich, um nach ihren Kindern zu suchen. Dabei half manchmal die pedantische, recherchierbare Buchhaltung der Nazis. Oder die jungen Frauen zogen weg in weit entfernte andere Regionen des Landes, weil in der Heimatregion die anhaltenden Demütigungen und Erniedrigungen nicht auszuhalten waren.

Vielleicht versteht man jetzt die bedrückende, erschütternde Symbolkraft des

„Mädchens auf dem Koffer“

bei der Abreise und dem meist endgültigen Abschied von der leiblichen Mutter. Die wenigsten Mädchen konnten mit ihren Müttern wieder zusammengeführt werden.

Warum man das gerade jetzt doch mal erzählen sollte?

Frauen, Mädchen und Kinder saßen mit dem gleichen Gesichtsausdruck und der geknickten Haltung am Tisch beim Begrüßungs- und Freundschaftskaffee für die geflohenen Ukrainerinnen in Sumpfohren am 8.3.2022 bei der gütigen Familie Schöndienst.
In zuverlässigen Presseinfos wird derzeit berichtet, dass kriminelle Zuhälter traumatisierte, hilflose Flüchtlingsfrauen an Bahnhöfen mit sicherem Blick, zweifelhaftem Charme und €uroschein- fächernd anheuern und verführen wollen. Auch das ist ein hässlicher Teil des Putin Krieges neben den berüchtigten Kadirov- Tschedschenen Söldnern.

Denn nach oder bei jedem militärischem Krieg findet ein geheimnisumwitterter, unausgesprochener, unsäglicher Krieg statt. Ein Testosteron gesteuerter Nebenkriegsschauplatz. Das war so in der Steinzeit, bei den Wikingern, den Römern, bei der blonden Baaremerin Bisulla, den besagten Norwegerinnen, den Kosovarinnen, unlängst bei den Jessidinnen und das kann, wenn wir keinen Schutz gewähren und aufpassen, auch beim Ukraine Krieg so sein. Auch vor unserer Haustür.

Von der Weltöffentlichkeit und den Friedensengeln wird dieser Subkrieg selten angemahnt und meist schamhaft verschwiegen, übersehen und ignoriert.

Und deshalb mahnt uns das „Mädchen mit dem Koffer“.

Grossmutters Geschichten