Ob wir uns wiedersehen ……..
Was einem einmal durch Mark und Bein gegangen ist, vergisst man nie.
Unvergessen, Alexander Krieger
Donaueschingen 04.03.2022 / Okt. 1962
Jeden Morgen um Halb – Acht zur Schulzeit müht sich ein Mann vom Hindenburgring, durch das Friedensgässle, durch den Lassberg ins neue Gymnasium im Lehen in Donaueschingen. Während man noch das Marmeladenbutterbrot verspeist, sieht man aus dem Esszimmer auf den Gehweg. Ein Mann mit einem Stock humpelt mit von Schmerzen gezeichnetem Gesicht vorbei. Den Stock braucht er, um besser das Gleichgewicht zu halten und die Plagen, die ihm der Beinstumpf bereitet, etwas zu lindern. Die Prothese am Beinstumpf unter dem Bügelfalten Hosenbein muss ihn wohl sehr quälen. Seine Phantomschmerzen sind selbst aus der Distanz zu erahnen. Was Phantomschmerzen sind, weiß ein Quartaner in den 60-er Jahren in der Garnisonstadt aus familiären Gründen. Noch humpeln viele verhärmte Männer mit Krücken unter den Achseln durch die Stadt. Manche fahren auch mit dreirädrigen Gefährten, die sie mit den Armen antreiben und auch lenken, durch die Stadt. Das sind die unglücklichen Vollamputierten ohne Beine. Onkel Albert, dessen Holzfuß meist in der Ecke steht, quälen diese fürchterlichen Phantomschmerzen. Anschaulich und drastisch wurde einem das erklärt. Man weiß von diesen Schmerzen.
Einige Minuten nach dem humpelnden Mann mit dem Stock und der Prothese rennt man auch noch die Paar Meter zur Penne, wo es gerade klingelt.
Erste Stunde Latein bei diesem zwar etwas grimmigen, leidenden, aber dennoch gütigen Mann mit der gekrümmten Haltung. Dann andere Fächer und dann in der letzten Stunde auch noch Griechisch bei diesem Mann. Altphilologe, nennt man diesen strengen, respektierten und gerechten Mann. Anders wie viele seiner traumatisierten Kollegen spricht er nie von seinen sicher fürchterlichen Erfahrungen und Erlebnissen, die ihm das Bein gekostet haben. In den letzten zehn Minuten an diesem Vormittag ist das aber plötzlich ganz anders.
Zwar haben wir die Dramatik dieser Tage im Oktober 1962 am Radio und in Erwachsenen- und Elterngesprächen mitbekommen und gespürt. Aber was nun Studienrat Alexander Krieger erklärt und eindrücklich, eindringlich erläutert geht durch Mark und Bein. Noch heute kann ich die knisternde Atmosphäre und die Aura, die dieser Mann in diesen Minuten erzeugte, fühlen und spüren.
Bewegt, aufgewühlt und tief erschüttert berichtet er von den aktuell ablaufenden Vorgängen in der Kubakrise. Namen wie Nikita Chrustschow, J.F. Kennedy und andere Weltlenker fielen. Atomkrieg, Raketen, Embargo und U- Boote. Noch nie hatte der geschundene Weltkriegsinvalide auch nur ein persönliches Wort über Krieg und Militär in seinem Latein- und Griechischunterricht verloren. Die unerwartete Weltpolitik- Unterrichstminuten beeendete er mit den Worten:
„Es ist nicht sicher, ob wir uns jemals wiedersehen“.
Psychologen reden von vier Erinnerungsebenen. Der Kollektiven, der Kulturellen, der Kommunikativen und der Episodischen. Die Episodische taucht immer wieder mal auf und holt die anderen auch an die Oberfläche.
Denn 60 Jahre später endet ein erschütternd emotionaler Appel eines Staatsoberhauptes, dessen Land barbarisch und menschenverachtend überfallen wird, in einem Videoausschnitt mit einem luxemburgischen Staatsmann mit den gleichen Worten:
„ Es ist nicht sicher, ob wir uns jemals wieder treffen werden“.
Diesmal hören das nicht humanistische Spracheleven, sondern die ganze Weltöffentlichkeit. Und auch die ist, wie damals die Quartaner, zutiefst erschüttert und betroffen.
Immer wieder ist mir der unvergessliche Satz von Herrn Krieger durch den Kopf gegangen. Ob bei Vietnam , Sarajevo, Mauerfall, bei 9/11, bei Afghanistan, Chile, Irak, Syrien, Libyen und nun Ukraine. Schon deshalb haben sich die fünf wenig erfolgreichen, mühsamen Jahre Griechisch mehr als gelohnt.