Leckerbissen im Wald

Leckerbissen im Wald

20. Juli 2022 0 Von Wolf Hockenjos

Dass Weißtannen-Nachwuchs durch Wildverbiss existenziell gefährdet sein kann, wissen Förster und Waldbesitzer nicht erst seit der Tanne im galoppierenden Klimawandel eine tragende Rolle als Ersatz für die durch Trockenstress, Borkenkäfer und Stürme noch stärker gefährdete Fichte zuerkannt wird. Schon in den allerältesten forstlichen Lehrbüchern wird nachdrücklich vor dem verderblichen Einfluss von zu allzu vielen Rehen gewarnt. Bereits einer der ersten Heidelberger Lehrstuhlinhaber für Forstwissenschaft, C. F. von Sponeck, hat im Jahr 1817 unmissverständlich darauf hingewiesen, es sei „gar nicht zu berechnen, wie schädlich nur eine Rehfamilie in einem Jahr dem vollsamen Anflug dieser Holzart werden kann.“ Und 1833 schrieb der Forstwissenschaftler C. P. Laurop, Mitglied der obersten Forstbehörde in Baden, in seinem Lehrbuch Grundsätze des Forstschutzes: „Das Rehwild ist das schädlichste für die Waldungen, dessen Daseyn mit der Kultur eines Waldes gar nicht vereinbar ist.“ Oder sollten sie da vielleicht doch ein bisschen übertrieben haben? Als ob wir Bambi in unseren Wäldern kein Bleiberecht einräumen würden!

Kulturfolger und Krisengewinner Reh

Rehe sind wählerische „Konzentratselektierer“, lernt der Forststudent schon im ersten Semester. Sie weiden nicht quer durch die Bodenflora, sondern suchen sich die Leckerbissen heraus. Und doch bedarf es für Unsereinen mitunter erst besonderer Schlüsselerlebnisse, um ihre Wirkung auf das Ökosystem Wald ganz erfassen zu können. Zu einem solchen verhalf dem Autor einst ein ganz und gar unweidmännisches Missgeschick beim „Aufbrechen“ eines erlegten Rehs: Er hatte das Schmalreh von der Ansitzleiter herab schon eine ganze Weile beobachtet, wie es gemächlich äsend durch ein Tannenaltholz herbei zog. Nach dem Schuss hatte er ihm versehentlich den prall gefüllten Pansen aufgeschärft – und siehe da: in der spinatgrünen Bescherung quollen ihm lauter Tannensternchen (Keimlinge) entgegen!

Weißtannen-Keimlinge („Sternchen“)

Dies, wohlgemerkt, zu einer Jahreszeit, in der es noch reichlich sonstige Grünäsung gab, ob Brombeerranken oder Hasenlattich. Ein für alle Mal hat er seitdem den selektierenden Einfluss des Rehwilds gespeichert und verinnerlicht. Merke: Weißtannenverbiss findet auch bereits beim ersten Aufkeimen des Samens statt, selbst wenn er in den forstlichen Verbissgutachten, der Richtschnur für den Abschuss, noch keinerlei Erwähnung findet – nachweisbar ist er allenfalls mit Hilfe von Kontrollzäunen! Denen sollte er fortan seine besondere Aufmerksamkeit schenken.

Kontrollzaun nach 10 Jahren Standzeit

Wer auf Tannennachwuchs setzt, neigte schon immer dazu, auf Nummer Sicher zu gehen: Vorsorglich schützte er ihn, indem er alljährlich im Herbst die Gipfelknospen jeweils mit einer Flocke ungewaschener Schafwolle umwickelte. Neuerdings verwendet man dazu eher bunte Kunststoffklammern oder auch chemische Verbissschutzmittel, sofern man die Tännchen nicht sogar in Drahthosen steckte oder gleich hektarweise einzäunte. Am liebsten würde man die Tännchen gar, nicht anders als Laubbaumkulturen und Douglasienpflanzungen, in jene hässlichen Polypropylen-Wuchsstoffhüllen verpacken, wo immer man glaubt, den Faktor Wildverbiss nicht anders mehr in den Griff zu bekommen. Doch hiervon wird einstweilen (gottlob!) noch abgeraten.

Heillos verbissene Jungtanne

Rehwild zählt zweifellos zu den Gewinnern der Klimakrise. Mit den milder und schneeärmer werdenden Wintern verliert der wichtigste natürliche Regulator von Pflanzenfressern zusehends an Wirksamkeit. Und ob ihre natürlichen Fressfeinde, Luchs und Wolf, jemals wieder zum Zug kommen werden, steht noch in den Sternen. Zugleich verbessert sich das Äsungsangebot auf den Schadflächen, welche Borkenkäfer und Stürme hinterlassen haben; Himbeere, Weidenröschen und vielerlei krautige Pflanzen gedeihen üppigst in der Schlagflora, begünstigt überdies durch den viel zu hohen Stickstoffeintrag aus Verkehr und Landwirtschaft. Und in den gepflanzten Kulturen und Dickungen entstehen fürs Wild neue „Einstände“ mit reichlich Deckungsschutz – Lebensraumverbesserungen, die zuverlässig zu erhöhter Reproduktivität führen, wie sich schon nach den Orkanschäden ausgangs des vorigen Jahrhunderts gezeigt hat. Von Artenschwund, gar von  Ausrottung kann beim Kulturfolger Reh wahrlich keine Rede sein.

Umso mehr kommt es jetzt darauf an, beim Waldumbau hin zu zukunftsfähigen strukturierten, stabilen und zu CO2 speichernden Mischwäldern mit reichlichen Tannenanteilen zu klotzen anstatt zu kleckern. Denn je spärlicher der Tannennachwuchs, desto schwieriger ist das Verbissschutzproblem zu lösen. Ziel muss es sein, den „vollsamen Anflug“ der Tanne (C. F. von Sponeck) auf größtmöglicher Fläche bei intensivierter Rehwildregulierung sicherzustellen, sodass alsbald der Kipp- und Wendepunkt erreicht wird, ab dem das Angebot an Leckerbissen die Nachfrage übersteigt.