
Kadaververjüngung: eine fotografische Begleitung
Was für ein unfeiner, hässlicher Fachausdruck: Kadaververjüngung – wie wär´s stattdessen mit Totholz- oder Moderholzverjüngung? Gemeint ist die speziell von Fichten bevorzugte Art, sich auf vermoderndem Holz anzusamen. Was einerseits zwar mit dem Risiko unzureichender Wasser- und Nährstoffversorgung behaftet ist, für die Verbreitung aber auch Vorteile verspricht: In erhöhter Position lassen sich allfällige Keimungsprobleme auf vergrasten oder allzu steinigen und verdichteten Waldböden besser aussitzen und auch dem Wildverbiss besser trotzen – in naturnahen Bergfichtenwäldern ein verbreitetes Erfolgsrezept. Aber durchaus nicht nur dort: Als ich in den Jahren 2011 – 2018 den Stoff sammelte für meinen Bildtextband Unterhölzer. Liebeserklärung an einen alten Wald (2018), traf ich in diesem frühen Naturschutzgebiet, dem einstigen Wildpark der Fürsten zu Fürstenberg, auf eine Vielzahl von faszinierenden Beispielen, wie Fichtenjugend auf den Trümmern uralter Eichen und Buchen, ob stehend oder liegend, ihr passendes Keimbett gefunden hatte – und sich nun beeilte, den Laubwald zu unterwandern.
Bei meinen zahlreichen Begängen mit geschulterter Nikon (von denen ich nur selten ganz ohne Ausbeute nachhause kam) hatte unweit des Waldeingangs schon bald ein Stumpen meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt: Offenbar war hier vor Jahren eine starke Fichte auf nicht eben fachmännische Weise fast in Brusthöhe umgesägt worden. Oder hatte sie vielleicht der Sturm entwurzelt, und man hatte sie sicherheitshalber etwas höher am Stamm vom Wurzelteller getrennt, ehe der wieder zurück geklappt war? Im Mulm der allmählich bemoosten und vermodernden Schnittfläche hatten sich jedenfalls drei Fichtlein eingefunden. Die schienen hier prächtig zu gedeihen, wurden sie doch nicht, wie andernorts ihre „bodenbürtigen“ Altersgenossen, von den allzu vielen Damwild-Äsern vernascht und zurechtgestutzt.
Erstmals im Jahr 2011 hatte ich das kleine Idyll entdeckt und fotografiert. Ließ sich denn ein sprechenderes Beispiel dafür finden, wie Jugend erfolgreich auf den Schultern der Elterngeneration Fuß fasst, um dann durchstarten zu können? Ich beschloss, das Ensemble mit der Kamera weiter zu begleiten, war ich doch neugierig geworden, ob die Fichten es wirklich schaffen würden auf ihrem exponierten Klotz. Würden die zarten Würzelchen aus ihm genügend Nährstoffe und Wasser beziehen, um zu überleben? Und würden sie, kräftiger geworden, rasch genug den Waldboden erreichen, ehe der Stumpen vollends verrottet wäre. Würden dann womöglich mangrovenartige Stelzenfichten daraus entstehen, wie man sie bisweilen ja auch in extensiv bewirtschaften Bergwäldern bewundern kann?


Die kleine Idylle zeigt sich dem Fotografen an diesem Tag in ziemlich desolater Verfassung. Die Fichten sind seitlich weggekippt, und nur die kräftigste ist noch grün benadelt. Ihr als einziger war es bereits 2017 gelungen, mit einer ihrer Wurzeln den rettenden Waldboden zu erreichen, und nun kämpft sie ums Überleben:
Ihr Stämmchen krümmt sich bereits himmelwärts, und sollte sie es nächstens tatsächlich wieder in die Lotrechte schaffen, wird aus ihr (in den Augen des Waldbesitzers) ein ziemlich missgestalteter, säbelwüchsiger Baum werden. In gepflegten Wirtschaftswäldern würde der wohl alsbald entnommen werden, denn das Wirtschaftsziel sieht nun einmal kerzengerade, astarme und möglichst wertholztaugliche Stämme vor. Ob er im Naturschutzgebiet Unterhölzer nicht dennoch älter werden darf? Dann, immerhin, hätte sich die einstige Kadaververjüngung für ihn doch noch ausgezahlt. Nur schade: bis zum Happyend müsste man die Begleitung mit der Kamera halt noch über ein paar weitere Jahrzehnte fortsetzen dürfen.
Die digitale Fotoausbeute wird bekanntlich mitsamt Entstehungsdatum gespeichert. Einstweilen endet die Dokumentation zur Kadaververjüngung auf dem Stumpen verbürgtermaßen am 23. Februar 2022. Diesmal hatten die schneefreie Baar, die Frühlingsluft und erstes verhaltenes Vogelgezirp zum Waldspaziergang mit der Kamera animiert. Und danach hatte ich, ganz ohne Trauergefühl über die Vergänglichkeit meines kleinen Idylls, die Fotos von der Speicherkarte in den passenden Ordner übertragen – alles noch wie gehabt. Doch in der nachfolgenden Nacht hat Wladimir Putin zum Entsetzen der Europäer die Ukraine überfallen. Seitdem gibt es, erstmals seit dem Kosovokrieg, wieder Gefallene und Verwundete, wie die Medien atemlos berichten. Verwesende Leichen als Kadaver zu bezeichnen verbietet uns bei Menschen die Pietät. Belassen wir es also, bitteschön, auch im Wald – um derartige Assoziationen gar nicht erst aufkommen zu lassen – bei der um soviel unverfänglicheren Bezeichnung Moderholzverjüngung.