Kadaververjüngung: eine fotografische Begleitung und eine fällige Korrektur
überarbeiteter Artikel, Original vom 1. März 2022
Was für ein unfeiner, hässlicher Fachausdruck: Kadaververjüngung – wie wär´s stattdessen mit Totholz- oder Moderholzverjüngung? Gemeint ist die speziell von Fichten bevorzugte Art, sich auf vermoderndem Holz anzusamen. Was einerseits zwar mit dem Risiko unzureichender Wasser- und Nährstoffversorgung behaftet ist, für die Verbreitung aber auch Vorteile verspricht: In erhöhter Position lassen sich allfällige Keimungsprobleme auf vergrasten oder allzu steinigen und verdichteten Waldböden besser aussitzen und auch dem Wildverbiss besser trotzen – in naturnahen Bergfichtenwäldern ein verbreitetes Erfolgsrezept. Aber durchaus nicht nur dort: Als ich in den Jahren 2011 – 2018 den Stoff sammelte für meinen Bildtextband Unterhölzer. Liebeserklärung an einen alten Wald (2018), traf ich in diesem frühen Naturschutzgebiet, dem einstigen Wildpark der Fürsten zu Fürstenberg, auf eine Vielzahl von faszinierenden Beispielen, wie Fichtenjugend auf den Trümmern uralter Eichen und Buchen, ob stehend oder liegend, ihr passendes Keimbett gefunden hatte – und sich nun beeilte, den Laubwald zu unterwandern.
Bei meinen zahlreichen Begängen mit geschulterter Nikon (von denen ich nur selten ganz ohne Ausbeute nachhause kam) hatte unweit des Waldeingangs schon bald ein Stumpen meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt: Offenbar war hier vor Jahren eine starke Fichte auf nicht eben fachmännische Weise fast in Brusthöhe umgesägt worden. Oder hatte sie vielleicht der Sturm entwurzelt, und man hatte sie sicherheitshalber etwas höher am Stamm vom Wurzelteller getrennt, ehe der wieder zurück geklappt war? Im Mulm der allmählich bemoosten und vermodernden Schnittfläche hatten sich jedenfalls drei Fichtlein eingefunden. Die schienen hier prächtig zu gedeihen, wurden sie doch nicht, wie andernorts ihre „bodenbürtigen“ Altersgenossen, von den allzu vielen Damwild-Äsern vernascht und zurechtgestutzt.
Erstmals im Jahr 2011 hatte ich das kleine Idyll entdeckt und fotografiert. Ließ sich denn ein anschaulicheres Bild dafür finden, wie Jugend erfolgreich auf den Schultern der Elterngeneration Fuß fasst, um dann durchstarten zu können? Ich beschloss, das so symbolträchtige Ensemble mit der Kamera weiter zu begleiten, war ich doch neugierig geworden, ob die Fichten es wirklich schaffen würden auf ihrem hohen Klotz. Würden die zarten Würzelchen aus ihm ausreichend Nährstoffe und Wasser beziehen, um zu überleben? Und würden sie, kräftiger geworden, rasch genug den Waldboden erreichen, ehe der Stumpen vollends verrottet wäre? Würden daraus dann womöglich mangrovenartige Stelzenwurzler entstehen, wie sie bisweilen ja auch in extensiv bewirtschaften Bergfichten-wäldern zu bewundern sind?
Die kleine Idylle zeigt sich dem Fotografen an diesem Tag in ziemlich desolater Verfassung. Die Fichten sind seitlich weggekippt, und nur die kräftigste ist noch grün benadelt. Ihr als einziger war es bereits 2017 gelungen, mit einer ihrer Wurzeln den rettenden Waldboden zu erreichen, und nun kämpft sie ums Überleben:
Ihr Stämmchen beginnt, sich vorsichtig bereits nach oben zu krümmen, und sollte sie es nächstens tatsächlich wieder in die Lotrechte geschafft haben, wird aus ihr wohl ein (in den Augen des Waldbesitzers und Verwerters) ziemlich missgestalteter, säbelwüchsiger Baum werden. Im Wirtschaftswald wäre Derlei wohl alsbald auszumustern, denn das Wirtschaftsziel sieht nun einmal kerzengerade, astarme und möglichst wertholztaugliche Stämme vor. Ob er im Naturschutzgebiet Unterhölzer zu tolerieren sein wird und alt werden darf? Dann, immerhin, hätte sich die Kadaververjüngung für ihn schließlich doch noch ausgezahlt.
Die digitale Fotoausbeute wird bekanntlich mitsamt Entstehungsdatum gespeichert. Einstweilen endete die Serie zum Thema Kadaververjüngung auf dem Stumpen, festgehalten am 23. Februar 2022. Die schneefreie Baar, die Frühlingsluft und erstes verhaltenes Vogelgezirp hatten mich da zu einem weiteren Waldspaziergang mit der Kamera animiert. Heimgekehrt, hatte ich die Fotos, ganz ohne Trauergefühl über den Zerfall meines kleinen Idylls, wie gewohnt von der Speicherkarte in den passenden Ordner übertragen – alles war noch wie sonst.
Doch in der nachfolgenden Nacht hat Wladimir Putin zum Entsetzen der Europäer die Ukraine überfallen. Die Gesichter seiner Generäle hatten in der Szene des russischen Staatsfernsehens – was denn wohl sonst? – entschlossenen Kadavergehorsam widergespiegelt. Seitdem gibt es in Europa, wie die Medien nahezu täglich berichten, erstmals seit dem Kosovokrieg 1998/99 wieder Gefallene und Verwundete. Die entsetzlichen Bilder von Butscha lassen uns seitdem alle nicht mehr los!
Der vorerst letzte Besuch bei meinem Motiv fand am 19. September 2023 statt, das Datum ist digital verbürgt auf dem Foto. Es zeigt den weiter fortschreitenden Zerfall des Stumpens, doch die letzte Überlebende der drei jungen Fichten hat offensichtlich auch den jüngsten Hitzesommer heil überstanden: die Benadelung zeigt sich in satterem Grün als noch im Vorjahr, und das Stämmchen krümmt sich noch deutlicher nach oben. Schade: man müsste die Begleitung mit der Kamera (die nun wohl doch keine Sterbebegleitung war) eigentlich noch über ein paar Jahrzehnte fortsetzen dürfen. Wer weiß – womöglich startet die Überlebende hier ja soeben ihre Karriere als Harfenfichte. Gerade so, wie sie sich vereinzelt noch in den Baumbüchern finden lassen, die um die vorletzte Jahrhundertwende Mode geworden waren: als Naturdenkmal mit horizontalem Erdstamm und mehreren lotrechten Wipfeln – ein neues Schmuckstück für das Naturschutzgebiet Unterhölzer.
Freudig gestimmt und voller Zuversicht treffe ich nach diesem jüngsten Waldbesuch zuhause ein – und schalte wie gewohnt die Mittagsnachrichten ein: Als Topmeldung wird diesmal ein Angriff aserbaidschanischer Truppen auf die im kaukasischen Bergkarabach lebenden Armenier serviert. Strategisch geschickt, heißt es, wo doch Armeniens bisherige (russische) Schutzmacht noch immer durch ihre „Spezialoperation“ in der Ukraine abgelenkt wird – in einem Krieg, der in Putins Reich bei Strafe noch immer nicht als solcher bezeichnet werden darf. Egal: Kriegstote, gleich welcher Seite und in welchem Verwesungszustand als Kadaver zu bezeichnen, verbietet die Pietät.
Verzichten wir jetzt endlich doch auch im Fachjargon der Förster auf Kadaver, belassen wir es im Wald – der schlimmen Assoziationen wegen – beim wundersamen Phänomen der Moderholzverjüngung.