Die Zwei-Prozent-Legende
Parteiübergreifend sind sich inzwischen fast alle einig – vor wie nach der Bundestagswahl: Nach dem beschlossenen Ausstieg aus Kohle, Öl, Erdgas und vorneweg aus der Kernkraft, dem im Ausland mit Skepsis beäugten deutschen Sonderweg, müssen es jetzt die regenerativen Energieträger allein richten, allen voran Fotovoltaik und Windenergie. Was jedoch nicht heißen soll, dass jeglicher Widerstand speziell gegen den Ausbau der Letzteren jetzt endgültig abgeflaut wäre. Die rund eintausend Bürgerinitiativen werden in den Medien zwar nahezu unisono als „NIMBY-“(not-in-my-backyard-)Egoisten abgetan, als St. Floriansjünger, die vor dem Wohnzimmerfenster halt partout keine sich drehenden Rotoren mögen – und sich deshalb nach Einschätzung der Befürworter und Betreiber mit Vorliebe hinter Arten- und Landschaftsschutzargumenten zu verschanzen pflegen. Und doch ist es ihnen selbst im Grün-regierten Baden-Württemberg bislang oft genug gelungen, die Genehmigungsverfahren so gründlich aufzumischen und zu verzögern, dass der Zubau mit Windrädern fast zum Erliegen gekommen ist. Sechs Jahre dauere im Schnitt die Genehmigung eines Windrads, so wird geklagt. Umso einhelliger waren im Wahlkampf die Forderungen nach Entbürokratisierung, Entfesselung und Beschleunigung der Verfahren, gar nach Beseitigung des Verbandsklagerechts. Denn dass der Stromverbrauch bereits heute rasant ansteigt und mit der E-Motorisierung, erst recht mit der (grünen) Wasserstoffproduktion ins Unermessliche anwachsen wird, ist längst unübersehbar.
Was bleibt da anderes übrig, als eine Vervielfachung sowohl der Fotovoltaik auf Dächern und Grünflächen als auch der Windenergieanlagen zu fordern. Derzeit wird die Anzahl der Windräder bundesweit auf ca. 30.000 geschätzt – und schon diese scheinen vielerorts Leidensdruck zu erzeugen. Nächstens werden es etliche Hunderttausend sein müssen, wenn in der Industrienation Deutschland nicht Blackouts drohen und die Lichter ausgehen sollen. Doch selbst mit noch so vielen Windparks werden winterliche „Dunkelflauten“ nicht gänzlich zu vermeiden sein, sofern uns nicht umgehend mit französischem Atom- und/oder tschechisch-polnischem Braunkohlestrom ausgeholfen wird, denn ausreichende Speichermöglichkeiten des volatilen Stroms sind bis in ferne Zukunft nirgendwo in Sicht.
Grundlastfähige Energieversorgung hin oder her: Mit nichts begegnet man Zweiflern derzeit häufiger, als mit dem Argument, es würden dazu ja nur zwei Prozent der Landesfläche benötigt. Was es jetzt brauche, so tönte erst unlängst wieder der Präsident des Bundesverbands Windenergie, Hermann Albers, vor der Bundestagswahl, sei ein starker Impuls des Bundes für die Flächenbereitstellung. Ein Flächenziel von mindestens zwei Prozent für die Windenergie an Land sei im Raumordnungsgesetz überfällig; dies werde die Bundesländer binden und Flächenpotenziale mobilisieren.
Zwei Prozent – es wäre doch gelacht, wenn diese Zielmarke in Deutschland nicht zu realisieren, nicht zu verschmerzen wäre! Wo es doch jetzt ums Ganze geht, um die Notbremsung des galoppierenden Klimawandels. Mit Flächenziel gemeint sind freilich nicht etwa die Vorrangflächen für Windenergienutzung, wie sie die Kommunen per Flächennutzungsplanänderung bereits anfangs des Jahrtausends auszuweisen hatten. Denn deren Flächenanteil dürfte die Zweiprozent-Schwelle bereits heute um ein Vielfaches überschreiten. Die Rede ist wohl eher vom Flächenbedarf der Baustellen von Windenergieanlagen: im Wald, wie die Erfahrung zeigt, ca. 1 Hektar je Windrad inklusive der „Zuwegung“. Doch ist es damit wirklich getan angesichts von bis zu 250 m hohen Windenergieanlagen? Als ob nicht zwingend auch Nah-, Fern- und Suggestivwirkung in der Landschaft mit einzubeziehen und zu bewerten wären!
Wer durch Deutschland reist, kann mittlerweile ein Lied singen vom Ausmaß der landschaftlichen Belastung durch die Windenergie. Gewiss, man fährt dabei auch durch Landstriche, für die der Sammelbegriff Landschaft an Euphemismus grenzt angesichts all der Verkehrsachsen und all der Ödnis von Agrarindustrie oder Zersiedelung: Doch sind es dann – gottlob – zumeist ja auch vergleichsweise windhöffige Kultursteppen, die durch nichts mehr zu verunstalten sind, egal wie viele Windparks dort zusätzlich noch geplant sein mögen – nichts also wie hin damit! Zugleich aber durchquert man geschlossene Waldgebiete und bislang noch leidlich intakte naturnahe Kulturlandschaften, die nun mit den Giganten überstellt werden, womit das Landschaftsbild horizontweit befrachtet wird – und dies selbst in Naturparks und Landschaftsschutzgebieten. Auch im Schwarzwald, der touristischen Vorrang- und Vorzeigelandschaft mit ihrem weltweiten Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad, wo sich schon zu Beginn des Jahrtausends die ersten WEA-Widerstandsnester zusammengefunden hatten, schweift der Rundblick etwa vom Aussichtsberg Kandel bei klarer Sicht inzwischen über mehr als 30 Windräder hinweg. In dunstiger Ferne sind sie als dünne weiße Stifte im Grünblau der Wälder auszumachen, doch schon auf mittlere Distanz mitsamt den sich drehenden Rotoren, die den Blick suggestiv auf sich ziehen – weg vom erhofften Landschaftserlebnis pur.
1.000 (!) WEA sollen in Baden-Württemberg jetzt zusätzlich errichtet werden, des leichteren Zugriffs wegen im Staatswald. So steht es im neuen Koalitionsvertrag von Grünen und CDU.
Es ist ein Ziel, das einen schaudern lässt – auch wenn im Moment nur noch von 500 WEA die Rede ist! Denn damit müsste im windschwächsten Bundesland jede auch nur halbwegs windhöffige Plateaulage und jeder Bergrücken bestückt werden. Adieu Arten- und Landschaftsschutz, adieu Tourismus! Dies – wohlgemerkt – zu einem Zeitpunkt, an dem in Erfurt die Regierungskoalition (unter Einschluss der Grünen) den Wald als Standort für Windräder kategorisch ausgeschlossen hat – nicht zuletzt aus Angst vor einem weiteren Anwachsen der AfD-Opposition! Im Bundestagswahlkampf war es fast ausschließlich den Rechtspopulisten vorbehalten geblieben, Kritik an der „Verspargelung“ zu üben. Und jenseits des Rheins, im beginnenden Wahlkampf um die Präsidentschaft, tun es ihnen die Nationalisten unter Marine le Pen gleich. Als ob nicht schon im Jahr 2018 eine Repräsentativumfrage im Auftrag der Deutschen Wildtierstiftung das Ergebnis erbracht hätte, dass knapp 80 % der Befragten Windenergieanlagen im Wald abgelehnt haben.
Die Landschaft, so steht es noch immer im Naturschutzgesetz, ist in ihrer Vielfalt, Eigenart und Schönheit auch wegen ihrer Bedeutung als Erlebnis- und Erholungsraum des Menschen zu sichern. Erholungslandschaft, Landschaftsästhetik, das als wohltuend „schön“ empfundene Landschaftsbild, damit haben sich die Umweltverbände bekanntlich schon immer recht schwergetan – da viel zu gefühlsbetont, zu wenig rational, zu wenig wissenschaftlich. Dabei hat die Forderung ja sogar Verfassungsrang, steht sie doch auch im Grundgesetz Art. 20a. Und in jeder Schutzverordnung eines Landschaftsschutzgebiets findet sich unter § 4 Verbote nach wie vor der Passus: Verboten sind alle Handlungen, die dem Schutzzweck zuwider laufen, insbesondere, wenn dadurch das Landschaftsbild nachhaltig geändert oder die natürliche Eigenart der Landschaft auf andere Weise beeinträchtigt wird oder wenn dadurch der Naturgenuss oder der besondere Erholungswert der Landschaft beeinträchtigt wird.
Leben wir angesichts des Klimawandels bereits im quasi-übergesetzlichen Notstand, in welchem wir uns „Luxusprobleme“ wie die Unversehrtheit der Landschaft halt einfach nicht mehr leisten können und uns notfalls eben auch über die gesetzlichen Bestimmungen hinwegsetzen müssen? Alles wäre so einfach, wenn sich die Industrialisierung der Landschaft mit Windenergieanlagen tatsächlich auf zwei Prozent der Landesfläche beschränken ließe – die heillos verhunzten, doch leidlich windhöffigen Landstriche wären rasch gefunden. Doch schon sind Studien im Umlauf, breit gestreut vom Bundesamt für Naturschutz (BfN), die den doppelten Flächenbedarf unterstellen unter dem Motto „Mehr Flächen für Windenergie – natur- und landschaftsverträglich verteilt“. Eine Studie der Uni Hannover geht, unter Einrechnung „des mittleren Raumwiderstands der Windkraft“, bereits von 4 Prozent aus, ohne dabei auch nur anzudeuten, was dies in ihrer Komplexwirkung für Folgen haben wird – zumal in sensiblen, noch halbwegs intakten Kulturlandschaften. Die Zweiprozent-Legende entpuppt sich so als Beschwichtigungs-, ja, als Täuschungsversuch. Per E-Motor, mit maßvollem ökologischem Fußabdruck und guten Gewissens werden wir nächstens überall hinreisen können; doch es wird sich, wie es einst schon der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz vorformuliert hat, nicht mehr lohnen, dort anzukommen.
Im schönen grünen Bergmischwald,
nach M. Lieser, 2018
wo heut Touristen wandeln,
da werden Windturbinen bald
den Wald vollends verschandeln.
Dann hält sich,
wer auch kommen mag,
die Augen zu und Ohren
zum Schutze gegen Schattenschlag
und rauschende Rotoren.
Die Landschaft, die uns teuer war,
ist leider nicht erneuerbar.