Alpine Obsession
Anfangs war es der alpine Skilauf, der es mir angetan hatte. Geübt wurden die Parallelschwünge der Arlbergschule in der noch liftlosen Winterlandschaft. Zuvor hatte sich der väterliche Lehrmeister noch bemüht, uns altbackene Christianiaschwünge beizubringen. Wo hatte er die bloß her? Die Slalomstangen aus Haselnuss steckten wir je nach Schneelage und Trainingsfortschritt in den St. Märgener Klosterbuckel, den Farnbühl oder den Meierhofberg. Und natürlich nahm ich bald auch an Rennen teil, sei es bei Clubmeisterschaften, beim so gefürchteten heimischen Abfahrtslauf auf engster Waldschneise nach Wildgutach hinab, beim Torlauf am berühmt-berüchtigten Kandel-Nordhang oder zum Ausklang im Sulz des Frühjahrsschnees beim Rudi-Cranz-Gedächtnisrennen im Zastlerloch. Die Erfolge hielten sich freilich in Grenzen, und auch Sturzverletzungen blieben nicht aus ohne Sicherheitsbindung und auf den mehr schlecht als recht präparierten Wettkampfpisten: Zerrungen, auch ein gebrochenes Bein beim Vöhrenbacher Kandelblick-Abfahrtsrennen, was sich dann prompt auch im Schulzeugnis niederschlug. Kein Wunder, dass ich mich bald mehr und mehr vom alpinen Sport abwandte und ins Lager der Nordischen überwechselte, wo andere Qualitäten gefragt waren. Die gezackte Alpenkette, wie sie sich uns von Kindesbeinen an vom Schwarzwald aus präsentierte, blieb dennoch ein fernes Sehnsuchtsziel.
Die erste leibhaftige Begegnung mit alpiner Topographie fand erst im Sommer 1956 statt, nachdem ich bis dahin in den Schulferien den Schwarzwald und dann die Mittelgebirge rundum mit Brüdern und Vater abzuwandern hatte. Nun also war der alemannische Bregenzerwald dran mit Kanisfluh und Hochkünzelspitze. Der alpinistische Appetit wurde dort geweckt, verbunden aber auch mit dem Respekt des Mittelgebirglers vor allzu ausgesetzten Felspartien. Doch die Fitness des Skilangläufers verlangte nach anspruchsvolleren Touren. Logisch, dass ich mich da nach Schulabschluss und Musterung zur Gebirgstruppe meldete. In der Mittenwalder Jägerkaserne hatte sich zur Grundausbildung eine muntere Truppe eingefunden, die allesamt anscheinend der Berg gerufen zu hatte: die Aussicht auf alpinen Lustgewinn – wenn schon nicht im Dienst, so doch an den Wochenenden, an welchen man sich nach Kräften austoben konnte, ob im Karwendel, im Wettersteingebirge oder auch jenseits des Inns bis hinauf aufs Stubaier Zuckerhütl. Die erhofften dienstlichen Kletterlektionen „mit Seil und Haken, den Tod im Nacken“ (wie es das Marschlied der Gebirgsjäger versprach), hielten sich eher in Grenzen – von gelegentlichem Abseilübungen abgesehen.
Noch heftiger packte mich die Lust auf Hochtouren in der nachfolgenden Freiburger Studienzeit. Schuld daran hatte vor allem Wolfdieter M., seines Zeichens Assistent im forstzoologischen Institut, der sich sogar schon einen flotten fahrbaren Untersatz leisten konnte und sich bereits einen Ruf als bergerfahrener „Westalpengeher“ erworben hatte. Womöglich hätte ich vor ihm und seinen Eigenheiten gewarnt sein müssen. Erzählte man sich doch unter den Kommilitonen, dass er eines Morgens strahlend in den Hörsaal gestürmt sei und dabei ausgerufen habe: „Sind alle tot, sind alle tot!“ Des Rätsels Lösung: Eigentlich hatte Wolfdieter gehofft, zur Teilnahme an einer Freiburger Himalaya-Expedition eingeladen zu werden, was aber aus undurchsichtigen Gründen dann doch nicht geklappt hatte. Just an diesem Morgen hatte ihn die Meldung erreicht, dass sämtliche Teilnehmer der Expedition Opfer eines Lawinenabgangs geworden waren. Man wird sich doch wohl freuen dürfen, dass es einen nicht selbst erwischt hat!
Was mich freilich nicht daran gehindert hat, mich immer wieder einmal als Beifahrer in Wolfdieters Renner zu setzen, um dank seiner in die Westalpen, vorzugsweise nach Hochsavoyen zu düsen. Davon konnte mich auch seine Gewohnheit nicht abhalten, nach vollbrachter Tour in französischen Restaurants feudal zu dinieren, während ich armer Studentenschlucker derweil mit der restlichen Rucksackverpflegung und bestenfalls einem Panaché (Radler) an der Theke Vorlieb nehmen musste. Nicht einmal seine Bemerkung, gefallen irgendwo bei einer Rast am Berg, hatte mich erschüttern können, er habe stets ein Sackmesser dabei, um im Falle eines durch Steinschlag schwerverletzten Partners das Seil kappen und sich in Sicherheit bringen zu können.
Zur denkwürdigsten Tour mit Wolfdieter (sowie einem Freiburger Alpinistenpaar) starteten wir an einem frühen Samstagmorgen nach Chamonix, um von dort mit der Aiguille du Midi-Seilbahn noch die Mittelstation zu erreichen; von hier aus stiegen wir per Ski zur heillos überfüllten Grand Mulet-Hütte auf. Nach einer kurzen Nacht (wegen des vollbelegten Matratzenlagers auf Tischen schlafend) ging es weiter über den Bossons-Gletscher bis zur Valot-Hütte auf 4322 m Höhe hinauf, sodann weiter mit Steigeisen und Skistöcken auf ausgetretener Spur in Richtung Montblancgipfel. Weil ich keinerlei Probleme mit Höhe und Kondition verspürte, stieg ich allein weit voraus. Doch auf halbem Weg zum Gipfel des Monarchen glaubte ich plötzlich zu halluzinieren: Aus dem Eis starrte mich plötzlich ein Affe an! Wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, war Monate zuvor ein Flugzeug des arabischen Potentaten Ibn Saud am Gipfel zerschellt; aus ihm stammte das Äffchen, das die französischen und italienischen Bergsteiger beim Einsammeln der über den Gipfelhang verstreuten Wertgegenstände offenbar verschmäht und liegengelassen hatten. Die Ausschüttung der Glückshormone auf Europas Dach ist trotz des Schockerlebnisses nicht ausgeblieben, doch rasch wurde es wieder Zeit für den Abstieg, alsdann zu einer ebenso spaltenreichen wie schier endlosen Gletscherabfahrt wieder hinunter zur Seilbahnstation, schließlich zur beschleunigten Heimfahrt in Wolfdieters rasantem Zweisitzer. Schließlich wollte ich am Montagmorgen ja die Vorlesungen nicht versäumen.
Das Hochgebirge lockte auch nach dem Studienabschluss unvermindert weiter. Jetzt zog es den Referendar jedoch vermehrt in die Ostalpen, denn schon der Gebirgsjäger hatte in Mittenwald seine spätere Frau und Mutter seiner beiden Töchter gefunden. Der Abschluss der Hochzeitsfeierlichkeiten fand – neigungsgemäß – hoch oben auf einer Ötztaler Jaghütte statt.
Beim Langlauf auf dem Thurner, wo ich seit 1972 dem Förderverein des Langlaufzentrums vorstand, freundete ich mich mit dem bergsteigerisch noch höchst agilen bayerischen Orthopäden Michl K. an, der mich zu gemeinsamen Bergtouren im Wallis und in den Dolomiten animierte. Michl bildete zusammen mit seinem Bruder Peter eine exzellente Seilschaft, die mit mir als Anhängsel im steileren Fels die Fähigkeiten des Mittelgebirglers oft glatt überforderte. Nicht hingegen, wenn es per Ski hinauf gehen sollte: Da konnte der Schwarzwälder Kraft und Ausdauer ausspielen, und bergab war auf die früh erlernten Parallelschwünge noch immer Verlass. Kritisch wurde es in den Dolomiten, wo ich klettertechnisch vollends an meine Grenzen stieß. Unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist mir der Aufstieg über den Nordgrat auf den Paternkofel, den Nachbarn der Drei Zinnen: „Es führt da ja fast eine Autobahn hinauf!“, ermunterte mich Michl in seiner (unter Alpinisten nicht unüblichen) Art der Untertreibung. Und so stieg ich tapfer hinter den Brüdern in einen steilen gewundenen Tunnel aus dem Ersten Weltkrieg, um aus einem seiner Fenster in die Wand einzusteigen – schwindelig hoch über der Drei Zinnen-Hütte. Als Letzter in der Seilschaft fiel da mein Blick plötzlich durch die Beine auf die Hüttengäste hinunter, die uns mit Ferngläsern verfolgten, als warteten sie nur darauf, bis einer den Halt verliert. Dies war der Moment, in dem ich mir schon mal die Negativschlagzeile in der BILD ausmalte, die überm Bericht stehen würde von der Selbstüberschätzung eines allzu ungeübten Schwarzwälder Bergtouristen.
Kurz vor Antritt meiner beruflichen Lebensstellung als Villinger Forstamtsleiter war es der Hinterzartener Gastronom Karlheinz Z., der mich (weil die beruflichen und familiären Anforderungen mir derlei Eskapaden künftig ja eh nicht mehr erlauben würden) nicht nur zu einer Alaskareise überredete, sondern obendrein zu einer Trekkingtour in den Himalaya. Ziel war das Annapurna-Gebiet, nein, nicht hinauf auf den Achttausender, sondern nur bis zum Basecamp auf vergleichsweise bescheidener Meeereshöhe von 4300 m., auch in Demut vorbei an der so unfassbar gewaltigen Pyramide des die 7000 m knapp verfehlenden Machapuchare, des nepalesischen Götterbergs mit seinem charakteristischen Fischschwanz-Doppelgipfel. Stiegen wir zunächst durch prachtvoll blühende Rhododendron-Wälder und dies, dank Sherpas und Portern, auf denkbar leichtfüßige und komfortable Art und Weise, so wurden wir bald von einem heftigen Wintereinbruch überrascht, in dessen Folge die Lawinen vor und hinter uns nur so herabrauschten. Am Basecamp oben eingetroffen und nach einer Nacht im dick verschneiten Zelt fand ich beim Early Morning Tea, überreicht vom sichtlich besorgten Sherpa, eben noch Zeit, mich meines runden 40. Geburtstags zu erinnern, ehe wir wieder talauswärts hasteten. Die Nachfeier fand schließlich außerhalb der Schnee- und Lawinenzone statt – im dankbaren Gefühl eines mir geschenkten zweiten Geburtstags.
Allmählich sollten die Besuche des Hochgebirges nun in der Tat seltener und bescheidener werden. Doch zumindest der nächstgelegene Zweitausender musste unbedingt noch gefunden und bestiegen werden. Doch als ich den Mutteristock (2294 m NN) hoch überm Wägitalersee (Luftlinie kaum hundert Kilometer entfernt) im fortgeschrittenen Ruhestand ein zweites Mal erklimmen wollte, musste zuoberst der Gipfelsturm ersatzlos ausfallen: Im messerscharfen Karstgestein schien mir das Klettern eingedenk der täglich einzunehmenden Blutverdünnerpillen denn doch ein bisschen gar zu riskant zu sein. Die Vernunft hatte gesiegt.
Seitdem sind es in den Alpen gelegentliche, seniorengemäß moderate Wanderungen, die mich noch immer reizen können. Doch umso sehnlicher warte ich zuhause auf die nächste Föhnwetterlage. Denn dann zeigt sich vom Wohnzimmerfenster aus wieder ein Stück weit die Kette, von den Viertausendern des Berner Oberlands bis zu den Glarner Zacken. Jetzt aber rasch her mit dem Fernglas, rasch das Teleobjektiv aufgeschraubt! Hat da etwa Giovanni Segantini, der Engadiner Maler, in die Farbtöpfe gegriffen?
Toller,wenn auch etwas wehmütiger Bericht über längst vergangene Zeiten.
Ich gratuliere dem Autor zu seinen “ Paradies der Erinnerungen“. Was man hat,hat man!