Hieronymus und der Wald-1

Hieronymus und der Wald-1

6. April 2024 1 Von Wolf Hockenjos

Originalbeitrag vom 26. Februar 2017

zwischen Dichtung und Wahrheit

Wie sich Lucian Reich im und „auf dem Walde“ auskannte

Vortrag aus Anlass des 200. Geburtstags von Lucian Reich am 26. Februar 2017 Teil 1.

Nur Raben und Schneegeier* überflattern das öde Gefilde, während scharfe Windswehen hohe, weiße Schanzen und Wälle vor die Hütten werfen, so daß der Hausvater des Morgens weder Läden noch Hausthüre zu öffnen vermag, weil der Schnee draußen bis an die Dachtraufe reicht…

Vorbemerkung: Das X. Kapitel in Lucian Reichs Hauptwerk, der Erzählung Hieronymus, ist überschrieben mit Ein Winter auf dem Walde. Die darin enthaltene Episode vom einsamen, eingeschneiten Bauernhof am Feldberg hatte es mir vor über vierzig Jahren schon so sehr angetan, dass ich sie ins Zentrum eines dem Schwarzwaldwinter (am roten Faden des 100 km langen Fernskiwanderwegs von Schonach zum Belchen) gewidmeten Bildtextbandes gestellt habe. Auch den Buchtitel „Winter auf dem Wald“ habe ich von Lucian Reich übernommen.

Winter auf dem Walde

Diese Episode liest sich so herzerfrischend, dass sie hier im Original eingefügt werden soll: …oft erblickt man weit umher in der beschneiten Landschaft auch nicht ein menschliches Wesen. Nur Raben und Schneegeier* überflattern das öde Gefilde, während scharfe Windswehen hohe, weiße Schanzen und Wälle vor die Hütten werfen, so dass der Hausvater des Morgens weder Läden noch Hausthüre zu öffnen vermag, weil der Schnee draußen bis an die Dachtraufe reicht. Glücklich, wenn´s den Bewohnern gelingt, bis zum Nachbarn einen Tunnel zu schaufeln, zu erkundigen, ob dieser noch am Leben sei. Manch Bezeichnendes ereignet sich bei solchen Gelegenheiten. So geschah es, dass einige Jahre nach dem gegenwärtigen Momente unserer Erzählung, ein einsamer Bauernhof am Feldberg mit den Bewohnern Wochen lang unter dem Schnee begraben lag, bis endlich, es war gerade Charfreitag, Umwohnende den Dachfirst aus der Bahrdecke hervorragen sahen, und nun zu Hilfe zogen. Man brach ein Loch in das Dach und rief hinunter: ob noch alle am Leben seien: Ja! Antwortete es aus der Tiefe. „Wißt ihr auch, dass heut Charfreitag ist?“ war die zweite Frage der Obenstehenden. „Daß Gott erbarm!“ tönte es von unten zurück, „Charfreitag, und wir verzehren so eben das letzte Stück vom letzten Stier.“ So fiel es den Leuten schwerer auf´s Herz, das Fastengebot, wenn auch unwissend, übertreten zu haben, als die Befreiung aus langer Haft und Nacht sie zu erfreuen vermochte.

Alpen, die jüngeren Nachbarn des Schwarzwalds…

Typisch Lucian Reich: ein zum Schmunzeln anregendes Gemisch aus Chronik und dichterischer Freiheit, aus Übertreibungen (Schneegeier*, Tunnel graben, aus der Bahrdecke ragender Dachfirst) und Belehrungen: 1853 ist sein Hieronymus erschienen, keine 10 Jahre zuvor, im Winter 1844, war das schlimmste Lawinenunglück des Schwarzwalds geschehen, mit 17 Toten und mitsamt viel verendetem Vieh. Und so fährt er im X. Kapitel brandaktuell fort: Oft auch geht es ganz schlimm ab; ist doch erst in neuester Zeit der Königenhof, unweit Waldau, durch eine Schneemasse, welche von dem jähen, von keinem Waldmantel mehr bedeckten Berge in das Thal rutschte, zerquetscht, und Haus wie Bewohner in das kalte Grab gerissen.

Lawinentragödie im Wagnerstal anno 1844

Lawinenunglücke geschahen (und geschehen) im Schwarzwald zwar immer wieder einmal, doch keineswegs „oft“, wie er schreibt. Auch wurden nicht alle Bewohner ins kalte Grab gerissen, sondern es haben immerhin sieben überlebt. Überliefert ist wiederum, dass noch anfangs des 19. Jahrhunderts während einiger rauer Sommer (oder vielleicht auch nur im Sommer 1815, im sog. „Jahr ohne Sommer“ nach Ausbruch des Vulkans Tambora?) der Schnee auf dem Feldberg nicht vollends abgeschmolzen ist, sodass man in Sorge war, es könne sich daraus ein Gletscher bilden. Tatsächlich ließ der Abt von St. Blasien daher die Bauern aus den umliegenden Dörfern anrücken und den Schnee „bis auf den Grund durchhacken“, sofern er bis zum 25. Juli nicht verschwunden war. Was macht Lucian Reich daraus? Hat es ja nicht selten um Johanni, im hohen Sommer noch den Anschein, als ob der alte Feldberg Lust habe, es seinen jüngeren Nachbarn, den Schweizeralpen gleich zu thun, und eine Haube aus ewigem Schnee aufzubehalten. Dann freilich müssen alle Umwohner aufgeboten werden, und dem Riesen seine Tarnkappe wider Willen vom Kopf zu ziehen; denn, sagen sie: hätt er´s einmal wieder verschmeckt und die Haube nur ein Jahr lang aufbehalten, so wäre ein Schwarzwald-Gletscher fertig, wie bereits vor Jahrtausenden.

Hier belehrt Reich seine Leser beiläufig ein bisschen in den Fächern Geologie (Alter des Schwarzwalds und der Alpen) und Glaziologie; die letztere erfuhr im Schwarzwald im frühen 19. Jahrhundert vor allem durch den Mannheimer Naturforscher Karl Schimper erste wichtige Impulse. Keine Frage: Lucian Reich hatte eine Schwäche fürs Topaktuelle wie fürs Kuriose. Heute würden die Feldberger die Vergletscherung wohl eher begrüßen und auf Sommerski-Möglichkeiten hoffen. Klimawandel hin oder her: Erinnert sei an die wunderlichen Pläne eines Furtwanger Hochschulprofessors, der zu Beginn unseres neuen Jahrtausends, auf dem Feldberg – zur Vorfreude des vormaligen Bürgermeisters (und Präsidenten des Schwarzwälder Skiverbands) – wieder einen (künstlichen) Gletscher entstehen lassen wollte.

Von diesen Ausflügen in den hohen Schwarzwald abgesehen, beschränkt sich Lucian Reich im Hieronymus, wie er schon im Vorwort schreibt, mit der Handlung überwiegend auf ihm wohlvertrautes, heimatliches Gefilde, also auf jene entlegene Landschaft des Großherzogtums Baden, welche das Sprichwort: 

„die Brig und die Breg bringen die Donau z´weg“ so sprechend andeutet, die östlichen Thäler nämlich des mittleren Schwarzwaldes und die angrenzende Hochebene, ein Theil der alten fürstenbergischen Grafschaft…  Als ganz so „entlegen“ würden wir seine Handlungsorte heute gewiss nicht mehr beschreiben. Doch die Bregtalbahn war ja erst 1892 in Betrieb genommen worden (im Gegensatz zur 1840 eröffneten Rheintalbahn, die er von Rastatt aus nach Freiburg gerne benutzt hat). Und noch mehr zusammengeschnurrt sind die Entfernungen bekanntlich im Zeitalter des Automobils.

Hockenjos, W.: Winter auf dem Wald. Schillinger-Verl., Freiburg 1979

*Schneegeier sind in den Gebirgen Zentralasiens zuhause, Gänsegeier in Deutschland wohl bereits im Mittelalter ausgestorben; neuerdings werden in den Alpen Bartgeier wieder angesiedelt (Hölzinger, J.: Die Vögel Baden-Württembergs. 1987). Die (Kolk-)Raben waren ab 1830 im Fürstenbergischen ausgerottet. (Stephani, K.: Geschichte der Jagd in den schwäbischen Gebieten der fürstenbergischen Standesherrschaft. 1938)

Zum Teil 2 geht es hier: