Die WanderjahreNeuigkeiten aus der HeimatMater dolorosa

Die Wanderjahre
Neuigkeiten aus der Heimat
Mater dolorosa

5. März 2024 0 Von Hannah Miriam Jaag

Hieronymus Kapitel 22

Die Wanderjahre – Neuigkeiten aus der Heimat
Mater dolorosa

Es war in den ersten Tagen der Pfingstwoche, als Hieronymus mit den besten Zeugnissen von seinem Meister schied, um noch zwei Tage bei den Eltern zuzubringen – und dann die Wanderschaft anzutreten.

„Geld und Geldswert”, sagte der Vater beim Abschied, „können wir dir nit mitgeben. Sei fleißig und rechtschaffen – hab Gott vor Augen – und schick dich nach de Leut und – hast’s g’hört – schreib auch bald.” Die Mutter aber, nachdem sie sein Felleisen sorglich mit dem Nötigsten versehen, legte obenauf noch ein hübsch eingebundenes Gebetbüchlein, das sie von einer Wallfahrt mitgebracht, die sie für das Wohlergehen des Sohnes zur Bildtanne nach Triberg unternommen hatte. „Halt’s in Ehren!” bat sie und hielt ihm dann noch eine Vorlesung über die mitgegebenen Kleider und Weißzeugstücke und was alles noch nachgeschickt werden solle, wenn er einmal einen festen Platz haben werde – und ja nicht zu übersehen – unten im Felleisen werde er, für Notfälle, Nadel, Faden und Fingerhut finden, auch ein Dutzend Knöpfe; und sobald die Leinwand von der Bleiche komme, werde sie ihm noch ein halbes Dutzend neue Hemden anfertigen.

Was es mit der Bildtanne in Triberg auf sich hat, läßt sich auf den überaus interessanten Seiten von Dieter Hund nachlesen

Ein Felleisen ist ein lederner Rucksack, der früher von Handwerksgesellen auf Wanderschaft getragen wurde.

Postbote mit Felleisen (Paris musée de la poste etwa 1850)
Foto: Vincent de Groot – Wikipedia

Auf dem Hof hatte Hieronymus die Tochter Florentina nicht mehr getroffen. – Sie war über die Feiertage auf Besuch zu ihren Verwandten, den Kaiserzollers, gegangen. – Der Hofbauer hatte dem Jüngling zur bevorstehenden Reise viel Glück und Segen gewünscht, die gute Hausfrau jedoch den Scheidenden bis vor die Türe begleitet und ihm in der Hausöhre noch ein paar Taler in die Hand gedrückt.

Beim Bachweber war des Gesellen letzte Beurlaubung. „Nimm auf deiner Wanderschaft”, sagte der alte Lehrer, „den Eulenspiegel zum Muster; ist’s bergan gegangen, hat er gelacht; ist’s aber abwärts gegangen, war er betrübt; denn, hat er gemeint, wenn es mühselig die Steig naufgeht, freu ich mich, weil ich denk, es werd auf der andern Seiten auch wieder abwärts gehen – und so umgekehrt. Auch du wirst auf deinem Wanderleben nit immer ebene Weg und Straßen antreffen, wirst steile Berg und tiefe Abgründ finden. – Verlier den Mut nit. Geh gradaus, weich nit ab vom rechten Weg, dann wirst du am sichersten zum Ziel gelangen.” Und mit diesen Worten hatte der Alte aus dem Wandkästlein ein Büchslein genommen, nicht viel größer als eine Welschnuß, worin er das Schulgeld aufzubewahren pflegte. Er fischte zwei blanke Silberlinge heraus, reichte sie seinem ehemaligen Schüler mit den Worten: „Da – trink auf’s Wohl deines alten Lehrers – wenn er dir schon nit viel hat geben können, so war’s doch gut gemeint.”

Im „Felsen” hatte das ehemals so anhängliche Kleeblatt sich noch ein Stelldichein gegeben. Auch Stoffel hatte versprechen müssen, sich einzufinden, er kam aber nicht. Dionys, zutunlicher denn je, machte den splendiden Wirt. Die Florentina und er, versicherte er den reisefertigen Freund, hätten die Zeit her oft von ihm gesprochen; sie hab immer gehofft, sie werd ihn auch noch sehen und ihm Adje sagen können. – Beim Scheiden war zwischen Hieronymus und Romulus ein fortdauernder Briefwechsel verabredet worden.

Früher hatte Hieronymus immer sich der Hoffnung hingegeben, Severin werde, den alten Plänen getreu, mit ihm ziehen auf die Wanderschaft. Daran aber war in der letzten Zeit nicht mehr zu denken gewesen. Der Gute war im Begriff, immer mehr – wie man zu sagen pflegt – sich einzudeckeln. Alle Lust und Freude an der Außenwelt war ihm vergangen. Die gewaltigen Ereignisse und Umgestaltungen der französischen Revolutions- und Kriegszeit, alles, was er sah und hörte oder zufällig einem Zeitungsblatt entnahm, hatte bei dem ohnehin zum enghäuslichen Stilleben geneigten Junggesellen den Glauben erzeugt, es gehe abwärts mit der Menschheit und es müsse nächstens ein noch größeres Strafgericht über sie hereinbrechen. – Selten mehr verließ er sein Stüblein und die Werkstatt. Sein frugales Mahl bereitete er sich selbst; und im Küchelein herrschte eine Ordnung und Reinlichkeit, wie sie die Hand auch der pünktlichsten Magd oder Hausfrau nicht größer herzustellen vermocht haben würde.

Der Gedanke ans Heiraten war aufgegeben. Severin schauderte bei der Vorstellung, die Erwählte könnte sich hinterher als unordentliche Hausfrau und als schlechte Köchin entpuppen. – „Ich mein”, hatte er einmal zu Hieronymus gesagt, als von diesem Kapitel die Rede gewesen, „auch die feurigst Liebe müß abkühlt werden, wenn die Frau als Sudelköchin dem Mann das Essen anricht!” – Nicht minder Respekt hatte der sparsame Mensch vor solchen Gemahlschaften, bei denen die schönere Hälfte im Gefühl ihrer Batzen und sonstigen außerordentlichen Eigenschaften sich gewissermaßen für ein Juwel hält, dem ihr geplagter Pantoffelheld höchstens nur zur Fassung und Folie dienen soll. – Im Gegensatz zu solch einem Hausstand schien ihm sein Stüblein ein kleines Paradies zu sein, das er – als zufriedener Adam ohne Eva – recht gern jeden Morgen selbst auskehren und alle vier Wochen einmal eigenhändig auf waschen und fegen wollte.

Das Häuslein, in dem er so lange Zeit schon wohnte, hoffte Severin – wenn fortan jetzt Friede bleiben würde – dereinst käuflich zu erwerben. Und so fühlte er sich glücklich, zufrieden. Was wollte und konnte er Besseres in der weiten Welt noch suchen und finden?

Unser Wandergeselle hatte den Weg ins Schwäbische genommen. Im Kloster Marchtal fand er die erste Beschäftigung. Von da ging’s nach Ulm. Vom Nachfolger des verstorbenen Oberamtrats in Hüfingen war ihm durch Vermittlung des Meisters Amtsdiener ein Schreiben dorthin mitgegeben worden an den Wirt „Zum goldenen Greifen”, wo zu Kreiszeiten die Bevollmächtigten der Höfe Baden-Durlach und Fürstenberg Quartier zu nehmen pflegten. Der jetzige, zum Rat beförderte Amtmann, hatte als Gesandtschaftssekretär mehrmals längere Zeit dort gewohnt, und es war zu hoffen, daß der Greifenwirt, als geborener Ulmer, dem angehenden Handwerksgesellen mit Rat und Tat an die Hand gehen und Arbeit verschaffen werde. – Und wirklich gab er sich auch alle Mühe, dem gut empfohlenen Gesellen einen Platz ausfindig zu machen; allein es wollte nicht gelingen; die Geschäfte stockten, weil niemand recht dem Frieden traute. Der Name Bonaparte, der durch seine Siege in Italien die Welt in Staunen versetzte, schwebte auf aller Lippen. – Trotzdem tat’s der Wirt nicht anders, Hieronymus mußte ein paar Tage lang sein zechfreier Gast sein, um doch wenigstens die Merkwürdigkeiten der alten freien Reichsstadt in Augenschein nehmen zu können.

Der zweite Tag nach des Gesellen Ankunft war der Schwörtag des neu erwählten regierenden Bürgermeisters. Und so hatte er Gelegenheit, den Aufzug sämtlicher Zünfte nebst dem städtischen Offizierkorps zu sehen.

Hieronymus in Ulm
Über Ulm, den Schwörtag, das Rathaus und auch das Münster läßt sich vieles schreiben. Für alle interessierten verweise ich auf die überaus interessanten Seiten des Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben.

Am folgenden Tage wurde – zum erstenmal wieder seit Beginn des Krieges – das große Fischerstechen auf der Donau abgehalten, welch lustiger Wettkampf der Fischer- und Schifferzunft für Hieronymus ebenfalls ein ganz neues Schauspiel war.

Schon in Marchtal, wo er den Strom so mächtig daherfluten gesehen, war er nicht wenig stolz geworden auf seinen schwarzwäldischen Landsmann, der einst, sozusagen ein Kind noch, dem Kinde stets so viel Lust und Vergnügen bereitet. Wie oft hatte er als Bube, im Bade auf den glatten Kieseln und dem beweglichen Fischgras liegend, die murmelnde, sonnige Welle über sich hingleiten lassen! – Jetzt, in Ulm, hätt’ er’s – obwohl ein leidlicher Schwimmer – nicht mehr gewagt, dem so groß und stark gewordenen Jugendfreund sich in den Arm zu werfen.

Auch noch ein weiteres Vergnügen verschaffte der Greifenwirt seinem Gaste, den freien Eintritt in das städtische Komödienhaus, wo zum Schluß des Festes eine Vorstellung stattfand. Schon einmal war ihm das Glück zuteil geworden, einen Blick tun zu dürfen in diese Zauberwelt. Es war anläßlich der Rückkehr des fürstenbergischen Hofes nach der Residenz Donaueschingen. Das Söhnlein des Verwalters in Hüfingen, welches außerordentliches Talent zum Singen und Klavierspielen entwickelte, war bestimmt, beim Festspiel in dem kurz vor dem Kriege neueingerichteten Hoftheater eine kleine Begrüßungsarie zu singen. Natürlich, daß sämtliche Hausfreunde des Verwalters der Vorstellung beiwohnten; und auch Hieronymus hatte durch seinen Meister Zutritt erhalten. Ein Marionettentheater war alles, was er bis dahin von der Bretterwelt gesehen, und wenn er damals diesen Maßstab auch nicht gerade in das Hoftheater mitgebracht, so wurden durch alles, was er dort zu sehen und zu hören bekam, seine Erwartungen und Vorstellungen doch so sehr übertroffen, daß er wie ein Verzückter aus dem Musentempel heraus und nach Haus gekommen war.

Es war anläßlich der Rückkehr des fürstenbergischen Hofes nach der Residenz Donaueschingen. Das Söhnlein des Verwalters in Hüfingen, welches außerordentliches Talent zum Singen und Klavierspielen entwickelte, war bestimmt, beim Festspiel in dem kurz vor dem Kriege neueingerichteten Hoftheater eine kleine Begrüßungsarie zu singen.

An früherer Stelle habe ich erwähnt dass der “Verwalter” der Großvater von Lucian Reich war. So ist mit dem “Söhnlein” der Onkel von Lucian Reich gemeint, also der Bruder seine Mutter. Der Bruder von Maria Josefa Reich (18. März 1788 -12. November 1866) war Johann Nepomuk Schelble (16. Mai 1789 in Hüfingen – 7. August 1837 in Hüfingen), der Gründer des Cäcilienvereins in Frankfurt a. M..
https://hieronymus-online.de/wanderbluhten-johann-nepomuk-schelble-2/

Johann Nepomuk Schelble (1789 -1837)
Zeichnung von unbekannt.

Die Wiederholung dieses Hochgenusses bot unserm Gesellen jetzt um so mehr Interesse, als sämtliche Maschinen und Dekorationen nebst dem Vorhang kürzlich erst durch Künstler, welche ihre Ausbildung der berühmten Karlsschule zu Stuttgart verdankten, neu beschaffen worden waren. Namentlich war es der Vorhang, der alle Welt in Bewunderung versetzte und auch unsern Malergesellen nicht wenig staunen machte. Da sah man die Philosophie mit der „Person, welche”, wie die Ankündigung besagte, „Ulm vorstellte, von der Theorie und dem Nutzen der Schauspiele” sich unterhalten, während der, als Flußgott gebildete Donaustrom, in Gesellschaft von Nymphen, Musen und Göttern, dem höchst interessantesten Diskurs aufmerksam zuhörte. – Das Stück selbst, in welchem eine unglückliche Liebe vorkam, rührte den guten Burschen zu Tränen. – Wie ein Träumer und Nachtwandler kam er nach dem Schlusse in den „Greifen” zurück – und konnte gar nicht begreifen, wie die Bürger dort beim Schoppen von so ganz alltäglichen Dingen sich unterhalten konnten.

Bevor Hieronymus die altertümliche Reichsstadt verließ, besichtigte er auf Zureden seines Wirtes noch das Rathaus. – Bekanntlich herrschte bei unsern Altvordern das löbliche Bestreben, öffentliche Gebäude, zumal Rathäuser, mit Werken der Kunst und Sehenswürdigkeiten überhaupt zu zieren – oder, wo solche vorhanden, wenigstens doch zu erhalten.

Konnte das hiesige Rathaus mit seinen immerhin schönen, gotischen Fenstern und zackigen Giebeln auch keinen Vergleich aushalten mit dem Augsburger – welches Hieronymus bald nachher zu bewundern Gelegenheit hatte -, so sah er doch viel Schönes und Merkwürdiges daselbst, sowohl in der großen Ratsstube, wo vordem die Bürger dem Kaiser gehuldigt, als auch in dem Gemache, wo die Deputationen der Kreisstände sich zu versammeln pflegten: zierliches Getäfel, herrlich leuchtende Glasgemälde, die Wappen alter Ratsherren aus den Geschlechtern darstellend, Bildnisse berühmter Männer und geschichtliche und allegorische Gemälde mit Reimsprüchen, welche die Wände schmückten. Das schöne Gitterwerk am Ofen der Ratsstube sowie der in Bronze gegossene Kronleuchter allda gaben Zeugnis vom hohen Stande einstiger heimischer Kunstfertigkeit. – Auch das Zeughaus, d. h. die dortige reichhaltige Modellkammer (das Zeughaus selbst war bei Beginn des Krieges durch die Kaiserlichen vollständig geleert worden) bekam der Geselle auf Verwendung seines gefälligen Wirtes zu sehen. Er bewunderte da eine Menge von Rissen und Zeichnungen öffentlicher Gebäude aller Länder, Modelle kunstreicher Brücken, Mühlen und Maschinen sowie eine Sammlung von Nachbildungen deutscher und holländischer Festungen.

Wochenlang hätte Hieronymus in Ulm bleiben mögen, um alle Sehenswürdigkeiten mit Muße betrachten zu können. Aber er fürchtete seinem Wirte überlästig zu werden; und so schied er mit herzlichem Dank für die freundliche Bewirtung – nachdem er noch das Münster besichtigt und – zum Andenken – einen neuen Ulmergulden eingewechselt hatte. – Früh morgens, als eben der Kuhhirt blies und groß und klein zum Tor hinaustrieb – verließ er die Stadt, um Augsburg zuzuwandern. Dort, in der reichen Handelsstadt, gab es Arbeit; und der Geselle legte für längere Zeit sein Felleisen nieder.

Wie Bachweber vorausgesagt, fand er im Verlaufe seine Wanderlebens Berge und Täler, Erfreuliches und Trübes, aber sein Mut und sein Eifer blieben allen Hindernissen gewachsen: „Duck dich, laß vorüber gahn, das Wetter will seinen Willen han”, hieß es in dem „guldenen ABC”, welches ihm sein Vater als moralischen Wegweiser mit auf die Reise gegeben hatte.

Mit Fleiß und Beharrlichkeit strebte er in seinem Fache vorwärts; keine Mühe war ihm zuviel, wenn es sich darum handelte, etwas Neues zu lernen oder im Alten sich zu vervollkommnen. Geselligkeit und frohen Lebensgenuß floh er nicht; wenn ihn jedoch der Strudel einmal zu weit fortreißen, fast leichtsinnig machen wollte – denn auch die beste Uhr schlägt zuweilen einmal ein Viertel zuviel -, so besann er sich sogleich wieder – und gedachte der Seinigen daheim, welche in Mühsal und Not sich durchs Leben zu schlagen hatten. – Erfahrung lehrte ihn Vorsicht. Doch wenn er sich auch oft getäuscht fühlen mußte in der guten Meinung, die er zur Zeit noch von allen Menschen hegte, so fand er hinwieder im fremden Lande Freunde und Freundeshilfe, wo sie am wenigsten zu vermuten gewesen.

Nahezu zwei Jahre verbrachte er in der kunst- und gewerbereichen Reichsstadt. Von Zeit zu Zeit schrieb er nach Hause, und zuweilen waren diese Sendschreiben auch mit etwas Silber beschwert. Neben diesem Briefwechsel mit dem Vater unterhielt Hieronymus noch einen zweiten mit Romulus, dem stets pflichtgetreuen Berichterstatter des Neuesten aus der Heimat. – War das Ankommen solcher Briefe für den Sohn und Freund immer ein Gegenstand freudiger Aufregung, so geschah das Öffnen derselben doch nicht ohne ein gewisses banges Nebengefühl, welches nicht weichen wollte, bis er die Zeilen überflogen und die Beruhigung geschöpft hatte, daß zu Haus alles gut stehe. – Vielleicht glaubte er auch auf eine Nachricht stoßen zu müssen, auf welche er zwar gefaßt war, wovon er übrigens nicht recht wußte, ob er sie endlich herbeiwünschen solle oder nicht.

Seit Jahr und Tag war dem geheimen Korrespondenten der Name Florentina nicht mehr aus der Feder geflossen; da meldete er eines Tages die – Verheiratung der Hofbauerntochter Florentina mit dem Handelsmann und „Packer” Dionys. „Er hat schon”, hieß es in dem Schreiben, „im vorletzten Herbst förmlich um sie angehalten; der Vater und die Verwandten hatten zugesprochen, das Mädchen aber sich ein Jahr Bedenkzeit ausgebeten – endlich hatte sie nachgegeben. – Hat sie vielleicht auf einen Ritter gehofft, der aus fremden Landen, etwa aus dem Schwäbischen kommend, sie vom Scheiterhaufen befreien würde? Der Laubhauser hat Verwandte von nah und fern zur Hochzeit eingeladen und in jede Hütte der Gemeinde Wein und Brot geschickt: die Leute sollen wissen, sagte er, daß der Laubhauser heut ein Fest feiert.” Der Stabhalter, hieß es weiter, sei an selbigem Tag kreuzfidel gewesen und habe schon bei der Morgensuppe, wo er den Kaffee aus einem Milchbecken getrunken, seine gewohnten Späße zum Besten gegeben usw.

Lange schon hatte der Geselle ausgelesen, aber noch hielt er unbeweglich den Brief mit beiden Händen. Da hob sich die Brust, und ein tiefer Atemzug erleichterte die Last des gepreßten Herzens. Ein halb entwurzelter, ausgerissener Baum grünt und blüht wohl noch eine Zeitlang fort, genährt von Tau und Luft, bis ein Windstoß ihn gänzlich zu Boden wirft. – Also ein anhänglich liebendes Gemüt.

Der Schluß von Romulus’ Brief hatte noch eine Nachricht enthalten, von welcher Hieronymus unter andern Umständen schmerzlich berührt worden wäre, die aber jetzt eine fast entgegengesetzte Wirkung hervorbrachte, eine Art Trutz gegen das Schicksal. Es war nämlich die Nachricht von dem Tode des alten Stoffel, welchen man eines Morgens tot in seiner Hütte gefunden.

Der treue Dachshund lag zu den Füßen des Leichnams und wollte keinen Menschen sich diesem nähern lassen. Die Hütte stand seitdem leer, niemand mochte sie bewohnen.

Des andern Tages nach dem Empfang dieser Nachrichten hatte unser Geselle zum erstenmal in seinem Leben einen „Blauen” gemacht, jedoch keineswegs bei Spiel und Wein, sondern in blauer, frischer Luft. Frühe schon war er aufgestanden, hatte sich, damit die Nebengesellen ihm nichts ansehen sollten, am Brunnen die Augen gewaschen, und dann die Werkstatt betreten. Zu arbeiten aber war ihm unmöglich; er kleidete sich vollständig an, wanderte hinaus vor das Tor, durch Felder und Gründe, durch Dörfer und Wälder und kehrte des Abends ziemlich versöhnt, in äußerlich beruhigter Stimmung nach Hause.

Der Aufenthalt in Augsburg aber blieb von jenem Augenblick an dem Gesellen verleidet, er kündigte dem Meister auf und wanderte München zu. Die wenn auch kurze Reise genügte, ihn von allen bösen Wettern, die allenfalls noch im tiefen Schachte seiner Seele gelagert sein mochten, gründlich zu befreien; und der fahrende Geselle betrat die Stadt in einer Stimmung, wie es etwa einem Schwimmer zumute ist, wenn er nach vielem Ringen wieder festen Grund unter seinen Füßen spürt. Ein starkes Band, das ihn an die Heimat gefesselt und heimlich zurückgezogen – er fühlte es jetzt gelöst. In der Fremde wollte und konnte er ja sein Glück machen, auch von da aus dann den Eltern hilfreich sein, sie unterstützen.

Doch was sind Vorsätze, Zukunftspläne! – Auch der stärkste Steuermann vermag ja nichts gegen Sturm und Wogendrang. – Die politische Atmosphäre war – in wie heftigen Schlägen auch die Wetter sich entladen hatten – stets noch eine schwüle – ein dauernder Friede für die nächsten Zeiten nicht zu hoffen. Namentlich unser südwestlicher Winkel Deutschlands sollte sobald nicht zur Ruhe kommen, und fast schien es, als sollten die Prophezeiungen unseres Severin zur Wahrheit werden.

Einigemal schon hatte der Freund dem Freunde geschrieben; und jetzt erhielt Hieronymus wieder ein Brieflein von Severin. Er könne nicht unterlassen, schrieb er, ein paar Zeilen zu schreiben und zu melden, daß es bei ihnen wieder verwirrter und trostloser aussehe denn je. – „ Wie Du wissen wirst, ist es schon wieder losgegangen. Der Franzos will eben mit keinem Nachbar in Frieden leben. Ach, das ist ein trauriger Anblick gewesen die vorige Woche, die Wägen voll Schwerblessierter, so auf dem blutigen Stroh von der Bataille von Stockach her vor’s Zuchthaus hier angefahren sind, wo abermals ein Spital eingerichtet ist: denn die Sträflinge sind ausquartiert und nach dem festen Schloß Wildenstein verbracht worden. Der ganze Vorplatz, das Stiegenhaus und die Gäng und Stuben im untern und obern Stock, alles voll mit Blessierten, überall nix als Ach und Weh. Die französischen Chasseurs, so hat mir der Schwarz Weißgerber gesagt, hätten vor der Schlacht geschworen, sie wollten den östreichischen Kostbeuteln die langen Nasen schon abhauen. Aber ich mein’, sie haben diesmal ihren Meister gefunden am Erzherzog Karl! – Du kannst Dir eine Vorstellung machen, seit vierzehn Tagen bin ich in kein Bett mehr kommen, weil mein’s belegt ist gewesen mit der Einquartierung. Im Stüblein sieht es aus wie mit der Heugabel durcheinandergeschüttelt. Heut ist der erste Tag, wo wir wieder schnaufen können. – Der Feldwaibel, hieß es am Schluß, „ist seit vorem Jahr schon zum Invalidenkorps versetzt worden. Er und die Annakäther lassen Dich tausendmal grüßen sowie auch des Amtsdieners. NB. Bald hätt ich’s vergessen – der Schwarz Weißgerber laßt Dir sagen, Du sollest ihm doch einen schönen Ulmerkopf schicken, den seinigen hab er verloren durch die Spitzbuben-Einquartierung.”

Nicht lange – und der Briefbot brachte auch ein Schreiben von Romulus, mit Nachrichten, die unserm Hieronymus schon mehr zu Herzen gingen. Auch Romulus meldete, welch große Drangsale ihnen der diesmalige Feldzug über Wald gebracht. Viele Leute an der Heerstraße, schrieb er, hätten ihre Habseligkeiten in das Tal geflüchtet, in der Meinung, auch jetzt würde der Feind diesen abgelegenen Winkel nicht heimsuchen. Dies müsse verraten worden sein. Die retirierenden Franzosen, die bei Röthenbach und Neustadt ihr Lager gehabt, hätten Spione herübergesandt, und seien dann in hellen Haufen, gleich einem toll gewordenen Bienenschwarm, angerückt, um zu plündern und zu rauben. „Es war anzusehen”, schrieb Romulus, „wie wenn irgendwo Viehmarkt wär, und würden s. v. Ochsen, Kühe, Kälber und Schweine alles fort, zu Markt getrieben. Ein Glück war’s für unser Haus, daß ich just daheim gewesen bin, denn weil ich ein paar Brocken Französisch mit ihnen hab welschen können, so haben sie’s in betreff des Hausrates noch gnädig gemacht; aber dem Vieh im Stall haben sie kein Pardon gegeben.

Koalitionskriege
Wer sich genauer für die Wirren der Koalitionskriege interessiert, sei auf die Seite des Geschichts- und Heimatvereins Villingen verwiesen: Villingen im Zeitalter der Französischen Revolution(1770-1815) von Michael Tocha. Für Hüfingen ist in der Chronik von August Vetter (1984) einiges dazu nachzulesen.

Im Laubhauserhof aber hat’s viel bösere Auftritt abgesetzt; da haben sie nebst alldem noch bares Geld verlangt, und mit „Bougre und andern französischen Titeln dem konsternierten ‚Außvater’ Peter die Bajonnets auf die Brust gesetzt. Ein Glück für ihn, daß die Bäurin, das Agathle, so resolut gewesen ist und ihnen gleich einen Beutel voll Kronentaler nebst dem Schlüssel zur Speis- und Speckkammer eingehändigt hat. Der alte Laubhauser soll unsichtbar gewesen sein und sich auf dem Heustall unterm Heu verkrochen gehabt haben. – Dem Stabhalter haben sie den Wein im Keller gesoffen, und zwar aus Kübeln und Gelten, und hernach die Fässer eingeschlagen. Wie aber dieses Bachusfest im besten Zug ist gewesen – kam einer auf abgetriebener Mähre dahergaloppiert – allons toutsvite aufgepackt und fort – dem Lager zu. Von der Ferne her krachte es durch die Waldungen. – Was war’s? – Der fürstliche Revierförster Columban, den Du auch kennst, der war’s, der sie so schnell auf die Weichseiten und zur Höllenfahrt getrieben hat. Er wußte, daß die Kaiserlichen schon Bondorf besetzt hatten; er begab sich hin, erbat sich Mannschaft, mit denen er auf Waldwegen beikam – und piff, paff, ging’s über die Piquets und Vorposten her. Alles kam in Alarm und packte auf – dem Höllenpaß zu.

Wie ich nun nachderhand in Euer Haus kommen bin, hab ich Deinen Vater betrübt vor den leeren Kästen und Trögen in der Stube stehen sehen. Die Stalltür fand ich eingeschlagen, die Kuh und die Geiß fort. „Es ist’, hat Dein Vater mit nassen Augen zu mir gesagt, ,wie wenn wir jetzt erst frisch zu hausen anfangen müßten. – Am meisten aber kränkt es Deine Mutter, daß ihr die Schlingel auch den schönen Ballen Flächsetuch, so sie für Dich gesponnen und umgelegt hat, erwischt haben. ‚Hab immer glaubt’, sagte sie traurig zu mir, ‚es werd’ dem Hieronymus einmal die Aussteuer geben. – Wer weiß, was für ein Lumpenkerl nun Staat mit dem Weißzeug machen wird! – Dein Vater aber wünscht und laßt Dir sagen, daß Du je eher je lieber heimkommen möchtest, um ihn zu unterstützen. Er ist den ganzen Winter her kränklich gewesen, und so liegt jetzt die ganze Last allein auf der Mutter.” – Am Schlusse gestand der Korrespondent, daß er mit den praktischen Ausführungen der neufränkischen Ideen durchaus nicht mehr einverstanden, und von manchem, für das er früher geschwärmt, so ziemlich kuriert worden sei.

Wie stand es nun mit unseres Gesellen hochfliegenden Plänen, sein Glück draußen in der Fremde machen und der Heimat Adjeu sagen zu wollen?

Rief ihn jetzt nicht eine heiligste Pflicht zurück ins Vaterhaus zur Unterstützung der alten Eltern? – Das nächste, was er tat, war, daß er seine Sparpfennige – darunter auch das Goldstück, welches er vor Jahren von der Emigranten-Familie erhalten, samt dem Ulmergulden – zusammenpackte und mit einem Trostschreiben begleitet an den Vater schickte. – So lange, schrieb er, wolle er noch außen bleiben, um seine Wanderjahre vorschriftsmäßig vollenden zu können; was er nebenbei zur Unterstützung des heimatlichen Hauswesens nur immer tun könne, wolle er tun usw.

Mit verdoppeltem Eifer und Fleiß wendete er sich jetzt wieder seinem Geschäfte zu. Er hatte einsehen gelernt, daß die unerbittliche Notwendigkeit den Menschen entweder immer wieder seiner Pflicht – oder dem Abgrund zuführen müsse. – In München hatte er vollauf Gelegenheit, im Fache sich weiter auszubilden und Kenntnisse aller Art zu erwerben. – Und schon gegen den Herbst hin erfreuten ihn auch wieder bessere Nachrichten von daheim.

Das Unheil im Haus hatte sich später denn doch minder groß herausgestellt, als es im ersten Schrecken den Anschein gehabt. Manches, was versteckt gewesen, wurde wieder gefunden, anderes, was die Plünderer auf dem Wege als unnütz oder lästig befunden, weggeworfen, war wieder beigebracht worden. Und selbst die Kuh stand längst wieder gesund und munter im Stall.

Die Franzosen, schrieb der Vater, hätten, als sie das Schießen vom Überfall des Försters gehört, das Tier, das ohnehin nicht gut französisch gesinnt und nur mit Gewalt fortzubringen gewesen, alsbald im Stich gelassen. Verwildert sei dasselbe mehrere Tage im Wald herumgelaufen, endlich aber glücklich wieder eingefangen worden. – Und was das erfreulichste war, auch die Gesundheit des Vaters hatte sich wieder gekräftigt; dies und die Unterstützung des Sohnes benebst einer guten Ernte hatten den Hausstand bald wieder auf den alten Stand gebracht. Und so schrieb der Vater, er sei ganz damit einverstanden, wenn Hieronymus noch ein paar Jahre in der Fremde bleiben wolle, um sich noch vollends auszubilden.

Auf dem Walde verliefen im übrigen die Dinge so ziemlich, wie es vorherzusehen war. – Dionys, welcher jetzt über ein ansehnliches Vermögen verfügte, war neben seinem Krämergeschäft auch noch Packer geworden, d. h. er versendete Uhren, mit deren Anfertigung er verschiedene Meister beschäftigte; sein Geschäft wuchs und gewann mit jedem Jahr an Ausdehnung.

Die Uhrenmacherei hatte zur selben Zeit überhaupt einen mächtigen Aufschwung genommen. Gleich wie ein Samenkorn, vom Winde auf rauhe Felsen getragen, sich selbst überlassen im spärlichen Boden keimt und Wurzeln schlägt und zuletzt zum fruchtbaren Baum erwächst, so ähnlich war der Anfang und so gesegnet der Fortgang dieser neuen Industrie. Im siebenzehnten Jahrhundert aus unscheinbaren Anfängen und Versuchen auf dem Glashof bei St. Peter entstanden, hatte sie sich mehr und mehr ausgebreitet; und zur Zeit unserer Erzählung wurden bereits schon ganze Ladungen von Uhren ins Ausland versendet.

Unser Geschäftsmann Dionys hatte schon mehrere Reisen nach Frankreich gemacht, und von daher nebst fremder Sprache, fremdländischen Manieren und Mode auch fremdes Geld mitgebracht. Dazu im Besitze einer reichen Frau konnte es ihm bei seinen Mitbürgern nicht wohl an Ansehen fehlen, denn auch das bißchen Großtun fand man bei Gelegenheit ganz am Platze, „er kann’s machen!” hieß es, „er hat’s!”

Doch, wieviel auch der Mensch mit äußerlichen Glücksgütern gesegnet sein mag – vor Schmerz und Leid schützen sie nicht. Auch Florentina, die emsig und treu waltende Hausfrau, mußte dieses erfahren. Ihre ganze Liebe, ihr Lebensinteresse war den beiden Kindern zugewendet, welche der Himmel ihrem Mutterherzen anvertraut hatte. Aber der Tod entriß ihr die Mutter, nicht lange danach auch das einzige Söhnlein.

Längst verhallt war das Grabgeläute und dargebracht das übliche Opfer für die Dahingeschiedenen; aber von der Zeit an blieb ihr liebster Ausgang – auf die Gräber der geliebten Toten. – Wenn am schönen Sonntagnachmittag ringsum alles sich Erholung gönnte und die Menschen singend, plaudernd auf Wegen und Stegen dahinzogen, konnte man in der kleinen Totenkapelle auf dem stillen Gottesacker einsam eine Frau in Trauertracht knien sehen. Die klagte Gott ihr bitteres Leid und suchte Tröstung vor dem Bilde der Mutter, die auch einst mit zerrissenem Herzen an dem Kreuz des Sohnes stand.

Endlich jedoch übte die Zeit auch auf ihr Gemüt wohltätigen Einfluß aus. In dem noch übrigen Kinde, im Familienleben überhaupt, fand sie Ersatz für so manchen Verlust, so manche Lebenstäuschung.

Mann mit Pfeife von Luzian Reich dem Älteren
Es würde mich sehr freuen, wenn jemand die Schrift unten entziffern kann!

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