LehrjahreKleinstädterlebenDas Freischießen

Lehrjahre
Kleinstädterleben
Das Freischießen

23. Februar 2024 0 Von Hannah Miriam Jaag

Hieronymus Kapitel 13

“De freudig Stündli isch’s nit e Fündli?”
>Johann Peter Hebel

Die Lehrjahre – Kleinstädterleben – Das Freischießen

Hieronymus, wie das Kind im Hause des Meisters gehalten, zeigte sich willig wie anstellig und hatte sich bald wieder an die regelmäßige Arbeit gewöhnt. In kurzer Zeit war er so weit, daß er dem Meister brauchbare Arbeit liefern konnte. – Denn schon bei seinem Scheiden von der Heimat hatte er den guten Vorsatz gehabt, nicht eher an eine Rückkehr zu denken, bevor er nicht etwas Namhaftes erlernt und eine gewisse Selbständigkeit erworben habe. – Allerdings mußte er diesen Entschluß sich manchmal wieder zurückrufen, wenn ihn eine Sehnsucht beschlich nach den Tälern und Bergen, dem Schauplatz seines Jugendlebens. – Besonders lebhaft traten diese Bilder vor seine Seele, wenn er nach Feierabend an seinem Kammerfenster stand, und die fernen Tannenberge ihre dunklen Umrisse in verglimmendem Abendrot abzeichneten, oder phantastische Wolkengebilde wie Schlösser und Gebirge dort aufstiegen und – wandelbar wie Gedanken – wieder zerflossen im dämmerigen Luftmeer. – Doch blieb ihm glücklicherweise wenig Muße, solchen Gedanken und Träumereien nachzuhängen, denn die Gegenwart, alles, was er sah und hörte, nahm seine Teilnahme zu sehr in Anspruch; auch konnte in diesem Lebensalter, wo die Hoffnungen noch keine Täuschung erfahren haben, wo man andern so leicht vertraut und sich anschließt, bei dem offenen jungen Mann die Stelle eines Freundes unmöglich lange unbesetzt bleiben.

Schon der nächste Sonntag brachte für den Lehrling die Gelegenheit, beim Feldwaibel einen Gesellen zu finden, zu welchem er sich alsbald hingezogen fühlte, und dem er auch sein Leben lang in aufrichtiger Freundschaft zugetan blieb. Es war jener Severin, von welchem der Feldwaibel seinem jungen Vetter bereits am Tage seiner Ankunft gesprochen und eine Arbeit von ihm vorgezeigt hatte.

Severin zählte etwas mehr an Jahren als Hieronymus, allein ein eigentümliches Ereignis erschloß ihnen bald gegenseitig die Herzen. Severin besaß eine hübsche Sammlung von Zeichnungen, die er seinem Freunde am nächsten Feiertag zu zeigen versprach. „Die Mutter ist zwar krank”, fügte er seiner Einladung bei, „aber es geht gottlob wieder um ein Guts besser.

Gestern ist sie vom Kaplan versehen worden, und heut kann sie schon wieder aufstehen. – Die Gote ist den Morgen bei ihr und wartet ihr ab.” Es war ein stiller Sonntagnachmittag, ein solcher, wo alles, selbst die Natur, zu ruhen und sich zu vertiefen scheint. – Freund Severin mit seiner betagten Mutter bewohnte ein Unterstüblein in einem abgelegenen Stadtviertel. – Als Hieronymus bei ihm eingetreten, fand er den jungen Steinmetzen eben beschäftigt, in Erwartung des versprochenen Besuchs Zeichnungen in einer Mappe zu ordnen. „Ich hab schon glaubt, du kommest nit”, erwiderte Severin freundlich, aber leise redend, den Gruß des Ankommenden. »Wir müssen ein wenig still tun, weil die Mutter schläft.” Dabei deutete er auf die halb offenstehende Tür des Hinterofens, wo Hieronymus die sieche Matrone in einem Lehnstuhl schlummernd erblickte.

Während der Steinmetz nun behutsam das Klebtischlein von der Wand herabklappte, um die Zeichnungen daraufzulegen, nahm er wahr, wie der Blick des Malerlehrlings auf einer eingerahmten Tafel an der Wand haftete, welche einen in Alabaster gearbeiteten Steinmetzenschild enthielt. „Es ist eine Arbeit von mir, und das ist mein Steinmetzenzeichen”, erklärte er dem Lehrling.

„Ja, wenn ich’s emal so weit brächt, wie Ihr”, sagte Hieronymus mit einem tiefen Atemzug; „und g’wiß versteht Ihr Euch auch auf Musik” fuhr er fort, auf eine Klarinette deutend, welche nebenan auf dem Schafte lag.
„Früher, ja, da hab ich viel g’spielt; es ist der Mutter ihr Liebstes – aber jetzt”, sagte er, indem er besorgt gegen den Ofen hinblickte, „jetzt – seit den paar Wochen, hab ich alles liegenlassen.” Das Auge des Lehrlings wendete sich wieder der Schlafenden zu; es war, als suchte er nach einem Worte, das er nicht finden konnte.

Mittlerweile hatte der Steinmetz seine Mappe aufgeschlagen, und Hieronymus vermochte nur zu staunen über die zierlichen Arbeiten, welche jener ihm vorlegte. Die Blätter, alle numeriert, waren teils mit der Feder, teils in Tusch ausgeführt, und stellten mancherlei Grundrisse dar, Fenster- und Türgewände, Filialen und Blattkreuze, allerlei Maßwerk und Schnörkel. Denn wenn damals gleich die gotische Baukunst von dem herrschenden Geschmack längst schon in die ästhetische Rumpelkammer geworfen worden war, so bestand unter den Steinmetzen doch noch der Verband der alten Bauhütten, und man heischte von jedem Gesellen und angehenden Meister Kenntnis der Regeln jener Kunst.

Nachdem fast alles durchgesehen und Severin eben einen kunstreichen Riß erläutern wollte, hörte er die Mutter sich regen und mit schwacher Stimme seinen Namen rufen. Behende, aber leisen Trittes war Severin zu der Kranken geeilt, zu fragen, ob sie was bedürfe. „Severin, spiel mir doch noch einmal etwas”, lispelte die Mutter, und der Sohn gehorchte, wenngleich sichtbar beklommen. Er langte das Instrument vom Schafte herab, band zuerst sorgsam das Blatt am Mundstück fest, und spielte einen jener gemütlichen Ländler, welche die Frau stets so gerne gehört hatte. Nachdem er geendet und wieder zu der stille gewordenen Mutter hintrat – war sie zusammengesunken – eine Leiche. – Mit den Tönen war auch ihr Geist fortgezogen aus seiner gebrechlichen Hülle – hinüber in ein besseres Land!

Hieronymus teilte aufrichtig den herben Schmerz des jammernden Sohnes; der ganze bedeutsame Moment aber verfehlte seine Wirkung auf beide nicht. Es war ihnen, als seien sie schon seit Jahren bekannt, und sie blieben von nun an unwandelbar anhängliche Freunde. Den Sonntagnachmittag brachte Hieronymus gerne beim Feldwaibel zu.

Wie bereits erwähnt, hatte der Vetter den ganzen Siebenjährigen Krieg mitgemacht, und auch Annakäther, seine treuanhängliche Ehehälfte, war ihm, nach damaligem Kriegsgebrauch, ins Feld gefolgt. – „Wollte ich meine Erlebnisse aus dem Krieg alle aufschreiben”, sagte der alte Soldat oft, „so würd’ es ein ganzes Buch geben.” In Friedenszeiten war es die Obliegenheit der meist verheirateten Mannschaft, Polizeidienste im Bezirk und auf den Jahrmärkten zu tun und insbesondere hier im Städtchen in der landesherrlichen Strafanstalt Wachdienste zu versehen. – Die Wachstube dort mit ihrem Tabaksqualm und den Erzählungen der langgedienten Kriegskameraden hielt unsern Lehrling manches Viertelstündchen fest. – Oft auch holte ihn sonntags nach der Vesper Freund Severin ab zu einem Spaziergang.

Sie schlenderten auf Feldwegen durch die weitläufigen Gemarkungen und machten Pläne für die Zukunft, während aus dem reifenden Kornfelde die Wachtel rief oder da und dort eine Kette Rebhühner an ihnen vorbeisauste.

Seit dem Tode des Mütterleins, welches den Sohn allein bisher im Heimatorte festgehalten, war bei Severin mehr und mehr der Entschluß gereift, zu wandern und sein Fortkommen in der Fremde zu suchen. Auch Hieronymus wollte dies tun, sobald nur die Lehrzeit glücklich beendet sein würde. – Dann stand auch ihm die Welt frei und offen! – Welche Aussichten boten sich ihnen da – glänzend wie die Wolkenberge dort im sonnigen Himmelsblau, farbig wie der Regenbogen nach erfrischendem Gewitter. – Mitunter suchten sie auch den Tambour Gsell auf im Wald, wo der Alte tagelang dem Vogelfang oblag, und wo dann Hieronymus, als Zögling Stoffels, Gelegenheit hatte, seine Kenntnisse vom Jagdwesen an den Mann zu bringen.

Als sie einst, von einem solchen Ausflug heimkehrend, über die Höhen von „Schosen” wanderten, machten sie an einer Stelle einen Augenblick Halt, die eine Aussicht bot über die weiten Fruchtfelder der Baar und den westlich liegenden Schwarzwald. Die Sonne war hinunter, und durch das Laub der vereinzelten Kirschbäume in der Nähe säuselte schon der Abendwind, dem heißen Tage kühlenden Abschied zufächelnd.
„Dort, wo jetzt der Abendstern vorkommt”, nahm Hieronymus nach einer Weile das Wort, „in der Richtung, wo die hohen Tannen stehen, da muß der Laubhauserhof liegen.”
„Hast du noch nie kein Heimweh gehabt?” fragte Freund Severin.
„Heimweh?” wiederholte Hieronymus. „Wenn du” – (denn sie duztensich bereits gegenseitig) – „wüßtest, wie ich mich in der letzten Zeit von daheim fortg’sehnt hab, würdest du mich nit fragen.”
„Es muß aber doch auch recht schön sein auf’m Wald. – So en Hofbauer muß en rechter Freiherr sein, der nach niemand viel zu fragen hat”, meinte Severin. – „Ist der Laubhauser reich?”
„Das will ich meinen”, versetzte Hieronymus. „Sein Wald allein ist größer als euer Wolfbühl dort. Und der vermöglichste Bauer von euern treibt nit halb soviel Vieh auf die Weid als wie der Laubhauser.”
„Hat er Kinder?” fragte Severin.
„Einen Sohn und eine Tochter!”
„Ist die Tochter hübsch?” fragte Severin weiter; – hübsch! – Hieronymus wußte nicht, was er erwidern sollte. – Schön und seelengut, wollte er sagen, allein das Wort erstarb ihm auf den Lippen – und er sagte bloß: „Ich wollt nur, du könntest sie mal sehen! – Der Alte ist ein stolzer Mann”, setzte er weiter ausholend bei, „viel besser ist die Bäuerin, ganz g’ mein und verständig und die Güte selber. – Ganz so ist auch die Tochter – der Peter aber schlagt dem Vater nach!”

Dann erzählte er, einmal in dieses Fahrwasser gekommen, dem Freund umständlich von allen Verhältnissen daheim, von frühester Jugend bis zum Abschied von dort, wobei natürlich der Name Florentina mehr als einmal genannt und hervorgehoben werden mußte.
Severin ließ ihn ausreden. Es schien ihm ein Licht aufzudämmern; jedenfalls war er glücklicher im Erraten und Verstehen, als es der Stoffel am Neujahrstag gewesen. – Herzensangelegenheiten hatten übrigens dem guten Severin für seinen Teil bisher noch wenig zu schaffen gemacht. Er glaubte an dergleichen nicht denken zu dürfen, solang er für die alte Mutter zu sorgen hatte.

Fürstenbergisches Musketier und Grenadiere (1)

Bild 5 von 5

Fürstenbergisches Musketier und Grenadiere (1) Farblithographie nach einem Bild von Lucian Reich in Guido Schreiber "Der Badische Wehrstand"

Wie heutzutag die Turner-, Sänger- und andern Feste mit ihren Fahnenweihen und Banketten das Interesse des friedliebenden Stadtbürgers allerwärts in Anspruch nehmen, ebenso allgemein war dazumal die Teilnahme an den verschiedenen kirchlichen Festlichkeiten und Umzügen. Für unsern Wäldersohn hatten diese, wenn sie auch gewohnte Dinge betrafen, doch einen neuen, großartigen Zuschnitt. Hatte er in seinem heimatlichen Tale dem Fronleichnamstag stets mit größter Erhebung beigewohnt, so sah er dieses Fest jetzt in der Amtsstadt mit einer Prachtentfaltung und unter Umständen begehen, wovon er früher keine Ahnung gehabt hatte. Das Schließen der Stadttore während der Prozession, die in Blumenpfade verwandelten Gassen, das Allerheiligste, begleitet von den zwölf jüngsten Bürgern in Uniform und mit Hellebarden auf der Schulter, die Beamten, die vierundzwanzig Ratsverwandten in ihren schwarzen Mänteln, die Grenadierkompanie in Parade, die regelmäßigen Gewehr- und Böllersalven beim Segen, das alles konnte einen hohen Eindruck auf sein Gemüt nicht verfehlen. – Ein anderes, ihm ebenso neues Gepräge trug das Jakobifest zu Ehren des Kirchenpatrons, wobei die gesamte Jakobsbruderschaft sich von nah und fern in Pilgertracht mit Stab und Muschelhut zu versammeln pflegte, um, geleitet von sämtlichen Zünften, einen Umzug zu halten.

Fahne der Jakobsbruderschaft vom Hofmaler Franz Joseph Weiß

Bei all der andächtigen Stimmung, die unsern Lehrling an solchen Tagen zu erfassen pflegte, war er jedoch immer noch in einem Alter, wo man über dem Himmlischen das Irdische nicht ganz aus den Augen verlieren möchte. Und so können wir nicht verschweigen, daß ihn die am Herz- Jesu-Fest von Händlern aus dem nahen Klettgau hergebrachten Kirschenkörbe und am Jakobifest die Zainen voll duftender „Bestlebirnen” fast ebensosehr interessierten wie die vorgenannten Umzüge.

Übrigens fehlte es auch damals nicht an weltlichen Festlichkeiten und Vergnügen. Hervorragend darunter war das städtische Scheibenschießen, welches alljährlich auf den Tag Peter und Paul seinen Anfang nahm und allsonntäglich bis zur in den Oktober fallenden Kirchweih fortgesetzt wurde.

Schien die Bestimmung des von der fürstlichen Regierung gegebenen Schützenbriefes: „die Untertanen und Hintersassen auf eine etwa hereinbrechende Kriegsgefahr oder andern sich ergebenden Notfall zur Landesdefension tauglich zu machen”, auch keinen praktischen Wert mehr zu haben, so wurde doch immer noch daran festgehalten, daß jeder Bürger oder Bürgerssohn, der das neunzehnte Jahr zurückgelegt, verpflichtet sein sollte, den regelmäßigen, sonntäglichen Schießübungen wenigstens sechs Tage des Jahres beizuwohnen.

Das Schützenhaus stand bis 1839 auf dem Anger beim Farrenstall und die Breg wird in jener Gegend noch immer Schützenbach genannt. 1848 wurde dann im “unteren Angel” ein neues Schützenhaus errichtet. Nach der Schützenordnung des Fürsten Karl Friedrich vom 8. Juni 1744 wurde das “Ordinarii- Wochen- und Gesellenschießen” mit “Bürstenbüchsen” zur Pflicht gemacht. (1)

Das Schießen begann nach dieser Ordnung alljährlich am Sonntag nach Georgi (23. April). Wie schon im vorletzten Kapitel erwähnt, war der Großvater von Lucian Reich, der Zuchtverwalter Franz Joseph Schelble, der hier zum wiederholen Male gewonnen und das “Beste” im Hauptschießen davon getragen hatte.

Der Schützenmeister Franz Xaver Reich (der Bruder von Lucian Reich) schrieb am 2. April 1859, dass der Fürst zu Fürstenberg der Gesellschaft das Abbruchmaterial des Kegelhauses im Schloßgarten zum Bau eines neuen Schützenhauses als Geschenk überlassen habe. (1)

Postkarte von 1890 aus der Sammlung Dieter Friedt. 

Diesmal sollte der Beginn der Übungen besonders festlich begangen werden mit einem Freischießen, bei welchem die fürstliche Freigebigkeit die ersten Preise spendete. – Die Gesellschaft, welche stets noch beim Zuchthausverwalter zusammenkam und bewährte Schützen unter ihren Gliedern zählte, hatte schon geraume Zeit vorher ihre Zurüstungen zum bevorstehenden Wettkampfe gemacht. Jeder betrachtete es gewissermaßen als eine Ehrensache, die ersten Preise nicht außerhalb der Mauern der Stadt in die Hände fremder Schützen gelangen zu lassen. – Sämtliche Standrohre von großem und kleinem Kaliber wurden neu visiert (der Verwalter selbst, zur Zeit erster Schützenmeister, war der Büchsenmacherei kundig), frisch geschmirgelt und im Zuchthausgarten, in Lett gelegt, frisch eingeschossen, bei welcher Arbeit auch Hieronymus, als solcher Dinge gewöhnt, mit Hand anlegen durfte.

Der Auszug geschah nach Bestimmung des Schützenbriefs. Nach beendetem Gottesdienste wirbelten die Trommeln, und sämtliche Schützen mit Ober- und Untergewehr eilten dem Rathaus zu, wo das Schützenbanner aufbewahrt war. Von da begaben sie sich in guter Ordnung und formierten Gliedern, unter Vortritt der beiden Schützenmeister, mit fliegender Fahne, Trommeln und Pfeifen auf die Schießstatt vor dem obern Tor. Nachdem die Fahne in der Stube des Schützenhauses aufgepflanzt worden, verkündeten Böllerschüsse den Anfang des Schießens, zu welchem von nah und fern geladene Teilnehmer sich eingefunden hatten.

Der Nachmittag bildete sodann erst den Glanzpunkt des Festes. Alles war vor die Tore geströmt, auf den Schauplatz der Unterhaltung. Oben im Schützenhaus wurde Wein und Bier verzapft; an den Fenstern, welche eine Aussicht auf die Scheiben boten, erblickte man sonntäglich geputzte Frauen und Töchter.

Auch Hieronymus hatte sich unter die Zuschauer gemischt, und als er die Augen einmal hinaufgleiten ließ zu den Fenstern, gewahrte er alsbald die Frau Oberamtsrätin mit Fräulein Helena und ihren jüngeren Geschwistern dort; und fast wär er ein wenig in Verlegenheit gekommen, der n es wollte ihn bedünken, daß ihm, als Lehrling, hier in dieser Gesellschaft von Herren, Damen und Bürgern, eigentlich kein Platz gebühre. Von solchen Gedanken angewandelt, begab er sich ins Erdgeschoß des Hauses, wo die Ladbänke angebracht waren, froh, daß es ihm vergönnt sei, hier dem alten Franz, dem Büchsenspanner seines Meisters, beim Laden an die Hand gehen zu dürfen.

Postkarte von 1943 aus der Sammlung Dieter Friedt. 

Das Schießen war im besten Zug, als es – um die Mitte des Nachmittags – plötzlich hieß: „der Fürst kommt!” – Alles geriet in Bewegung, und auch Hieronymus rannte von der Ladbank hinweg vor das Haus. Alle Blicke wendeten sich dem Städtchen zu, wo über die Brücke, von der Residenz Donaueschingen kommend, eine vierspännige Kutsche heranrollte mit einem Vorreiter und begleitet von zwei rot uniformierten Leibhusaren. In dem stattlichen offenen Wagen saß der regierende Fürst, Joseph Maria Benedikt, mit einigen Kavalieren. – Zu gleicher Zeit sah man auch seine Gemahlin, welche im Schlosse gegenüber abgestiegen, an den Fenstern desselben erscheinen, um von dort aus das Schießen mit anzusehen.

Der Landesherr mischte sich heute selbst unter die Schützen und tat manch trefflichen Schuß. Die Gewehre waren Prachtexemplare und Meisterstücke der Büchsenmacherkunst; die stahlblauen, silbereingelegten Rohre, die geschnitzten, mit Perlmutter und Elfenbein reich verzierten Schäfte und die Schloßbleche, auf welchen Scharmützel und ganze Bataillen in künstlicher Gravierung zu sehen, erregten allgemeine Bewunderung.

Der regierende Fürst, Joseph Maria Benedikt zu Fürstenberg-Stühlingen (9. Januar 1758 – 24. Juni 1796) übernahm 1783 die Regierung. Seine Frau war Maria Antonia von Hohenzollern-Hechingen. Die Ehe blieb kinderlos.

Plötzlich entstand ungewöhnlicher Lärm und Aufregung, Böllerschüsse krachten darein, und den Zeiger an der „Stechscheibe” in seiner Hanswurstjacke sah man seine Späße und Sprünge machen: es mußte ein außergewöhnlicher Schuß gefallen sein.
„Wer?” schallte es durch ein Sprachrohr vom Schlosse her.
„Der Zuchtverwalter!” wurde auf diese Weise vom Schießplatz aus zurück berichtet.
Es war die Gewohnheit der Fürstin, bei jedem guten Schusse, der auf der Scheibe gezeigt wurde, vermittelst des Sprachrohrs anfragen und sich den Namen des Schützen melden zu lassen.

Der Zuchtverwalter hatte diesmal einen Glücksschuß getan – und den „Zweck” (Zentrum) geschossen. Gleich darauf zeigte sich Fortuna auch dem Meister unseres Hieronymus gewogen, und zwar auf der „Schnapperscheibe”, und der Lehrling freute sich, daß nun doch die besten „Gaben” im Städtlein verbleiben würden. Diese, die Gaben, bestanden im Hauptschießen in feinem Zinngeschirr, damals eine Zier jeder bürgerlichen Haushaltung, nebst etlichen silbernen Löffeln. Als Preise im „Schnapper” dagegen sah man Wachs- und Unschlittkerzen mit verschiedenen wertvollen Rittergaben ausgestellt.

Durch den Büchsenspanner Franz war unser Lehrling Hieronymus eingeladen worden, auch einmal einen Schuß zu probieren. Der junge Bursche aber glaubte die Einladung ablehnen zu müssen – obwohl er vielleicht seine Überlegenheit über manchen Schützen fühlen mochte, dessen Kugel statt ins Schwarze in den hinter den Scheiben ansteigenden Rain oder in die benachbarten Krautgärten flog. – Allerdings – durch einen glücklichen Schuß hätte er der Gesellschaft zeigen können, daß auch er – nicht links, der Waffen nicht so ganz ungewohnt sei. – Wie aber – wenn ihm das Schicksal einen Streich spielen und die Kugel ebenfalls dem Rain oder den Gärten zuwehen würde? – Welches Gelächter alsdann unter den Zuschauern, wenn der Pritschenmeister herbeikäme, den Neuling mit dem klappernden Szepter vorschriftsmäßig abzustrafen! Nicht um alles in der Welt hätte er den Mamsellen oben am Fenster – die Ratsfamilie weilte stets noch dort – den spaßhaften Anblick verschaffen mögen. Und überdies mochte er wohl fühlen, daß es sich für den Lehrjungen nicht schicke, hier es den Herren und Meistern gleichtun zu wollen.

Postkarte von 1929 aus der Sammlung Dieter Friedt. 

Doch werden wir unsern Freund bald bei einer andern Gelegenheit im glänzendsten Lichte seiner Geschicklichkeit erblicken. Und um dem Leser diesen Moment nicht allzulange vorzuenthalten, wollen wir den Ausgang des gegenwärtigen Freischießens, welches drei Tage in Anspruch nahm, nur kurz berichten.

Wie vorauszusehen, hatte der Verwalter mit seinem Zentrumsschuß das „Beste” im Hauptschießen davongetragen: eine große zinnerne Suppenschüssel mit einem silbernen Schöpflöffel. Seinem Freund, dem Naglermeister, warf das Glück den zweiten Preis, zwei Dutzend schwere Zinnteller, in den Schoß, während Hieronymus das Vergnügen hatte, seinem Meister einen ansehnlichen Pack Wachskerzen, Schnappergabe Nr. 1, nach Hause tragen zu dürfen. – Wem die übrigen Preise und die Rittergaben zuteil geworden, ist aus den alten, mangelhaften Schützenrodeln nicht mehr mit Gewißheit zu entnehmen.

Die Gelegenheit für Hieronymus, von welcher wir gesprochen, ergab sich bei einem der kleineren Freischießen, welche im Laufe des Herbstes in den umliegenden Dörfern ausgeschrieben wurden.

Es war ein nebliger Oktobertag, als man wohlausgerüstet von der Amtsstadt auszog, hinauf nach Mistelbrunn. Hieronymus und ein paar andere Schildknappen waren in der Gesellschaft. – Auf der Schießstatt hinter dem Wirtshaus ging es schon lebhaft zu, als unsere Freunde dort ankamen. Nach der alten, zum Sprichwort gewordenen Erfahrung: „einem nüchterne Ma goht kein Schick a”, hatten sie zuerst eine Erfrischung zu sich genommen und dann wohlgemut ihr Feuer eröffnet – diesmal jedoch ohne den gewohnten Erfolg.

Der Verwalter, welcher soeben einige fatale „Schlenker” auf der Probierscheibe getan, schüttelte, die „Muck” (Korn) auf seiner Büchse betrachtend, ärgerlich den Kopf: „der Wind muß mich genommen haben, denn so wie die Fähnlein weisen, zieht er an. – Wir müssen ein wenig zugeben”, meinte er, indem er vorsichtig mit beiden Daumen das Korn etwas seitwärts rückte und sodann, die Büchse auf den Nagel legend, auch das „Guckerle” zurechtschraubte.
„Weiß nicht”, entgegnete der Kaplan, „ich hab bis jetzt immer konträr in den Wind geschossen.”
„’s ist bigott wie verhext”, brummte der nebenan stehende Schmied vom Ort, verdrießlich seine alte Radschloßbüchse auf die Ladbank schiebend.
„Den ganzen Tag noch kein ordentlicher Schuß! – Bin nur froh, daß es euch au nit besser geht, ihr Herren aus der Stadt.”
„Ein schwacher Zweikreisler hat bis jetzt noch ‘s Beste inn, obwohl schon über vierzig Doppel abg’schosse worde sind”, bestätigte der inzwischen hinzugetretene Wirt, der als „Bestgeber” das Schießen ausgeschrieben.
„Nur Geduld, der letzt hat noch nicht g’schosse!” warf der Meister Amtsdiener hin. „Ich denk, Schwager”, wendete er sich zum Verwalter, „wir machen vorderhand Waffenstillstand. Vielleicht legt sich der Wind unterdessen.”
„Ei was, Wind!” versetzte der Naglermeister. „Das neblig Wetter ist schuld; wir müssen am Pulver zusetzen.”

Während sie so sich berieten und jeder eine der hundert, den Schützen bekanntlich so geläufigen Ausreden vorbrachte, war Hieronymus von der Schießstatt weg gegen den vom Wald herziehenden Fußweg gesprungen, und man sah, wie er lebhaft grüßend, einem alten Gesellen, der Büchse und Kugelsack trug, die Hand reichte.

„Aha, da kommt der Stoffel!” rief der Schmied, nach jener Richtung deutend. „Wollen seh’, wie es dem geht, der kann mehr als Brot essen.” Es war wirklich der Stoffel, der ehemalige Kamerad des Hieronymus, der jenen schon von ferne bemerkt hatte und ihm entgegengeeilt war.
„Ist recht, daß du da bist”, sagte, auf dem Platz angekommen, der Alte, indem er seinen Tiroler von der Schulter nahm und dann aus dem ledernen Futteral losschnallte. „Eh mein Herr, der Oberförster, kommt, mußt du é paar Schuß tun, Hieronymus. Ich will dir gleich laden.”
„Gut!” meinte der Amtsdiener, sein Meister. „Versuch mal dein Glück, vielleicht kannst du mehr als wir.«
„Ich will’s probiere!” entgegnete Hieronymus, freudig auf den Vorschlag eingehend.
„Nimm dich aber in acht”, warnte der Stoffel seinen Freund und drückte nicht ohne Anstrengung mit dem Setzstock die Kugel in das Rohr.
„Du weißt, der Tiroler hat viel Schluß und stoßt e’ bißle, schießt aber sonst teufelsmäßig.”

Nachdem die Büchse geladen, trägt sie der Alte auf den Stand und Hieronymus folgt. – Fast alle Zuschauer hatten sich um die beiden geschart. Der Stoffel legt das Rohr vorn auf den Nagel, gibt dem Schützen den Kolben in die Hand, röhrt auf, reibt den Feuerstein mit dem Daumen-nagel, hält vorsichtig den aufgezogenen Hahn solange fest, bis Hieronymus den Finger in den Bügel gelegt und sich fertiggemacht, tritt dann zurück und kommandiert: „laß brechen!” Der Schütze hält den Atem an, zielt lange endlich kracht der Schuß – aber o Schrecken! – Die Büchse rumpelt vom Nagel herab, die Schattenbleche klappern – und der Schütze liegt der Länge nach auf der Nase – im Sand. – Der Stoffel springt vor und bemächtigt sich des Geschützes – und lacht hämisch – der Gefallene rafft sich auf, bestürzt, sprachlos – reibt sich die Knie und die Ellenbogen. – Die Umstehenden aber, als sie ihn unbeschädigt sehen – brechen in ein schallendes Gelächter aus.

„Hab ich dir nit g’sagt, daß er stoßt?” grinst der Stoffel. – Doch jetzt wenden sich alle Blicke nach der Scheibe. Der Schwarz Weißgerber, der renommierte Zeiger, den der Wirt extra von Hüfingen verschrieben und engagiert hatte, war herausgetreten, hatte kaum auf das Ziel geblickt, als er wie betrunken ins Gras taumelte. – Jetzt wußte man, wieviel Uhr es geschlagen. Neben dem Zeigerschirm qualmte Rauch auf – es krachten Böllerschüsse – und „e Mäßle vom Beste*, schreit der Stoffel durch die hohle Hand dem Zeiger zu, der, aufspringend, seinen Hut in die Höhe wirft – und endlich, nach vielen Späßen, den Zeigstock in den Schuß hängt – ein allgemeiner Ausruf der Verwunderung – das Zentrum war rund hinausgeschossen. Jetzt ging es los: „das ist wieder e Stückle vom Stoffel”, murmelte der Schmied; „dem jungen Mensch hätt’s übel aufstoßen könne”, ein anderer; „er hat ihm eine Freikugel geladen”, ein dritter.

Aber der Schuhfränzle, Gemeindeschreiber im Dorf, vom Wirt als Schützenmeister aufgestellt, rannte herbei: – „Ihr Herren”, fing er an, indem er, mit der Hand Platz machend, im Kreise herumfuhr: „Ihr Männer – ich als Schützenmeister muß Einsprach’ erheben – Ich nehm’ euch alle zu Zeugen, ihr habt gesehe’, was vorgangen ist. – Der Stoffel ist mir en rechter Mensch -, ich will nix über ihn sagen. – Aber ihr habt g’seh’, wie’s dem jungen Mensch gangen ist. – In dem alten Schützenbrief, der heutzutage noch gilt (bei diesen Worten legte der Sprecher den Zeigefinger der Rechten in den ausgestreckten Daumen der Linken), da heißt es Paragraph achtundzwanzig ganz deutlich: daß diejenigen, so mit Zauberei, Teufelswerk oder unerlaubten Sachen schießen, den Schuß verlieren und nebstdem nach rechtlicher Erkenntnis von Obrigkeits wegen in Straf verfallen. – Ihr Männer! Der Schuß kann nit gelten, ich als Schützenmeister muß protestiere.

Mit ernsthaftem Gesichte hatten viele dem Redner zugehört, andere jedoch, unter ihnen unsere Freunde, lachten. „Guter Freund!” nahm der Verwalter das Wort, „man merkt, daß Ihr nicht auf den Kopf gefallen seid – aber laßt doch jedem sein Pläsier -; wem es Vergnügen macht, bei jedem Schuß auf die Nase zu fallen, der mag’s in Gottes Namen tun, davon steht ja nichts im Brief.”
„Wer mir das Kunststückle nachmachen will, der soll’s probieren”, meinte Hieronymus, indem er mit der Hand seine rechte, etwas geschwollene Wange hielt. Die Lacher waren jetzt auf des Lehrjungen Seite, und der Wirt konnte nicht anders sagen, als „er hat Recht”

Um jedoch unsern Freund nicht in das Licht eines Schwarzkünstlers oder Hexenmeisters zu stellen, sei es gesagt, daß alles mit ganz natürlichen Dingen zugegangen. Die Büchse hatte noch den kurzen, deutschen Schaft, dieses und Stoffels Warnung, daß das Gewehr stark stoße, hatten verursacht, daß der Schütze beim Zielen sich stark nach vorwärts gelehnt, die Büchse beim Schuß über den Nagel vorgerutscht war und jener das Gleichgewicht verloren hatte. Der Zentrumsschuß war entweder Folge seines richtigen Zielens oder bloßer Zufall.

Werfen wir zum Schluß einen Blick auf unser Bildchen, welches den Heimzug unserer Freunde darstellt, so entnehmen wir daraus, daß der beste Schuß unserem Hieronymus geblieben sein mußte, denn der Schmalzkübel, den die Buben an einem Aste, ähnlich den Männern mit der großen Traube aus dem Gelobten Lande, tragen, deutet unzweifelhaft auf das gewonnene Beste. Und wenn das nebenan hängende Päckchen etwa gar voll jener hellbraunen Bohnen wäre, ohne welche es, wie manche behaupten wollen, heutzutage fast keine zufriedene Ehe mehr gäbe – wahrlich, so dürfen wir annehmen, daß die sieghaften Schützen von ihren Frauen und Töchtern daheim mit vergnügten Gesichtern willkommen geheißen wurden.

Die “hellbraunen Bohnen” ohne die es heutzutage fast keine zufriedene Ehe mehr gäbe, sind vermutlich Kaffeebohnen.

“De freudig Stündli isch’s nit e Fündli?”
>Johann Peter Hebel

(1) Aus den Schriften der Baar 17 (1928), Georg Tumbült: Das Fürstenbergische Kontigent Schwäbischen Kreises.