Bärendienste

Bärendienste

11. Mai 2023 1 Von Wolf Hockenjos

„You must shoot him in the mouth1“ – was für eine martialischer Tipp! Er hat sich mir offenbar unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt als Pointe eines der denkwürdigsten Erlebnisse einer Alaska-Reise im Frühsommer 1980. Dabei handelte sich keineswegs um den Ausspruch eines Waffenverrückten, sondern um den gutgemeinten Rat einer Einheimischen. Die Frau hatte uns, zwei Rucksacktouristen aus Germany, auf der Straße vom Flughafen der Insel zur Stadt Kodiak aufgelesen und in ihrem staubigen Pickup ein Stück weit mitgenommen. Als wir ihr von unserem Plan erzählten, die Insel erwandern zu wollen, übergab sie uns – zu unserer grenzenlosen Verblüffung – einen Revolver mitsamt Munition. Nicht einmal unsere Pässe wollte sie dafür einbehalten, so locker waren hier die Waffengesetze. Kodiak-Island sei nun einmal Bärenland, warnte sie uns, und das Wandern nicht ungefährlich, zumal wenn man dabei versehentlich eine Bärin mit Nachwuchs überraschen sollte. Wie kaltblütig muss einer sein, um ihr im Angriffsfall ins Maul zu zielen und abzudrücken?

Fast wie der Grizzly im Empfangsgebäude des Flughafens der Insel Kodiak, Alaska, (doch das Foto stammt aus den F.F.Sammlungen in Donaueschingen)

Grizzlybären sind allgegenwärtig auf Kodiak-Island: Schon bei der Ankunft werden Flugreisende von einem ausgestopften, gut dreieinhalb Meter hohen, drohend aufgerichteten Exemplar mit Riesenpranken empfangen, ist man doch stolz darauf, die größten Braunbären der Welt zu beheimaten.

Doch auch zuvor schon hatten wir auf unserer Reise mit Meister Petz Bekanntschaft gemacht. Leibhaftig freilich nur aus der Cessna-Vogelperspektive oder aus dem sicheren gelben Shuttle-Bus des Denali-Nationalparks heraus. Umso eindringlicher wurde in den Campgrounds von den Rangern gewarnt, wo die Bären doch eben jetzt, hungrig nach langem Winterschlaf, Jagd auf Elchkälber machten. Danger – recent bear activities, hieß es allenthalben auf Plakaten. Proviantvorräte solle man beim Zelten tunlichst außerhalb auf Bäumen unterbringen, und auch auf Parfüm würden Bären ansprechen. Was uns allerdings nicht daran gehindert hat, unser Zeltchen (erlaubtermaßen) auch fernab von Campingplätzen aufzuschlagen – etwa am wahrhaft wundervollen Wonder Lake mit Blick auf den vergletscherten Denali, den mit 6190 Metern höchsten Berg Nordamerikas, der damals offiziell noch Mount Mc-Kinley heißen durfte.

Doch nun auf Kodiak-Island waren wir obendrein auch noch für den Notwehrfall gewappnet. Und so bewegten wir uns wie Trapper durch unübersichtlichsten Weidengestrüpp, dabei folgsam laut plappernd und klappernd mit dem lose an den Rucksäcken befestigten Kochgeschirr. Weshalb sich kein Grizzly blicken ließ – geschweige denn, dass wir von der uns so großmütig überlassenen Schusswaffe hätten Gebrauch machen müssen. Die lieferten wir dankend wieder ab nach unserer Tour, und weil uns derweil ein Landregen aufgeweicht hatte, durften wir bei unserer Gönnerin auch noch Anoraks und Schlafsäcke trocknen lassen.

Was nicht alles in einem wieder hochsteigt, ausgelöst von der gegenwärtigen Bärendiskussion! Die Aufregung um den tragischen Fall des im Trentino von einer Bärin getöteten Joggers dürfte den großen Beutegreifern insgesamt, ob Luchs, Wolf oder Bär, erst recht deren Wiederansiedlungsprojekten einen Bärendienst geleistet haben. Kein Wunder, dass die öffentliche Debatte um die Konflikte mit diesen Spätheimkehrern immer hysterischere Formen annimmt. Bär und Wolf sind zum Politikum geworden.


Ob es wohl ein bisschen auch an meinem Vornamen liegt? Böser Wolf, niedlicher Petz: Bären haben mich von Kindheit an mehr fasziniert als Wölfe, beginnend mit dem Teddy Butz, der nacheinander von fünf Geschwistern so geliebt und zerknautscht worden war, dass er schließlich nicht einmal mehr brummen mochte, so heftig man auch seinen Bauch bearbeitete. Gefolgt von Old Shatterhands Bärentöter in meinen Indianerjahren und von erwachendem natur- und heimatkundlichem Interesse („Gab ́s denn im Bärental jemals Bären? Wann sind sie vollends ausgerottet worden im Schwarzwald?“), später dann die Fachexkursionen in die verbliebenen Bärenländer des Kontinents, in die Karpaten und in den Balkan. Wie lebte es sich in Slowenien zusammen mit allen drei großen Beutegreiferarten, und wie sind deren Auswirkungen auf Wald und Landwirtschaft? Was mögen die Städter in Siebenbürgen empfinden, wenn abends Bären die Mülltonnen kontrollieren und Wölfe am Stadtrand entlang patrouillieren?

Besonders denkwürdig aber dann der Sommer 2006, nicht nur wegen des „deutschen Sommermärchens“ anlässlich der Fußballweltmeisterschaft, mehr noch dank des Medienechos auf das Auftauchen von Bär „Bruno“ (mit wissenschaftlicher Bezeichnung JJ1) an der bayerisch-tirolerischen Grenze – 170 Jahre nachdem der letzte Bär in Deutschland erlegt worden war. Zunächst vom bayerischen Umweltminister Werner Schnappauf noch willkommen geheißen, wurde er von Ministerpräsident Edmund Stoiber alsbald zum „Problembären“ abgestempelt, nachdem er sich an etlichen Schafen, an Bienenständen und an einem Hühnerstall ausgetobt hatte. Am 24. Juni, nach wochenlangen vergeblichen Bemühungen (selbst von eigens eingeflogenen finnischen Bärenexperten mit ihren Hunden), ihn zu stellen und lebend einzufangen, wurde er endgültig zum Abschuss freigegeben und zwei Tage später schließlich auf der Kümpflalm erlegt. Seither befindet sich Bruno ausgestopft im Münchner Museum Mensch und Natur. „Problembär“ ist in der deutschen Umgangssprache derweil zum geflügelten Schimpfwort geworden.

IURKA, Brunos Mutter, im „Alternativen Wolf- und Bärenpark Schwarzwald“

Erfolgreich eingefangen wurde wenig später Brunos Mutter IURKA ihrer Problembären-Gene wegen; sie verbringt ihren Lebensabend im „Alternativen Wolf- und Bärenpark Schwarzwald“ nahe Bad Rippoldsau. Bei meinem Besuch im Jahr 2014 erschien sie mir recht apathisch, wie sie lustlos hinter einem Baum hockte und an der Rinde herumknabberte – traumatisiert?

Eigentlich gilt Bayern als „Bärenerwartungsland“, auch einen Managementplan hatte man erstellt, denn gespürt wurden Bären auch nach Brunos schmählichem Ende immer wieder einmal in der Grenzeregion zu Tirol. Damit sie gefahrlos die Autobahn überqueren können, ist da und dort sogar eine Wildtierbrücke für ihre Wanderungen von Slowenien nach Norden errichtet worden. Und dass es im Trentino, wohin man unlängst noch ein paar slowenische Bären zur Reproduktion der letzten dortigen Exemplare verschickt hatte, allmählich eng wird für die Population, war auch vor dem tödlichen Unfall bereits ein Thema. Diesen soll Brunos Schwester JJ4 verursacht haben, die wie ihre Mutter und ihr Bruder auch zuvor schon auffällig geworden sind.

Gefahrlose Autobahn-Überquerung für wandernde Bären in den Julischen Alpen

Seit April 2023 ist nun erneut der Bär wieder los in Oberbayern. Im Werdenfelser Land, auf einem beliebten Wanderweg zwischen Mittenwald und Hotel Schloss Elmau, zwischen Lauter- und Ferchensee, tappte einer in eine Fotofalle. Und weil gerade Landtagswahlkampf herrscht, trifft sich die Spitze von CSU und Freien Wählern mit den empörten Almbauern. Denn da waren ja auch schon wieder zwei Schafkadaver, wobei einstweilen noch unklar bleibt, wer sie gerissen hat, Bär oder Wolf. „Auf ihn mit Gebrüll“, überschrieb die Süddeutsche Zeitung (am 4. 5. 2023) ihren ganzseitigen Bericht über die aktuelle Stimmungslage. Zugunsten der Almwirtschaft sollen beide schon beim ersten Übergriff auf Nutztiere zu Problemwölfen bzw. Problembären erklärt und „entnommen“ werden, mögen sie nach deutschem und Brüsseler Naturschutzrecht noch so streng geschützt sein. Mit Angst lässt sich Politik machen, zumal in Wahlkampfzeiten. Flugs zimmerte die bayerische Staatsregierung eine neue Wolfsverordnung, die den Abschuss von auffälligen Wölfen erleichtern soll. Dagegen läuft bereits eine Normenkontrollklage des Naturschutzbundes.

Was für ein Segen, dass im Schwarzwald nicht auch noch mit Bären-Migranten zu rechnen ist. Die erwartete Rudelbildung der Wölfe schafft Feindbilder genug. Mag Lebensgefahr durch Wölfe (wenn schon nicht durch Bären) noch so unwahrscheinlich sein: sie wird bereits heftig beschworen. Seine Tochter wage es nicht mehr, allein durch den Wald zu joggen, klagte schon vor ein paar Jahren ein gestandener Schwarzwälder Höhenlandwirt anlässlich einer höchst turbulent verlaufenden Informationsveranstaltung zum Thema Wolf. Unterdessen wird fleißig plakatiert in der touristischen Vorzeigelandschaft. Bei allem Verständnis für die Sorgen der Nutztierhalter: Ängste in der Bevölkerung sind fehl am Platz, doch sie lassen sich bekanntlich auch künstlich erzeugen. Rotkäppchen lässt grüßen – der allerletzte Schwarzwaldbär soll ja bereits anno 1740 in den Wäldern um Wolfach erlegt worden sein. Belassen wir es einstweilen beim dortigen Alternativen Wolf- und Bärenpark Schwarzwald.

1 Deutsch: Ihr müsst ihm ins Maul schießen!